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mit Verteidigungsanlagen für die Stadt begonnen. Wenn solche Bestien im Winter aus dem Wald getrieben werden, ist die Siedlung nicht mehr sicher.«

      »Aye«, nickte Chatikka seufzend, »aber es ist noch nicht zu spät. Noch ist der Frost nicht zu stark, und einfache Wälle sind schnell gebaut. Ich werde noch heute eine Nachricht an den Jarl verfassen und morgen damit beginnen, mich um den Bau von rudimentären Anlagen zu kümmern. Wer weiß angesichts von dem hier schon, was im Winter noch auf uns lauert. Zum Glück haben wir reichlich Material eingelagert und müssen nicht weiterhin Arbeitertrupps hier heraus schicken. Ich will niemanden mehr an solche Kreaturen verlieren, das ist so sinnlos.«

      Sie drehte sich um und ging auf die anderen Vannbarn zu, während Garawan noch einen langen Blick auf das warf, was früher einmal ein Bär gewesen war. Der massige, verunstaltete Kopf lag auf der Seite und die glasigen, blutunterlaufenen Augen, die völlig deplatziert im Schädel lagen, starrten stumpf und leer über seine Schulter hinweg in die Ewigkeit. Das Maul stand halb offen und er sah mindestens drei Reihen von Zähnen, dahinter war die Zunge nur noch ein Klumpen verschlungenes Fleisch.

      Am meisten aber fesselte seinen Blick die Geschwulst an der Grenze zwischen Stirn und Ansatz der Schnauze. Sie war klein, rund und an den Rändern blutverkrustet. Je länger er darauf starrte, desto mehr zwang sich ihm der Eindruck auf, dass es sich dabei um ein überwachsenes Auge handelte, das sich durch die Haut gefressen hatte. Als er seinen Blick endlich davon lösen konnte und zu den anderen ging, war ihm übel und kalt. Aber er war ein Greis, der lange über seine Zeit gelebt hatte, und dieser Tage war ihm ständig übel und kalt.

      Trotzdem brauchte er lange, um das Bild des schwärenden Auges aus seinem Kopf zu verbannen.

      6. Kapitel 5

       Umbrahope

      Obwohl sie jetzt zum dritten Mal in ihrem neuen Leben hier war, hatte die Szenerie nichts von ihrer Faszination verloren. Das geschäftige Treiben an den unzähligen Verladestationen der Kais von Umbrahope glich dem eines Ameisenhaufens. Wenn man weiter in das Innere der Stadt vordrang, verstärkte sich dieser Eindruck noch. Das bunte Gemisch aus Menschen, Straßen und Marktständen aller Art war jedoch durch die nördliche Wachmauer vom Hafenviertel getrennt. Shaya stand am Bug der Windpeitsche, einem mittelgroßen Zweimaster aus der Flotte der Südseepiraten. Es war eines der drei Schiffe, die sie dazu verwendeten, um Beute zu verkaufen und sich mit den Dingen zu versorgen, an denen es ihnen auf See mangelte.

      Sowohl was das Äußere des Schiffes anging, wie auch bei der Auswahl der Besatzung achtete man hier darauf, den Eindruck eines Händlers zu erwecken. Besonders gut funktionierte das nach Shayas Einschätzung bei Letzterem nicht. Sie selbst trug mit ihrem von Narben schrecklich entstellten Gesicht ebenfalls dazu bei. Aber auch die Matrosen auf der Windpeitsche waren kaum besser als der restliche Abschaum aus Mördern und Menschenfressern, welche die Flotte bevölkerten. Die meisten von denen hier hatten allerdings wenigstens noch alle Gliedmaßen. Außerdem waren sie aus den Reihen der Minderheit ausgewählt worden, die aus den Königreichen der Umbrahato stammten. Der Großteil der Piraten waren Namenlose, oder Mischlinge, die kaum besser waren. Das Schiff wenigstens machte auch auf den zweiten Blick einen guten Eindruck. Es war gepflegt, für die Verhältnisse der Piraten außergewöhnlich sauber und zeigte keine Kampfspuren.

      Shaya war skeptisch gewesen, was ihre Rolle als Ersatz für Belandros anging. Sie war nicht davon überzeugt gewesen, dass diese Tarnung funktionierte, und hatte fest damit gerechnet, erneut in Schwierigkeiten zu geraten. Doch sie hatte sich geirrt. Weder ihr Narbengesicht noch ihre merkwürdige Mannschaft fiel in dem heillosen Durcheinander auf, das täglich im Hafenviertel von Umbrahope herrschte. Auch, dass ein so junges Mädchen offenbar ein eigenes Handelsschiff besaß, wurde, wenn es überhaupt jemand zur Kenntnis nahm, mit einem Schulterzucken abgetan. Vielleicht schätzte man sie durch ihr zerstörtes Gesicht auch älter ein, als sie war. Ihre beiden bisherigen Besuche in der Stadt waren jedenfalls problemlos und erfolgreich verlaufen.

      Sie hatte sich strikt an die Anweisungen von Belandros gehalten. Der Eunuch, der seit über einem Jahrzehnt auf diese Weise im Dienst der Piratenkönigin stand, hatte sie ausführlich instruiert. Er hatte sie mit den Namen von Kontaktleuten ebenso versorgt, wie er ihr genaue Vorgaben zu den Preisen gegeben hatte. Sie wusste nichts über die Gepflogenheiten des Hafens, die Verteilung der Autoritäten oder die Preise für den An- und Verkauf von Waren.

      Doch sie lernte rasch und war, wie sich herausstellte, in der Lage sich Zahlen und Namen schnell und sicher zu merken. Was die eigentliche Abwicklung des Einlaufens und Verladens anging, brauchte sie sich um nichts zu kümmern. Die Crew versah diesen Dienst seit Jahren und kannte jeden Handgriff im Schlaf. Die Mannschaften der drei Handelsschiffe der Flotte unterlagen einer untypisch geringen Fluktuation, was darin resultierte, dass sie zuverlässig und reibungslos arbeiteten und leidlich miteinander auskamen. Man hielt sie aus den Kampfhandlungen auf See heraus und versorgte sie mit Priorität, damit sie einigermaßen wie menschliche Wesen aussahen, und sich vielleicht auch so benahmen. Die Männer waren sich ihrer Sonderstellung bewusst und hatten sie schätzen gelernt, und so war auch die Disziplin und Moral unter ihnen ungleich höher als beim Rest der Flotte.

      Sie hatten Shaya mit routinierter Gleichgültigkeit als zweiten Kapitän neben Belandros akzeptiert. Sie machten ihr keine Schwierigkeiten und gingen wie gewohnt ihrer Arbeit nach, ohne erkennen zu lassen, was sie von der Angelegenheit hielten. Vermutlich war es ihnen völlig egal, wer sich um die Verkäufe und Einkäufe kümmerte. Für sie änderte sich nichts, sie schleppten die Beute vom Schiff und beluden es anschließend mit Vorräten, wie sie es all die Jahre unter Belandros getan hatten.

      Shaya erinnerte sich noch gut an ihren ersten Einsatz vor einigen Wochen und wunderte sich, wie schnell sie sich eingewöhnt hatte. Als sie das erste Mal mit der Windpeitsche in den Hafen von Umbrahope einlief, schnürten ihr bittere Erinnerungen die Kehle zu. Sie sah die Docks, die zahllosen Schiffe aller Größen und Formen, und war unweigerlich an den Tag zurückversetzt, als sie am Kai gehockt und sich das Treiben von der anderen Seite aus angeschaut hatte. Sie dachte zum ersten Mal seit langem wieder an ihren toten Onkel. Dachte an das Gasthaus zum toten Vogel, wo man sie so freundlich aufnahm, nachdem sie zum ersten Mal in ihrem Leben allein nach Umbrahope gekommen war. Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit Belandros und an die sorglose Naivität, mit der sie sich in der Stadt bewegt hatte.

      Wie bittere Galle kamen die Bilder in ihr hoch, wie die Hurenfänger ihr aufgelauert und sie gejagt hatten. Der Anblick des Hafens brachte ihr unweigerlich den Ausgang dieser kurzen Hatz zu Bewusstsein. Die Szenen, die sie wochenlang in ihren Alpträumen verfolgt hatten und es manchmal noch immer taten. Die Männer, die sie packten und verstümmelten.

      Sie war kurz davor gewesen die Fassung zu verlieren und der Besatzung die Umkehr zu befehlen, doch schließlich hatte ihr Zorn gesiegt, und sie hatte sich durch diese ersten, schrecklichen Stunden durchgebissen. Sie war nicht mehr das kleine Steppenmädchen, war nicht mehr die Nichte ihres Onkels. Sie war jetzt ein Geschöpf von Schanga, der Königin der Südsee, wie all die anderen Piraten. In ihrer neuen Welt gab es keinen Raum für Schwäche, Moral oder Gnade, weder sich selbst noch anderen gegenüber.

      Shaya hatte ihren ersten Besuch dieser Art schließlich mit einer beinahe unheimlichen Leichtigkeit hinter sich gebracht. Das lag in erster Linie daran, dass im Grunde alles wie von selbst ablief. Sie ließ die Windpeitsche festmachen, und zahlte einem Hafenvorsteher eine geringe Liegegebühr für drei Tage. Anschließend begleiteten sie zwei ihrer Besatzungsmitglieder stumm zu einem Gebäude am Hafen. Der zweistöckige Bau schien eine Mischung aus Gasthaus und Schreibstube zu sein. Sie traf einen fetten, verlebt wirkenden Umbrahato, der auf den Namen Pultiko hörte. Der Mann war zunächst verschlossen und abweisend. Das änderte sich jedoch, nachdem er die Windpeitsche in Augenschein genommen hatte. Sein anfängliches Misstrauen gegenüber dem weiblichen, blutjungen und dazu entstellten Kapitän schwand im Angesicht der anstehenden Gewinne.

      Belandros hatte darauf geachtet, dass die Qualität der Ladung dazu geeignet war, Shaya einen guten Einstand in die Handelswelt von Umbrahope zu verschaffen. Nach Möglichkeit unauffällig, und ohne Aufsehen durch gar zu exotische Waren zu erregen. Der Ruf eines Händlers war hier alles. Im Grunde herrschte

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