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nördlichen Berge bereits nicht einmal mehr für kurze Zeit betreten. Das Grau hatte auf das Leben der Vannbarn kaum eine Auswirkung gehabt. Die Verhältnisse an der Oberfläche des Eisgebirges hatten sich von lebensfeindlich zu tödlich gewandelt. Selbst die spärlichen Überlebenden der Flora, vereinzelte Kiefern, die ihre Wurzeln verzweifelt in den dünnen, eisigen Boden krallten, hatten für diese Generation nur in den Geschichten der Alten existiert. Wie so vieles aus dieser Welt.

      Garawan sah die Bäume jedoch mit gänzlich anderen Augen, als es die meisten seiner Brüder und Schwestern taten. Das galt für jeden Baum, aber besonders für diese alten Majestäten, die seit Jahrhunderten hier lebten, davon Jahrzehnte völlig unbehelligt von menschlicher Hand. Das war selbst vor dem Grau nicht viel anders gewesen. Die Witterung hier war seit jeher rau und unwirtlich, und entsprechend dünn hatten die Menschen das Land besiedelt. Nur wenige Norselunder nannten diesen Landstrich je ihre Heimat, bevor auch die Letzten schließlich verhungerten oder aufgaben und nach Westen zogen.

      Der alte Druide, der sich mit der Linken auf seinen Stab stützte, legte die rechte Hand auf die Schnittfläche eines großen, niedrigen Baumstumpfes. Sie befanden sich am Rand eines der drei Holzfällerlager, in denen die Vannbarn seit einigen Wochen Bauholz für die Errichtung von Nemunadej gewonnen hatten.

      Inzwischen waren zwei der Lager aufgegeben worden, und dieses war eines davon. An die drei Dutzend Männer und Frauen arbeiteten hier noch, doch sie sammelten nur die letzten Reste an Holz ein, die man als Brennmaterial nutzen konnte. Das Leben unter dem Berg lehrte einen, nichts zu vergeuden. Auch war die Ehrfurcht der Vannbarn vor dem Leben dieser neuen Welt zu groß, um verschwenderisch mit seinen Gaben umzugehen. Garawan hoffte, dass dieser Respekt mit der Zeit nicht verblasste. Er für seinen Teil würde dafür tun, was er konnte. Die neue Situation war in gewisser Weise schrecklich, aber die war auch eine Chance für einen Neuanfang.

      Obwohl der alte Druide dicke Fäustlinge trug, konnte er die dünne Spur von Leben fühlen, die noch immer in dem Holz des Stumpfes floss. Es war nur ein sterbender Hauch, der Baum war längst gefällt und die Wurzeln verrotteten. Und doch war noch ein Funken von dem vorhanden, das diesen Ort so überreichlich erfüllte. Er war der älteste Angehörige seines Volkes, hatte beinahe dreihundert Zyklen gelebt, und doch war er ebenso unter dem Berg in einer Welt aus Stein geboren worden, wie jeder andere Vannbarn. Die Druiden der Kinder des Sees hatten in ihrer über hundert Generationen dauernden Geschichte gelernt, ihre Kraft aus dem Stein zu ziehen.

      Als er das erste Mal allein am Rand des alten Waldes gestanden hatte, war er von so großer Ergriffenheit erfasst worden, dass es ihn beinahe zerrissen hätte. Die Kraft, die durch die Bäume floss, sprach zu der in seinen Adern, ohne dass er irgendetwas dagegen tun konnte. Es war unmöglich, sich vor diesen Gefühlen, diesem uralten Band abzuschirmen. Er hatte vor Rührung geweint wie ein alter Narr, und es war ihm nur allmählich und mit Mühe gelungen, sich wieder fassen. Als einer der mächtigsten Druiden seines Volkes hatte er sein ganzes, langes Leben über eine tiefe Verbundenheit zu dem Stein seiner Heimat empfunden. Diese Verbindung war ein essenzieller Teil seines innersten Selbst. Seiner Seele, wenn es sie denn gab.

      Hier hatte er erkannt, dass all das nur ein kümmerlicher Ersatz für das war, was die seinen vor vielen hundert Jahren verloren hatten, als sie Nemues Ruf unter den Berg folgten. Es hatte sich angefühlt wie ein Nachhausekommen an einen Ort, von dem man nicht gewusst hatte, dass er existiert. Die meisten alten Druiden wären an dieser Erkenntnis zerbrochen. Ihn jedoch hatte das geschützt, was ihn schon immer von den meisten Menschen abgegrenzt hatte, nämlich der unbändige Durst nach neuen Erfahrungen. Weder der Untergang seiner Welt, noch die Bedrohung der Existenz seines Volkes hatten diese Triebkraft in ihm abtöten können. Auch die Gebrechen des Alters und der Zerfall des Körpers vermochten es nicht. Allein dem Tod würden sein Wissensdurst und seine Neugier sich zu beugen haben, wie alle lebenden Dinge es taten.

      Er dankte im Stillen dem verstorbenen Nemuto, dem Herrn über die große Grotte, während der Blick seiner wässrigen Augen über den wundervollen Wald schweifte. Er wusste nicht, ob es Zufall oder Voraussicht war, dass unter den Siedlern der letzten Gruppe, die der Erzdruide vor seinem Tod auf den Weg geschickt hatte, verhältnismäßig viele junge Druiden gewesen waren. Es war nur eine Handvoll, kaum vier Dutzend, aber sie standen mit wenigen Ausnahmen am Anfang ihrer Ausbildung. Sie waren noch formbar genug, um den Weg der Bäume anzunehmen, und er würde tun, was immer in seiner Macht stand, damit sie ihren Weg erfolgreich beschritten. Er hoffte nur, dass Nemue ihm noch genügend Jahre schenkte, um diese Aufgabe zu vollenden.

      Er zweifelte keine Sekunde daran, dass diese Magie die ursprüngliche, die einzig Wahre für seinesgleichen darstellte. All die Jahrhunderte des Druidentums des Steins konnten angesichts der Reinheit und Pracht der Lebenskraft der Bäume nichts als einen Ersatz dargestellt haben. Wenn dies gelang, würde die neue Welt vielleicht eines Tages die Verluste wert sein, die sein Volk erlitten hatte. Die Verluste, die so viel grauenvoller gewesen waren, als sie gedacht hatten. Und die so viel schneller über sie gekommen waren, als irgendjemand hatte erwarten können.

      Er glaubte ein Geräusch vom dunklen, dichten Waldrand im Norden zu hören und drehte den Kopf. Er sah die verstreuten Arbeiter, die drei Gespanne, auf denen die Holzreste gesammelt wurden. Die Pferde schienen unruhig zu sein.

      Einige Schritte entfernt sah er Chatikka ith Vallandor, die einen Fuß auf einen Baumstumpf gestützt hatte. Sie lehnte sich mit den Ellenbogen auf ihr Knie und starrte gedankenverloren in den Wald. Ihr Anblick lenkte ihn von dem vermeintlichen Geräusch ab und er fragte sich erneut, wie die ehemalige hohe Wächterin mit dieser Situation zurechtkam. Wie es wirklich in ihr aussah. Sie hatte die schreckliche Nachricht auf ungewöhnliche Weise empfangen, und war von dem Untergang ihrer alten Heimat mehr betroffen als sonst irgendjemand. Jeder Vannbarn hatte seine Wurzeln verloren, viele ihre Familien. Die meisten hatten dafür eine neue Heimat bekommen. Der Wächterin hingegen war zusätzlich zu den Verlusten ein Maß an Verantwortung aufgeladen worden, an dem sie unter Umständen zerbrechen würde. Er tat, was er konnte, um sie zu unterstützen, aber seit dem Erhalt der Nachricht der Katastrophe wirkte sie zwar entschlossener denn je, war aber auch zunehmend in sich gekehrt. Seine größte Sorge war, dass das Eisen in ihr brach. Es gab niemanden, der sie ersetzen konnte.

      Ihr Blick huschte über den Waldrand, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Wie so oft in den letzten Tagen waren ihr die Gedanken entglitten und kreisten um die neuen Wendungen, die ihrer aller Schicksale genommen hatten. Ihre alte Heimat war von den Schattenfressern überrannt worden. Dem alten, schrecklichen Feind, gegen den sie gekämpft hatte, seit sie dem Kindesalter entwachsen war. Sie war von klein auf für den Kampf gegen diese Bedrohung erzogen und ausgebildet worden, und nun hatte eben jener Rivale um ihren Lebensraum die Vannbarn vernichtet, während sie tausend Landmeilen weit entfernt gewesen war.

      Ihr Bruder und seine Familie tot, wie so viele tausend andere. Der Rat der Druiden ausgelöscht. Es bestand kein Zweifel daran, dass der Muttersee unter der großen Grotte inzwischen in Blut versunken war, anstatt den langsamen Kältetod zu sterben, vor dem sie in die neue Welt hatten fliehen wollen. Mehr noch als die daraus entstehenden Implikationen und der Schrecken der Nachricht an sich machte ihr aber die Art und Weise zu schaffen, in der sie die Botschaft erhalten hatte. Die Trauer und Verzweiflung über das Vorgefallene war etwas, das sie verarbeiten musste und irgendwie würde. Das Gefühl des Beschmutztseins, das sie ob der übernatürlichen Berührung und des Eindringens in ihren Kopf verspürte, würde wohl nur die Zeit verblassen lassen.

      Es war ein nebliger Morgen gewesen, an dem sie, wie inzwischen üblich, ihren täglichen Streifzug durch das frisch erblühte Nemunadej machte, als der Vogel sie gefunden hatte. Es war einer der Raben des Zauberers, die er Chatikka und ihrem Bruder zur Verfügung gestellt hatte, um Nachrichten bei jedem Wetter in kürzester Zeit austauschen zu können. Nur waren es keine Raben oder Krähen, nicht mehr. Sie hatte von Begin an eine instinktive, intensive Abneigung gegen die schwarzen Kreaturen verspürt. Nachdem sie das gefiederte Geschöpf erblickte, blieb sie stehen und wartete widerwillig darauf, dass es in ihrer Nähe landete. Sie wollte die Nachricht, wie stets, so schnell wie möglich vom Bein des Tieres lösen und es wieder loswerden. Dabei achtete sie sorgsam darauf, den Vogel so wenig wie nur irgend machbar zu berühren.

      Diesmal ließ er sich jedoch nicht in ihrer Nähe nieder und starrte sie stoisch an, während

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