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Brief enthielt Kunde von Tod, Verlust und einer weiteren Gefahr für Norselund. Einer von vielen, die dieser Tage über seiner Heimat drohten, wie ein erhobenes Richtschwert.

      4. Kapitel 3

       Westmark, Königreich von Stennward

      Louanne konnte nicht anders, als dem alten Mann immer wieder verstohlene Blicke zuzuwerfen. Dabei war der Greis, der sich ihnen vor Kurzem angeschlossen hatte, in keiner Weise sonderlich eindrucksvoll. Er war wohl früher einmal hochgewachsen gewesen, wirkte aber durch den mittlerweile stark gekrümmten Rücken nun eher knorrig. Er schien unter dem dunklen Mantel spindeldürr zu sein, und sowohl der struppige, eisgraue Bart, der ihm bis auf die Brust fiel, als auch das Haar wirkte ausgeblichen und leblos. Er trug einen grob geschnitzten Wanderstab, der etwa so lang war wie er selbst, stützte sich aber scheinbar mehr auf seinen vierbeinigen Begleiter als auf das Holz. Dieses Tier war es im Grunde auch, dass Louannes Aufmerksamkeit immer wieder auf sich zog.

      Mit seinem dichten Fell und den langen, gebogenen Hörnern war die schwarze Ziege das größte Tier seiner Art, dass sie je gesehen hatte. Und es gab reichlich Ziegen im Umland. Es war noch etwas anderes als seine Größe an dem Tier, das sie zugleich faszinierte und mit einem vagen Unbehagen erfüllte, aber sie vermochte nicht zu sagen, was genau dieses Gefühl auslöste. Das Tier stapfte stoisch neben seinem Herrn her und schien sich nicht daran zu stören, dass er sie die meiste Zeit über als Stütze benutzte. Ebenso wenig nahm sie in irgendeiner Form Notiz von Gerard, dem betagten Esel, den ihr Vater führte. Diese Gleichgültigkeit beruhte auf Gegenseitigkeit, wobei das alte Lasttier zwar noch immer kräftig und wohlgenährt, aber halbblind und fast völlig taub war. Ihm war im Grunde alles gleichgültig, solange er sein Futter bekam.

      Für gewöhnlich mied ihr Vater jeden Kontakt zu anderen Wandersleuten, wenn sie von ihrem kleinen Heimatdorf in die Stadt reisten. Louis war kaum einen halben Kopf größer als Louanne, die mit ihren fünfzehn Jahren nach ihrer zierlichen Mutter kam, die starb, als sie selbst gerade fünf Jahre alt war. Dafür hatte er den Körperbau eines Bären. Nach dem Tod seiner Frau hatte er darüber hinaus ein dazu passendes Gemüt entwickelt. Sein Äußeres trug dazu bei, dass die meisten es sich zweimal überlegten, bevor sie einen Streit mit ihm vom Zaun brachen. Mit dem frühzeitig kahl gewordenen Schädel, der von den Schlägereien zahlloser Tavernenbesuche in seiner Jugend gebrochenen Nase und seinen tiefliegenden Augen, wirkte er trotz seiner geringen Größe bedrohlich. Bei aller Bitterkeit darüber, seine Frau so früh zu verlieren und sein einziges Kind allein großziehen zu müssen, war er jedoch trotzdem kein schlechter Kerl.

      Sie waren des Morgens vor drei Tagen auf den Greis getroffen, der wie sie auf der Straße nach Petit-Ruisseau unterwegs war. Es war nach einem kurzen Gespräch der Vorschlag von Louis gewesen, den Rest des Weges gemeinsam zurückzulegen. Der Alte hatte sofort freudig zugestimmt. Wie sich herausstellte, hielt er sie nicht einmal auf. Er war so alt und wirkte auf den ersten Blick so gebrechlich, dass er Louanne beinahe ätherisch erschienen war. Dieses Äußeren zum Trotz schien er jedoch über eine gewisse innere Rüstigkeit zu verfügen. Er kam mit Hilfe von Ziege und Stock kaum weniger langsam voran, als es Gerard mit dem Wagen tat, den er hinter sich herzog.

      Louanne begleitete ihren Vater seit drei Jahren auf den Reisen zur Stadt. Drei bis vier Mal im Jahr unternehmen sie die Fahrt, je nachdem, wie viel Waren sie zusammenbekamen, die sich zu verkaufen lohnten. Louis war ein in vielen Dingen bewanderter und begabter Mann, dem es jedoch immer am Durchhaltevermögen gemangelt hatte, es bei irgendeiner Arbeit zu echter Meisterschaft zu bringen. So befanden sich Töpferwaren in ihrem Gepäck, die er gemeinsam mit Louanne herstellte, ebenso wie Kupfergeschirre, die er in seiner schlichten Hofschmiede fertigte, wann immer er günstig an Metall kam. Auch einige Säcke Korn hatten sie dabei, außerdem zwei Ballen grob gewebten Stoffes. Die stammten von der Wolle der anderen Gehöfte des kleinen Dorfes, die von den Frauen gemeinschaftlich gewoben wurde.

      Noch vor ein paar Jahren waren mehrere Dorfbewohner gemeinsam mit zwei oder mehr Wagen aufgebrochen, doch das Dorf war fortschreitend vergreist. Vermutlich würde es nur noch eine oder zwei Generationen dauern, bis es ausstarb. Der Boden war in den sechs Dekaden seit dem Grau immer schlechter geworden, und mit ihm die Ernten. Louanne hatte so wenig Perspektiven, wie ein armes Bauernmädchen von fünfzehn Lenzen nur haben konnte. Allzu viele Sorgen bereitete ihr das freilich nicht, denn sie liebte ihren Vater und der war zwar beinahe vierzig Jahre alt, aber dafür noch stark und gesund.

      Sorgen machten ihr, wie jedermann, hingegen die Gerüchte, die sich langsam aber hartnäckig in der Gegend verbreiteten. Der Sohn des Königs sei an einer Seuche erkrankt, die in der Königsmark Mensch und Tier gleichermaßen befiel und sich weiter ausbreitete. Für gewöhnlich tat ihr Vater solche Geschichten als Unfug ab. Die Missbildungen an den Tieren, die in diesem Frühjahr zum ersten Mal auch das Dorf betroffen hatten, schienen diese Schauermärchen jedoch zu bestätigten. Drei Schweine und zwei Kälber hatte man von Mai bis Juli unmittelbar nach der Geburt getötet und verbrannt. Ihr Vater sagte ihr nicht genau, was mit den Tieren nicht gestimmt hatte. Verwachsen seinen sie gewesen und niemand bei klarem Verstand wolle das Fleisch dieser Geschöpfe verzehren oder ihre Haut an sich tragen.

      Wieder ging ihr Blick zu der Ziege hinüber, deren langes, dichtes Fell schwarz wie Pech im fahlen Mittagslicht schimmerte. Es war für September bereits außergewöhnlich kühl, aber wenigstens war der heftige Wind am gestrigen Morgen abgeflaut. Jetzt war es beinahe windstill und die von kleinen Wäldchen unterbrochene, sanft geschwungene Hügellandschaft lag friedlich im Gesang vereinzelter Vögel da. Der Süden der Westmark mochte nicht mehr so fruchtbar sein wie vor dem Grau, aber das Land war jetzt im Herbst ebenso schön anzusehen, wie vor sechzig Jahren.

      Ein leichter Schauer überlief Louannes Rücken und sie löste ihren Blick von dem gehörnten Tier. Sie zog den Kragen des dicken Wollumhangs, den sie über ihrem Oberteil und dem Hosenrock trug, enger um ihren Hals. Es war das Tier, das sie frösteln ließ, nicht die Kühle, aber das war zu kindisch, um es sich einzugestehen. Es war eine merkwürdige, viel zu große, hässliche Ziege. Aber eben eine Ziege, weiter nichts. Sie konzentrierte sich für einen Moment auf den Greis, der neben dem Tier dahinstapfte. Er ging weit übergebeugt und die Wölbung seines nach vorne gekrümmten Rückens wirkte beinahe wie ein Buckel. Obwohl er stets etwas zittrig wirkte, hielt er offenbar mühelos mit Gerard und ihrem Vater Schritt und wirkte dabei am Abend nicht erschöpfter als am Morgen. Jetzt drehte er den Kopf, als die Stimme ihres Vaters ertönte. Er hatte sich die eine Mannslänge zurückfallen lassen, die er zuvor vor dem Alten gegangen war.

      »Ihr habt mir noch immer nicht gesagt, was ihr in Petit-Ruisseau sucht, alter Mann«, sagte Louis nicht unfreundlich. Er klang ruppig und leicht ungeduldig, aber das war sein normaler Duktus, wie seine Tochter zu ihrem Leidwesen wusste. Wenn ihr Vater wirklich verärgert war, wurde er laut und, wenn auch nicht ihr gegenüber, schnell gewalttätig.

      »Habe ich das in der Tat nicht getan?«, erhob sich die brüchige Greisenstimme des Alten. Es klang beinahe wie ein heiseres Falsett.

      »Nein, das habt ihr nicht«, bekräftigte Louis. »Ihr sagtet, ihr kommt aus der Nähe des Grenzortes Sapinbois. Als ich euch fragte, welche Geschäfte euch herführen, haben wir plötzlich über die erkrankten Tiere gesprochen. Danach wart ihr müde.«

      »Nun«, meinte der Alte und zog das Wort in die länge, bis er in einem Husten abbrach. »Das Mädchen, das sich um mich gekümmert hat, sie ist gestorben. Ich habe keine Verwandten mehr und kann auf dem Land nicht für mich alleine Sorgen. Jedenfalls werde ich dazu wohl nicht mehr besonders lange in der Lage sein. Ich hoffe, in der Stadt eine billige Bleibe finden zu können. Und selbst wenn ich auf der Straße enden sollte, stirbt es sich immer noch angenehmer unter Menschen, als alleine in einer Hütte am Wald.«

      Er warf einen mürrischen Blick zu dem Tier, auf dem sein Arm ruhte, und fügte hinzu: »Nun ja, oder fast alleine jedenfalls.«

      »Es war ein ziemliches Wagnis, in eurem Alter ohne Hilfe aufzubrechen. Ihr müsst doch schon seit Wochen unterwegs sein«, meinte Louis.

      »Ah«, machte der Alte und klang, wie Louanne fand, dabei selbst ein bisschen wie eine Ziege. Sie hob schnell eine Hand vor das Gesicht, damit man das Grinsen

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