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Winterwahn. Wolfe Eldritch
Читать онлайн.Название Winterwahn
Год выпуска 0
isbn 9783742779588
Автор произведения Wolfe Eldritch
Жанр Языкознание
Серия Weltengrau
Издательство Bookwire
»Mach dir keine Hoffnungen, die ist immer noch im Westflügel. Birla kümmert sich nach wie vor um sie. Sie lassen sie die Gemächer nicht verlassen, aber ich habe meine Quellen. Sie ist ständig ganz alleine mit der Kleinen, aber man lässt sie in Ruhe. Noch jedenfalls. Was hast du also vor, alter Freund? Ich hoffe doch, du lässt mich nicht im Ungewissen. Diese Sache frisst mir langsam aber sicher meine Nerven kaputt, auch wenn viele behaupten, ich hätte keine. Und um meine Verschwiegenheit musst du dich nicht sorgen, ich weiß sowieso nicht, mit wem ich hier noch reden kann, ohne meinen Hals zu riskieren.«
»An deiner Integrität herrscht kein Zweifel, Dickerchen«, lächelte Ragnar. »Ich werde die anderen beiden Jarle um Hilfe bitten. Wie gesagt, es riecht nach Verrat an Bjorn av Krakebekk, aber es ist keine Lüge, wenn ich behaupte, nicht zu wissen, ob der Jarl überhaupt noch lebt. Wir haben hier unhaltbare Zustände und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand außerhalb der Burg schon weiß, was mit der Delegation der Kirche passiert ist. Bestenfalls wird es Gerüchte in der Stadt geben. Die Jarle müssen davon erfahren. Ich kann nur hoffen, dass sie bei allen eigenen Problemen die Zeit finden, uns zu helfen. Ich kann die Verantwortung für all das nicht übernehmen und sonst ist niemand da.«
Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Dann wollte Korhonen wissen: »Willst du einen Boten schicken? Nach Falksten oder Ulfrskógr?«
Ragnar schüttelte den Kopf. »Keinen Boten, zu gefährlich. Ich habe ein Schreiben aufgesetzt. Es wird ein Vogel sein, den ich noch heute losschicke. Ich würde es ebenfalls nach Möglichkeit gerne vermeiden, am Strick zu enden oder meinen Kopf in einem Korb zur letzten Ruhe zu betten. Auch von einem Stück Dreck wie Nemmer und seinen Spießgesellen erschlagen und verscharrt zu werden klingt, wie ich finde, wenig verlockend. Ein Vogel in der Nacht, der so die Götter wollen seinen Weg nach Falksten finden wird. Ich habe hier einen kleinen Verschlag mit ein paar speziellen Tauben für Notfälle. Ulfrskógr ist noch weiter weg, ich will einfach kein unnötiges Risiko eingehen. Wenn ich erledigt bin, ist niemand mehr mit genug Autorität hier, irgendetwas zu unternehmen. Dann könntest Du den Mistkerlen höchstens noch das Bier vergiften.«
»Hab schon drüber nachgedacht. Was hast du denn genau geschrieben?«
»Ich habe ehrlich geschildert, wie die Lage hier aussieht. Was der Jarl getan hat. Und um Hilfe gebeten. Die anderen Jarle waren unserem Herrn und Jarltum immer in Freundschaft verbunden, wir können nur hoffen, dass sich daran nichts ändert. Nemmer kann mir als Majordomus von Krakesten den Zugang zum Jarl abschneiden, bei einem befreundeten Jarl dürfte ihm das schwerer fallen. Was darüber hinaus geschieht, liegt nicht mehr in meiner Verantwortung. Davon trage ich ohnehin schon mehr als mir zusteht. Und mehr, als ich langfristig ertragen kann, wie ich zugeben muss. Ich bin kein Führer, nie gewesen und ich bin götterverdammt nochmal alt.«
»Wem sagst du das«, schnaufte Korhonen und sah mit einem Mal noch älter aus, als es ohnehin der Fall war. »Nun gut, dann halt mich bitte auf dem Laufenden. Falls ich irgendetwas von Interesse höre, sage ich dir bescheid. Wenn dieser Alptraum bloß bald ein Ende findet, ist es mir mittlerweile scheißegal, wer hier das Sagen hat. Ich habe nur keine Lust, meine letzten Jahre erfüllt von Angst in einem Schlangennest zu verbringen.«
»Hast du noch einen Schluck Wein für einen alten Mann, bevor er wieder hinaus in die Kälte muss?«, fragte Ragnar.
Sofort erhellte sich das feiste, runzlige Gesicht des Kochs.
»Den hab ich immer für dich.«
Während Ragnar wenig später die äußeren Treppen zu einem der hohen Außentürme hinaufstieg, schweifen seine Gedanken unzusammenhängend in die Vergangenheit. Es war nicht das erste Mal, dass eine solche unheilvolle und bedrohliche Stimmung über Burg Krakesten lag. Vor über zwanzig Wintern, damals als Jarl Birger av Krakebekk für kurze Zeit die Regentschaft über das Jarltum innehatte, hatte es sich ebenso angefühlt. Eine Atmosphäre ständiger Angst und Misstrauen, die über allem und jeden lag. Niemand war vor den unkontrollierten Wutausbrüchen des Herrn sicher gewesen. Nicht einmal seine eigene Familie.
Die Herrin und ein Sohn waren der Tobsucht des damaligen Regenten zum Opfer gefallen, bevor sein eigenes Leben mit einem tödlichen Sturz endete. So hieß es jedenfalls, auch wenn es ein Dutzend verschiedene, anderslautende Gerüchte gegeben hatte. Er selbst hatte da noch nicht die Position des Majordomus bekleidet und hatte von all dem nicht viel mitbekommen. Aber viele glaubten, dass Birger av Krakebekk nicht einfach betrunken von seinem Pferd gestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte. Er trank zwar zunehmend unkontrolliert, war aber bis zum Ende ein Bär von einem Mann gewesen, den kaum jemals jemand hatte schwanken sehen. Unstrittig war hingegen die Tatsache, dass sein plötzlicher Tod seinem letzten verbleibenden Sohn das Leben gerettet hatte. Eben jenem Jarl von Krakebekk, der jetzt im Westflügel der Burg verschollen war.
Bis heute wusste niemand genau, ob das Schicksal den Menschen von Krakebekk zur Hilfe gekommen war, ober jemand nachgeholfen hatte. Ragnar kümmerte es nicht, und es war ihm ebenso gleichgültig, wie die Hilfe der Jarle aussehen mochte. Er würde tun, was nötig war, wenn er damit verhindern konnte, dass seine Heimat dem Untergang geweiht war. Er hatte nie mit dem Schicksal gehadert. Nach dem frühen Tod seiner Gemahlin hatte er sich gebrochenen Herzens völlig der Aufgabe gewidmet, für die Burg und deren Bewohner zu sorgen. Er würde nicht einfach tatenlos zusehen, wie alles zerfiel, für das er sein Leben lang gearbeitet hatte. Wenn das bedeutete, dass er die Zukunft den Schwingen einer braunen Nordtaube anvertrauen musste, dann war das eben so.
Der Wind zerrte an seiner Kleidung und es war mittlerweile dunkel geworden. Die Stufen vor sich konnte er nur vage erkennen, doch er wagte es nicht, ein Licht zu entzünden. Den Schein würde man weithin sehen können, vielleicht bis hinunter zu den Männern des verräterischen Hauptmanns, die sich irgendwo in der Nähe des Haupttores und des Westflügels herumtrieben. Keine der Wachen hatte ihm etwas zu befehlen, im Grunde genommen auch Nemmer selbst nicht. Sie verfügten jedoch über mindestens zwei Dutzend Schwerter gegen das seine, und die Sprache des Eisens folgte seit jeher ihren besonderen Gesetzmäßigkeiten.
So schlich er im Dunkeln herum und hoffte, dass ihn niemand entdeckte. In seiner eigenen Heimstatt, wie ein Dieb in der Nacht.
3. Kapitel 2
Ulfrskógr, am Wall
Überall auf Norselund war zu spüren, das der bevorstehende Winter nicht mehr lange auf sich warten ließ. Der kühle, dunkle Herbst machte deutlich, dass die vierte Jahreszeit heuer früh, kalt und erbarmungslos über das Land kommen würde. Auf der Insel tat er das noch spürbarer als auf dem Festland. Am Wall spielte das kaum eine Rolle, denn hier war der Frost das ganze Jahr über allgegenwärtig. Die Männer und Frauen, die an diesem Ort langfristig ihren Dienst versahen, waren den Umgang mit der tödlichen Kälte gewohnt. Indirekt hatte die Witterung aber durchaus Einfluss auf den Verlauf des Lebens in dieser Jahreszeit. Die jährlichen Angriffe der Klabauter waren weitestgehend unberechenbar, doch hatten sich im Laufe der Jahrzehnte gewisse Gesetzmäßigkeiten herausgebildet. Eine davon war, dass die Angriffswellen umso heftiger ausfielen, je früher der Winter über das Land kam und je härter er war.
Auch die Tatsache, dass es bislang völlig ruhig war, deutete auf einen besonders harten bevorstehenden Kampf hin. Viele Neulinge glaubten, die Geschichten über vereinzelte frühe Angriffe dienten nur dazu, ihre Wachsamkeit zu schärfen oder ihnen Angst einzujagen. Das war jedoch ein Irrtum, denn tatsächlich waren solche Überfälle kleinerer Gruppen Klabauter in den Herbstwochen eher die Regel als die Ausnahme. Was diese vereinzelten Streuner aus ihren Behausungen trieb, wusste man nicht.