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würgte Yuki das furchtbare Fressen hinunter und musste wieder an Brot mit nattō denken. Nachdem er mit seinem zweiten Frühstück gekämpft und sich als eindeutiger Verlierer geoutet hatte, zog sich Mika um, packte ihre Sachen und sie gingen wieder zu ihrer Bühne. Die Straße gehörte ihnen und die Menschen blieben stehen, um die blinde Frau und den melodischen Hund zu bewundern.

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      Mika hatte nach seinem erneuten Auftauchen einen Raum in der Musikschule gebucht. Yuki sah sich in dem nach Angstschweiß und zerstörten Träumen riechenden Zimmer um. Die Wände waren weiß, wölbten sich ihnen in regelmäßigen Muster entgegen. Wirkten wie Sofapolster, die an die Wand genagelt waren, schön akkurat nebeneinander. Boden und Decke waren schwarz. Im hinteren Teil des Raumes standen seltsame Geräte, groß und klein, lang und dick. Ein paar glänzten golden oder silbern, einige waren auf lackiertem Holz, das im Licht funkelte. Welche standen alleine, andere lehnten oder hingen an der schwarzen Wand, die nicht mit Sofapolster behangen war. Mika konzentrierte sich auf ihr Keyboard, das sie routiniert aufbaute und schloss ihre kleinen Boxen an einen Minigenerator an.

      Nachdem sie fertig war, stellte sie sich vor das Keyboard, schloss die Augen und ließ ihre Finger über die Tasten tanzen. Yuki erkannte die Melodie nach den ersten Noten. Ein Lied über Freiheit und Unabhängigkeit, Fliegen und Fallen. Worte, die er so oft gedacht hatte, formten sich automatisch. Überrascht schnellten Mikas Augenlieder hoch und ihre Finger stockten kurz, bevor sie flüssig weiterspielten. Yukis Stimme erfüllte den Raum, sprang an den Wänden ab, sammelte sich in ihrem Bauch, vibrierte heftig in ihr und weckte Gefühle, die sie lange begraben hatte. Das Atmen fiel ihr schwer und ihr Herz klopfte wild.

      Noch nie hatte sie so etwas Schönes gehört. Sie wollte ewig spielen, damit er ewig sang. Doch das Lied ging zu Ende und Mikas Finger weigerten sich sofort zum nächsten Lied überzugehen. Aus ihrer Trance gerissen, zitterten ihre Hände vor Aufregung und Angst. Angst davor, neben Yukis Strahlen zu verblassen und zu verschwinden. Weggeschwemmt zu werden von dem Orkan seiner Stimme. Nach einer langen Pause fragte Mika atemlos: „Hast du ein Mikrophon benutzt?“

      „Mikrophon?“ Mikas Angst steigerte sich in Panik. Wie sollte jemandem ein Stern auffallen, wenn neben ihm die Sonne lichterloh schien?

      „Im Raum müssten einige stehen. Schließe sie einfach an meine Box an.“ Mika hörte Yukis leise Schritte, seine Füße schienen kaum den Boden zu berühren, so sanft trat er auf. Dann hörte sie ein Rascheln, ein Klicken und ein furchtbare schrilles Fiepen. Mika wartete. Sie wartete darauf, dass Yuki sich mit dem Mikrofon anfreundete. Wartete darauf, dass ihr Herz langsamer schlug und das Zittern ihrer Hände nachließ.

      Dann herrschte wieder Stille und Mika wurde sich bewusst, dass sie alleine in einem abgeschlossenen Raum mit einem Mann war. Einem Mann, der die schönste Stimme der Welt hatte. Nervös fragte sie: „Bist du so weit?“ Er murmelte zustimmend. Mika hoffte, dass ihre Hände sich beruhigen würden. Sie schloss die Augen, atmete tief durch.

      Sie dachte an ein Gefühl und ihre Finger gaben ihre Seele wieder. Jeder Text, jede Melodie war ein Gefühl, das Mikas Selbst ausmachte und diese Lieder und Töne, gesungen von Yuki, waren intim und berührten sie so tief, dass sie körperlich spüren konnte, wie er in ihre Seele drang, sie rücksichtslos erforschte und sich für immer in ihrem Heiligtum einnistete.

      Mika fürchtete sein Talent. Hatte Angst vor der Nähe, die er unbewusst schuf und der Zuneigung, die sich in ihrem Herzen formte. Und doch war es der schönste Augenblick in ihrem Leben, als ihre Stimmen miteinander spielten, sich antasteten, neckten, um sich dann im Refrain zu vereinen. Sie sangen durch, bis die Nächsten das Zimmer stürmten, um auf ihr Recht und ihre Reservierung zu beharren.

      Eilig packten Mika und Yuki zusammen. Sie redeten nicht, auch nicht auf dem Nachhauseweg. Durch die Musik hatten sie alles gesagt. Zu viel geteilt. Worte wirkten jetzt blass und unzureichend. Mikas Wangen brannten und es fiel ihr schwer, sich auf den Weg zu konzentrieren. Würde es genau so sein, wenn sie zusammen auftraten?

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      Es war soweit. Mikas Herz klopfte wild. So aufgeregt war sie schon seit Langem nicht gewesen. Sie spürte Yukis Präsenz neben sich. Er strahlte Ruhe und Gelassenheit aus. Als könne ihn nichts auf der Welt aus dem Gleichgewicht bringen. Mika wusste, dass er ihr Ersatzmikrophon in der Hand hielt, so wie sie ihres vor dem Keyboard aufgebaut hatte. Vor ihr war nichts. Der Gehweg war leer. Sie spürte die Vibration der Klänge frei durchschwingen, ohne auf Widerstand zu treffen.

      Ihre Finger fühlten sich steif an, jedoch nicht vor Kälte. Es war eine Kaninchenstarre. Furcht lähmte sie. Furcht vor der Übermacht von Yukis Stimme, vermischt mit dem Wunsch, nein, dem unüberwindbaren Drang, dieses Wunder wieder zu hören. Mika hatte auf keine weitere Probe bestanden. Yuki war perfekt. Er brauchte keine Proben.

      Mika schloss die Augen und ließ ihre Finger tanzen. Zuerst etwas zögerlich, übernahm die Gewohnheit die Führung und sie sprangen wie immer über ihre Tonkarte und führten Mika in die Welt der Bilder und Gefühle. Gewohnheit. Mika liebte sie, weil sie ihr Freiheit schenkte. Und sie hasste sie, weil sie nicht ohne sie konnte. Für Mika waren Gewohnheit und Regulierung der einzige Weg, selbständig zu leben. Nur in der Musik fand sie Spontanität.

      Die Melodie des Keyboards erhob sich in die Lüfte. Zuerst leise, kaum hörbar, vereinte sich Mikas Stimme mit der Melodie. Sanft und zart schwang sie in der Luft, umwob die Klänge des Keyboards, wurde eins mit ihnen, um dann abrupt zu verstummen. Die Melodie wurde tiefer und Mikas Körper spannte sich in Erwartung auf die kommende Euphorie an, wenn Yukis Stimme sich erheben würde. Sein Tenor erfüllte die Himmelsphäre. Mika hörte ihre Gefühle in seiner Stimme, die voller Leidenschaft von Liebe und Einsamkeit erzählte.

      Der Wind riss Yukis langes, weißes Haar in die Luft, zerrte an seinem Schal, den er von Mika bekommen hatte, warf seinen Kimono in die Luft. Der Stoff, blau wie der wolkenlose Winterhimmel, flatterte wie ein aufgeregter Vogel und erweckte die Spatzen, mit geschwungenen, schwarzen Linien auf dem seidenen Stoff verewigt, mal kräftig, mal hauch dünn, zum Leben und ließ sie fliegen. Wie ein Sturm fegte die Böe über ihn hinweg, trug sein Lied kilometerweit und zog die Menschen an den Ort der Wunder, an dem Träume wahr wurden.

      Als Yuki sich der Welt, in der nur Musik herrschte, entriss und die Augen öffnete, stand sie vor ihnen. Eine riesige Menschenmenge, die ihnen gebannt zuhörte. Männer und Frauen, Mädchen und Jungen schenkten ihnen ihre volle Aufmerksamkeit. Einige hatten Tränen in den Augen, viele Gesichter umspielte ein Lächeln der Erinnerung. Erinnerung an vergangene Liebe, Gedanken an währende Liebe und ein Traum von kommender Liebe. Energie strömte aus der Menge, schnellte auf Yuki zu, erfüllte seinen Geist und seinen Körper.

      Für einen kurzen Moment gelang ihm ein Blick hinter den Vorhang der Amnesie. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, zu wissen, wer und was er war. Doch als das Lied zu Ende war und die Menschenmenge applaudierte, fiel der undurchdringbare Vorhang und alles wurde wieder schwarz.

      Mika war berauscht von dem tobenden Applaus. So viele Zuhörer hatte sie noch nie gehabt. Ihre Wangen glühten vor Aufregung, ihre Augen funkelten. Sie fühlte sich lebendiger denn je. Ob es wohl dieser Moment war, in dem Mika Yuki für immer verfiel, ihren Schwur und sich selbst verriet?

      Mit jedem Lied versammelten sich mehr Menschen um sie und die Traube stand noch lange da, nachdem die letzte Note verklungen war. Mika plapperte aufgeregt, immer ein Lachen in der Stimmt. Yuki trug den Rucksack mit Keyboard und den kleinen Boxen. Als sie an dem Apartmentkomplex ankamen, trat Yuki wie selbstverständlich in die Wohnung. Mika machte Tee und wurde ganz ruhig. Der Redeschwall war so plötzlich verschwunden, wie er gekommen war. Mika wirkte unsicher und wie immer, rief sie nach ihrem Yuki, wenn sie sich unwohl fühlte.

      „Schläft auf der Coach.“ Yuki mochte es nicht, zu lügen, und doch konnte er sich nicht dazu bringen, Mika die Wahrheit zu sagen. Mika nickte und rührte nervös in ihrer Tasse herum.

      „Du bist müde. Ich gehe.“ Bei seinen Worten stieß der Löffel gewaltsam mit dem Tassenrand zusammen und echote wie ein Gong im Raum. Mikas Hand zitterte leicht.

      „Kommst ...“, setzte Mika an und verstummte. Dann atmete sie tief durch und versuchte es noch einmal:

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