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einfach verschwinden.

      Erneut strengte er sich an, schaffte es auf die Beine. Nein, auf die Pfoten. Er hatte Pfoten. Ob das so richtig war? Es fühlte sich nicht falsch an, aber auch nicht richtig. Sein ganzer Körper fühlte sich nicht richtig an. War er schon immer so klein gewesen? Hatte er schon immer Pfoten anstatt Hände gehabt? Jemand kam auf ihn zu. Jemand der viel größer war als er. Wenn es ihm nicht gelang, rechtzeitig auszuweichen, würde er zertrampelt werden. Er musste schnell weg, aber das Kombinieren von Hinter- und Vorderpfoten wollte nicht klappen. Der Riese kam immer näher, schlug mit einem Stock auf den schneebedeckten Asphalt. Klong, klong, erklang es dumpf in seinen Ohren, als der Gigant langsam näher kam.

      „Vorsicht! Ich bin hier unten!“, wollte er schreien, aber nur ein seltsames, leises Quietschgeräusch entschlüpfte seiner Schnauze. Er hatte eine Schnauze, keinen Mund, keine Lippen.

      Sollten es nicht andere Laute sein? Doch die riesige Gestalt hielt an, beugte sich hinunter und tastete im Schnee herum. Dann traf eine Hand mit fünf Fingern seinen Kopf, klopfte leise, vergrub die Finger in seinem Fell und streichelte seinen Rücken entlang. Irgendwo in einer kleinen Ecke in seinem Gehirn glaubte er, zu wissen, dass auch er solche Hände gehabt hatte. Wenn er an sich dachte, dachte er an die Farbe weiß und die Zahl neun. Neun blaue Flammen? Warum dachte er an neun blaue Flammen, wenn er nur acht spürte? Ein Teil von ihm fehlte. Wo war seine neunte Flamme?

      „Hast du dich verlaufen kleines Miezekätzchen? Es ist kalt und du bist so klein. Ich werde dich mitnehmen und mich um dich kümmern, bis wir deinen Besitzer gefunden haben.“ Seine Stimmbänder sollten in der Lage sein, ähnliche Laute zu formen. Aber alles, was er herausbekam, war dieses leise Quietschen. Es gefiel ihm überhaupt nicht, für eine Katze gehalten zu werden. Warum? War er keine? Die riesige junge Frau nahm ihn hoch und drückte ihn an die Brust, während sie ihn streichelte und ihm beruhigende Worte zuflüsterte. Er sah zu ihr hoch. Sie kam ihm bekannt vor. Irgendwo hatte er sie schon einmal gesehen.

      In einer Hand hielt sie ihn, in der anderen einen Stock, mit dem sie den Boden abklopfte. Auf dem Rücken trug sie einen großen, schwarzen Kasten.

      „Mein Name ist Mika“, sagte sie zu ihm. Er hatte das Gefühl, lange darauf gewartet zu haben, ihren Namen erfahren zu dürfen.

      „Wie dein Name wohl ist?“ Er gab ein Knackgeräusch von sich, gefolgt von einer Art Bellen.

      „Oh, haben wir hier ein Hündchen und keine Katze?“ Das gefiel ihm schon etwas besser.

      „Wie wäre Wan? Sollen wir dich Wan nennen?“ Das gefiel ihm noch weniger, als für eine Katze gehalten zu werden. Der Name klang falsch und unangenehm in seinen Ohren und er knurrte leise.

      „Das gefällt dir also nicht. Wie wäre es mit Yuki, wie der Schnee? Ich hab dich schließlich im Schnee gefunden.“ Das gefiel ihm schon besser. Es war fast perfekt. Er gab ein zustimmendes Bellgeräusch von sich.

      „Dann also Yuki. Freut mich dich kennenzulernen, Yuki!“

      ----

      Yuki lag auf dem Sofa. Es war alt, aber bequem. Der schwarze Stoff war hier und da durchgesessen und dünn geworden. Die Türen standen wie immer weit offen. Yuki hob leicht den Kopf und erhaschte einen Blick auf Mikas nackten Rücken, als sie sich im Schlafzimmer anzog. Schnell wandte er seinen Blick zu dem ungemachten Bett, drehte dann seinen Kopf nach links und blickte über den Balkon hinaus, in die gegenüberliegende Wohnung.

      Und sah, wie die 50 jährige Nachbarin ihren hängenden Busen in einen Büstenhalter zwängte. Ruckartig drehte sich Yuki wieder zu Mika um. Hoffte, in ihrem Anblick das Gesehene zu vergessen. Doch Mika war bereits angezogen. Verärgert brummte er in sich hinein. Er würde die Augen eine Weile nicht schließen und hoffen, dass sich das Bild nicht für immer in sein Netzhaut eingebrannt hatte: Falten, Altersflecken und Gewebeschäden … Platzmangel hin oder her, musste man so nahe aneinander bauen?

      Mikas Wohnung war nicht groß, doch sie hatte einen getrennten Schlaf-und Wohnbereich, sowie eine Küche mit einem kleinen Esstisch und zwei Stühlen. Toilette und Bad waren gleich im Flur rechts. Es war klein und man musste sich in der Wanne waschen, nicht außen, wie es sich gehörte. Nur die Westler liebten es, in ihrem eigenen Dreck zu schwimmen. In Japan wusch man sich bevor man in das saubere Wasser stieg. Doch in den Städteapartments war diese Möglichkeit aufgrund von Platzmangel selten gegeben. Yuki kam nicht umhin, es trotzdem als Sakrileg an der japanischen Kultur zu empfinden. Es war so, als ob er vor seiner Morgenwäsche absichtlich in eine Pfütze springen, sich darin suhlen und sich danach mit Freuden sauberlecken würde.

      Ihm wurde schlecht und er schloss die Augen. Yuki fühlte sich müde und kraftlos, auch wenn er den ganzen Tag nichts anderes tat, als schlafen. Er war hungrig, auch wenn er den ganzen Tag aß. Hatte er sich an dem widerlichen Zeug, das Mika Hundefutter nannte, den Magen verdorben? Es schmeckte nicht nur furchtbar, sondern war auch noch schweineteuer.

      „Yuki!“, Mikas Stimme klang besorgt, als sie nach ihm rief. Er bellte kurz zur Antwort.

      „Ich gehe auf die Musikallee, willst du mit? Ein bisschen frische Luft wird dir sicher guttun.“ Er stand auf, folgte ihr, als sie die Wohnungstür aufmachte und huschte hindurch, bevor Mika sie wieder hinter sich schloss. Dann stieg Mika sicheren Schrittes die Treppe hinunter, immer den Blick vor sich ins Nichts gerichtet, ging der Straße entlang, bog rechts ab, dann links und lief dann weiter gerade aus. Immer ihr Keyboard auf dem Rücken, die Boxen in der einen Hand und ihren Blindenstock in der anderen. Obwohl es kalt war, trug sie fingerlose Handschuhe.

      Mika hielt an einer Ampel, wartete bis das Signal für Grün ertönte, ging zu ihrem üblichen Platz und baute Keyboard und Boxen auf. Wo andere Bilder sahen, hörte Mika Töne. Mit Hilfe der Tonkarte, die das Keyboard ihr schenkte, konnte sie Tonbilder malen, wo andere Öl, Kreide, Acryl und Kohle verwendeten.

      Es hatte geschneit und der breite Gehweg war bedeckt von einer hauchdünnen Schneeschicht. Yuki legte sich in den Schnee und spitzte die Ohren. Oft tummelten sich hier große Menschenmengen und Musiker. Fanden die Leute gefallen an einem der Künstler, hielten sie in ihrem Hasten inne und bildeten mal hier mal da Trauben auf dem Verbindungsweg zwischen Harajuku und Shibuya.

      Im Winter waren es weniger Menschen und weniger Musiker. Heute hatten sich außer Mika nur zwei auf die verschneite Straße gewagt. Zu weit voneinander entfernt, als dass sich ihre Lieder in eine homogene Masse vermischen konnten, klang ein jeder für sich, umgeben von einer Mauer aus Melodie und Text.

      Auch Mikas wunderschöne Stimme erfüllte in sich selbst hallend mal zart, mal kraftvoll die Straßen, als Yuki leise in ihr Lied einstimmte. Menschen blieben stehen, bestaunten den kleinen, weißen Hund und das blinde Mädchen mit der schönen Stimme.

      Je mehr Menschen stehenblieben, desto stärker fühlte Yuki sich. Energie durchströmte seinen müden Körper und seine Flammen begehrten kraftvoll auf, brannten stetig und licht. Mika freute sich über den Applaus, der folgte. Man drückte ihr Geld in die Hand und fragte nach ihrem Namen, dem ihres Hundes. An jenem Tag wurde auf den kalten Steinen der Straße zwischen Harajuku und Shibuya ein Star geboren. Ein weißes, puschelliges Sternchen, das dem Menschenmädchen folgte, als es zusammenpackte und sich auf den Weg zur Tokyo School of Music machte.

      Das braun gekachelte, achtstöckige Gebäude befand ich in einer Nebengasse, und war bis auf ein großes Poster recht unscheinbar. Mit einem muffigen Aufzug fuhren sie in den dritten Stock und betraten einen Raum voller Musikinstrumente und Geräte, die Yuki nicht zuordnen konnte. Mika ging zielstrebig zu einem Stuhl, der etwas abseits stand, stellte ihre Sachen ab und setzte sich. Yuki legte sich neben sie und beäugte die anderen Menschen argwöhnisch.

      Mikas Augen waren auf den Boden gerichtet und sie saß bewegungslos da. Ein älterer Herr kam zur Tür herein. Yuki knurrte leise, fast lautlos in sich hinein. Er mochte den Mann nicht. Lange, fettige Haare umrahmten seine Halbglatze wie eine Krone und gaben ihm das Aussehen eines Oktopusses mit zu dünnen Tentakeln. Mit seinen Glupschaugen beäugte er die weiblichen Studenten wie ein Elch zur Brunftzeit. Und alles in Yuki schrie danach seine Zähne tief in dem weichen Hinterteil des Mannes zu vergraben. Doch er hielt sich zurück, für Mika.

      Nach

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