Скачать книгу

jenem Ort zu einem stummen, glanzlosen Fisch. Glücklich wirkte Mika nur, wenn sie auf dem breiten Gehweg vor ihrem Keyboard stand und sang. So verging Tag für Tag. Sie verließen die wunderbare, bunte Klangwelt der Straße, um in der braunkarierten Stille der Musikschule abzutauchen. Bis ein Auto bei Rot über die Ampel fuhr.

      Mika konzentrierte sich auf den Ton der Ampel und hörte nur das Vogelgezwitscher. Das Quietschen von Rädern riss Yuki aus der Welt der grünen Wälder, in die der Gesang der Ampel ihn immer lockte. Er heulte voller Grauen auf, als er den Wagen heranrasen sah. Rot wie Blut. Die Räder rauchten, als der Fahrer bremste und das Lenkrad herumriss. Doch der Toyota schlitterte weiter auf Mika zu. Yuki sprang mit aller Kraft in die Luft, wollte Mika mit seinem Körper rammen, sie aus der Gefahrenzone bringen. Doch er war zu klein, nicht schwer genug.

      Das Auto schlitterte weiter, war kurz davor Mika zu erfassen und sie ihm für immer zu entreißen. Er wünschte sich nichts mehr auf der Welt, als größer und stärker zu sein. Um Mika retten zu können. Schutz ... Rettung ... Ein wohl vertrauter Schmerz ergriff ihn, zerklüftete seine Brust. Eine Erinnerung blitzte auf. Kleine, schwarze Ameisen. Eine Arme von leblosen Puppen stürmte auf ihn ein.

      „Dieses Mal muss ich sie retten!“, schrie sein Geist. Sein Körper vibrierte, dehnte und streckte sich. Aus kleinen Pfoten wurden kräftige Hände und lange Beine. Sein Fell verwandelte sich in einen weißen Kimono. Seine Haut wurde glatt und farblos wie neu gefallener Schnee.

      Starke Händen packten Mika, rissen sie mit sich. Ein warmer Körper legte sich schützend um sie, als ihre Welt sich drehte. Sie klatschten auf den Asphalt und rutschten durch den matschigen Schnee. Viel zu spät erklang die Autohupe. Der Fahrer fluchte, riss das Lenkrad wieder herum, schlitterte wieder und fuhr einfach weiter. Yuki hob Mika hoch und drückte sie fest an sich.

      „Orokamono - Dummkopf! Hast du das Quietschen der Räder nicht gehört?“, eisig kalt entschlüpften Yuki die Worte, auch wenn die Sorge heiß in ihm brannte. Mikas Herz klopfte aufgeregt gegen seines, sie zitterte.

      „Entschuldigung …“ Ihr Gesicht war blau und sie schlotterte am ganzen Körper. Yuki stand auf, half Mika hoch. Als ihre Beine unter ihr nachgaben, nahm er ihr den schweren Rucksack ab und hob sie hoch.

      „Ich bringe dich nach Hause“, sagte er. Die ersten Schritte waren ungewohnt. Yuki musste mit Mika auf den Armen, um Gleichgewicht kämpfen. Doch schnell gewöhnten sich seine Beine daran, ihn zu tragen und seine Schritten wurden sicherer, sein Griff um Mikas Rücken und ihre Knie fester.

      Der Wind wirbelte Schnee auf, der sich kalt und nass unter seinen nackten Füßen anfühlte, riss an seinen Haaren, schleuderte sie in die Luft. Ohne darauf zu achten, blickte Yuki auf Mikas Gesicht herunter. Seine Hände pressten ihren Körper näher an seinen. Er spürte ihr Herzklopfen und das leichte Zittern ihres Körpers. Sie wirkte so klein und zerbrechlich. Viel zu schnell standen sie vor der Haustür und Yuki musste Mika herunterlassen und sein Körper vermisste ihre Wärme, als jeder Kontakt zwischen ihnen abbrach.

      Ungeschickt verbeugt sich Mika vor ihm und stammelte „Vielen Dank, aber woher wissen Sie, wo ich wohne?“ Yukis Finger fuhren durch sein langes Haar, teilten Strähnen in kleine weiße Bäche, die über seine Schultern liefen.

      „Ich … wohne hier“, antwortete er.

      „Dann müssen Sie der neue Nachbar sein! Ich heiße Mika Yamadera. Freut mich Herr …“, ihre Finger zitterten noch leicht, als sie sich das Haar hinter die Ohren strich.

      „Yuki“, nannte er ihr den einzigen Namen, den er kannte.

      „Yuki? Mein Hund heißt Yuki“; dann verstummte Mika und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, ließ leblose Porzellanhaut zurück: „Yuki, mein Hund ...“

      „Ihm ist nichts passiert, er versteckt sich vor Schreck sicher in irgendeinem Busch. Ich gehe ihn suchen.“ Abrupt drehte er sich um, lief die Treppe hinunter, zurück zur Kreuzung, als würde er dort wirklich sein tierisches Ich finden. Sein Herz klopfte schnell. Seine Füße trugen ihn, als hätte er sich schon immer auf zwei Beinen und nicht auf vier Pfoten fortbewegt. Ein Automatismus, in Fleisch und Blut übergegangen.

      Dann hielt er inne, blickte sich in der bekannten Umgebung um, die ihm doch fremd war. Sah hinunter auf seine Hände. Die Haut war weiß, die Finger lang. Die Nägel liefen spitz zu, waren menschlich und hatten doch etwas Tierisches. Er fuhr mit der linken Hand über die rechte. Glatt, kein Härchen war aufzufinden. Er griff zu seinem Haar, packte eine Strähne, zog sie vor sein Gesicht, roch daran, kaute darauf und leckte sie ab. Es schmeckte wie immer nach geschmolzenem Neuschnee.

      Ungewollt und unvorbereitet wurden die Passanten Zeugen einer seltsamen Begebenheit, die nicht einmal das menschliche Gehirn an eine glaubwürdige Realität anpassen konnte. Ein hochgewachsener Mann in einem weißen Kimono stand barfuß im Schnee. Ein schöner Mann, bei dessen Anblick Mütter rot wurden, Töchter in Aufruhr gerieten, Männern und Jungen der Atem vor Bewunderung und Neid stockte. Dieser Mann, einem Traum entstiegen, blickte angestrengt auf den Rücken seiner Hand und … leckte an ihm. Fuhr langsam mit dem feuchten Handrücken vom Kopf über die Wange. Einer Mutter entschlüpfte ein Stöhnen, die Wangen aller leuchteten rot.

      In der routinierten Bewegung seiner morgendlichen Wäsche gefangen, bemerkte Yuki die befremdliche Blicke erst nach einigen Runden seines Putzrituales. Als er die Augen auf sich spürte, wurde er von einer gewaltigen Energiewelle erfasst. Sie presste sich in seinen Körper, fegte jeden Gedanken an Müdigkeit weg. Das Gefühl der Sättigung entlockte seinen Lippen ein zufriedenes Knurren. Hocherhobenen Hauptes stolzierte er zum Haus.

      Yuki ging durch die offene Haustür und lehnte sich an die kalte Wand. Das Glücksgefühl, das die Sättigung begleitet hatte, war verschwunden. Seine Gedanken kreisten um Mika. Wie sollte er ihr erklären, dass er … Bevor er den Satz zu Ende denken konnte, hallte ein leises Puff durch das Treppenhaus und als sich der leichte Nebel, der aufgekommen war, verzogen hatte, stand an der Stelle des schönen Mannes ein niedliches Hündchen.

      Yuki sauste freudestrahlend die Treppen bis in den dritten Stock hinauf, nur um dann vor einer verschlossener Tür schlitternd zum Stehen zu kommen. Auch wenn sein Geist die Worte formten, verließ seine Schnauze nur seltsame, leise Knackgeräusche, als er nach Mika rief. Kein Miauen, kein Bellen. Und doch hörte Mika ihn.

      Die Tür sprang auf und sie streckte die Arme aus, um ihn zu empfangen. Yuki sprang an ihre Brust, hechelte und seine nasse Zunge glitt rau über ihre Wange. Ihre Haut schmeckte nach umeshu – süßlich herben Pflaumenwein. Eine Erinnerung flackerte in ihm auf. Eine kleine Anhebung eingezäunt von bunten Blätter, die leicht schimmernd im Mondlicht glänzten, neben ihm …

      Mika umschlang ihn und rieb ihr Gesicht lachend an seinem weißen, weichen Fell und das Fragment seiner Vergangenheit entglitt seinem schlüpfrigen Geist. Doch für den Ansatz eines Momentes hatte Yuki sich komplett gefühlt. Alleine zurückgelassen in dem dicken Nebel seines Verstandes, erdrückte ihn die Leere, die kurz davor nur der Hauch eines Unwohlseins gewesen war.

      Yuki immer noch auf dem Arm, ging Mika in die Küche und setzte ihn vor einer prall gefüllten Plastikschale ab. Der Geruch nach zusammengematschten, konservierten Fleischstückchen stach ihm in die Nase und Yuki musste ein Aufheulen unterdrücken. Sein Geist seufzte, als Mikas Hand zärtlich über sein Fell streichelte und Yuki steckte ergeben die Schnauze in die braune Substanz. Mit aller Kraft hart daran arbeitend, nicht zu riechen und nicht zu schmecken, würgte er das weder feste, noch weiche Fleisch mitsamt seiner Schleimschicht herunter.

      ----

      Als Yuki am nächsten Morgen erwachte, hockte er auf dem Boden, Kopf und Arme auf Mikas Schoss. Weißes, langes Haar ergoss sich über ihre Schenkel. Sein langes, weißes Haar! Yukis Herz machte einen Sprung und er wackelte aufgeregt mit haarigen Ohren, die sich plötzlich auf dem Kopf befanden und nicht mehr rechts und links von seinen Wangen.

      Er löste sich vorsichtig von Mika, schlich in den Flur und blieb vor dem Spiegel stehen. Eisblaue Augen eines Mannes mit Tierohren starrten ihm neugierig entgegen. Automatisch verglich er sie mit dem warmen Dunkelbraun, das ihn in Mikas Augen an geschmolze Schokolade mit feinen Goldplättchen erinnerte.

Скачать книгу