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durchforstete ihr Hirn nach Informationen über Nepal und seine Hauptstadt. Sie fand nur sehr wenig. Der Himalaya natürlich. Es grenzte an Indien. Gehörte zu den Ländern, die man abfällig als „dritte Welt“ bezeichnete. Indien sollte starken Einfluss auf Nepal ausüben. Ein Land, von dem man nur selten in den Nachrichten hörte. Jedenfalls im Westen.

      „Wir fliegen nach Lukla.“ Wie es sich nach dem Essen gehörte, begann Van, sich zu putzen, hielt jedoch inne, als ein leises Kichern an seine empfindlichen Ohren drang. Verärgert, verdrängte er das Bedürfnis, sich überall zu lecken.

      „Lukla?“, fragt Lina mit schlechtem Gewissen. Sie hatte Van nicht auslachen wollen. Aber es war so süß, wie sich seine blauen Augen zuerst auf seine Pfote konzentrierten, seine Zunge herausschoss, langsam über die Rückseite seiner Pfote leckte, er die Äugelein schloss, den Kopf schief hielt und mit der nassen Pfote über sein Ohr fuhr. Es plattdrückte, nur um die Augen wieder aufzureißen, seine Zunge dabei zu beobachten, wie sie das Fell erneut benässte, um von vorne zu beginnen. Sie musste an den gestiefelten Kater denken und ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Das Atmen fiel ihr schwer. Braunes Fell durchtränkt von Blut und ihre eigene Stimme die MUKI schrie.

      „Lukla!“ Van spürte Linas Schmerz und ihre Trauer, war kurz davor, sich wieder zu putzen, nur um sie abzulenken.

      „Was machen wir in Lukla?“ Ungefragt sendete Van Lina Bilder von schneebedeckten Kuppeln, Hängebrücken über tiefen Tälern, zottigen Tieren mit abgeschnittenen Hörnern. Kleinen Fähnchen, die in den verschiedensten Farben aneinandergereiht im Wind wehten.

      „Wir suchen jemanden, der uns helfen kann.“ Van blickte verlegen zur Seite.

      „Im Himalaya?“ Eine romantische Vorstellung ergriff von Lina Besitz. Umgeben von Natur, Wäldern, Klippen, rauschenden Flüssen, entfernt von der Zivilisation. Eine kleine Hütte aus Stein und Holz mit eigenen Händen erbaut. Schnee auf den Gipfeln, der sich bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang golden färbte.

      „Im Himalaya!“ Auch Van wurde in dem Traum gesogen. Alleine in der Wildnis mit Lina. Doch er wusste, dass es nur ein Traum war. Denn der Berg wimmelte von dem schlimmsten Übel, das ein Land befallen konnte: Touristen.

      „Den Yeti?“, scherzte Lina und gefror, als Van unruhig seine Krallen in die Matratze versenkte und ihrem Blick auswich.

      „Den Yeti!“, hallte es verlegen in ihrem Geist.

      „Du kennst den Yeti?“ Linas Augen wurden groß. Sie war hin- und hergerissen zwischen Neugier und ihrer Abneigung gegen alles Übernatürliche. Doch der Yeti war ein anderes Kaliber. So fern und fremd, musste er eine längst vergessene Lebensform sein, wie Nessie, oder Drachen. Einst die Welt beherrschend, waren sie wie die Dinosaurier fast ausgestorben. Und Lina war sich sicher, das Nessie ein überlebender Dino war, wie auch Drachen, die letzten, überlebenden Dinosaurier, die von Rittern und holden Maiden ausgerottet worden waren. Und Van kannte eines der überlebenden Wunder. Linas Wangen gewannen wieder etwas an Farbe. Sie würde den Yeti treffen.

      „Wir sind uns mal begegnet“, Van spürte Linas Aufregung, ihre unausgesprochenen Fragen und wurde noch verlegener.

      „Du bist dem Yeti begegnet?“ Lina wollte mehr wissen, doch Van hatte die Augen geschlossen und stellte sich schlafend. Die Begegnung mit dem Yeti war keine schöne Erinnerung und Teil seines Lebens, von dem er nicht wollte, dass Lina einen Einblick bekam. Der Yeti war der einzige, der ihm eingefallen war, der mehr wissen könnte über das Tor und Linas Verbindung zu ihm. Er würde sich der Erinnerung stellen. Später.

      Jetzt mussten sie unerkannt nach Shanghai gelangen und dort einen Flieger nach New Delhi finden. Er hoffe, dass es schnell gehen würde. China war kein Land, wo er sich gerne länger als nötig aufhielt. Vor allem nicht mit Lina. In dem Land schliefen Kräfte, die besser nicht geweckt werden sollten und Lina zog solche Wesen an wie das Feuer die Motten. Doch es wäre nicht die Motte, die in diesem Fall verbrennen würde.

      Nach einem Alkopop auf unruhigen und fast leeren Magen schlief Lina auf der harten Koje erschöpft ein. Die Speiseröhre wund, würde sie am Morgen Muskelkater an Stellen erwarten, die man nicht trainieren konnte. Van betrachtete ihr Gesicht im schwachen Schein der Lampe. Selbst das rötlichorange Licht konnte die Blässe nicht vollkommen vertreiben. Doch immerhin hatte ihre Haut nicht mehr diesen leichten Grünstich.

      Wie sehr er sich auch wünschte, sie als Mann in den Arm zu nehmen und vor der ganzen Welt zu beschützen, konnte er doch nur als Katze über sie wachen. Es war ihre Entscheidung. Und wenn sie sich so wohler fühlte, würde er eine Katze bleiben.

      Klare Augen, blauer als das Meer beobachteten Lina, als wollten sie sichergehen, dass ihre Brust sich regelmäßig hob und senkte. Die Gewissheit überkam ihn. Ungefragt und ungebeten, drängte sie sich ihm auf. Egal was sie für ihn empfand, Van liebte Lina. Er liebte ihre Kraft, ihre Eigenständigkeit, ihren Leichtsinn, ihren Humor und ihr Durchhaltevermögen. Er liebte, wie sie sich in einem Moment noch übergab und im nächsten betrank. Mit ihr wurden vier Tage eingesperrt in einem Raum zu einer Party. Sie war so natürlich und voller Leben. Lina verkörperte für ihn Leben, wie es sein sollte.

      Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, vielleicht in einem anderen Leben, hätten sie zusammen glücklich werden können. Sind es vielleicht gewesen. Tief drinnen, in einem Teil von ihm, den er nicht zu ergründen wagte, wusste er, dass es nicht das erste Mal war, dass sich ihre Seelen begegneten. Er brauchte sie, um ganz zu sein.

      Van wollte sie glücklich machen. Doch da das in diesem Leben nicht in seiner Macht lag, würde er alles daran setzen, sie glücklich zu sehen. Eine uralte Stimme in ihm rief nach ihr und warnte ihn gleichzeitig. Sie würde sein Verderben sein. Sie würde ihm einen Wunsch erfüllen, den er nicht mehr hegte. Aber es war okay. Durch ihre Hand zu sterben, war ein schöner Tod.

      Er hörte die Wellen rauschen, spürte ihr Schaukeln und ein Gedanke, gut verdrängt, bemächtigte sich seines Geistes: Akiko.

      Sein Herz krampfte sich zusammen. Sie hatte alles für ihn getan. Hatte ihn gefunden und aus den Klauen des Wahnsinns befreit. Sie hatte ihn öfter gepflegt, als er zählen konnte. Und doch hatte er sie im Stich gelassen. War geflohen und hatte sie ihrem Schicksal überlassen. Wenn er Lina nicht im Blick hatte, schrie jede Faser seines Seins danach, Akiko zu suchen und in Sicherheit zu bringen. Van konzentrierte sich auf Lina. Sie sah so zerbrechlich im Schlaf aus. Dass auf ihren Schultern eine Last ruhte, die das Schicksal der Menschheit bestimmen würde, war kaum zu glauben.

      Van wusste, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, Lina in Sicherheit zu bringen. Dass ihn Akiko darum gebeten hatte und er würde es niemals bereuen. Doch sein Herz blutete für Akiko. So mächtig sie auch war, war sie doch nicht weniger zerbrechlich als Lina. Beides Frauen, deren Handeln das Schicksal der Menschheit lenken würde. Doch ihm waren die Menschen egal. Nur zwei von den 7,2 Milliarden waren ihm wichtig. Und einen davon hatte er im Stich gelassen.

      SCHULD

       Flughafen Osaka-Itami November 2010

      Akiko saß im Flieger. Die Bilder strömten auf sie ein, ihr Kopf schmerzte. Mögliche Zukunftsversionen wechselten sich im Sekundentakt ab. Es kostete sie jeden Tropfen Selbstbeherrschung, um ihre Augen nicht zuzukneifen, ihre Hände nicht über die Ohren zu pressen, sich nicht in einem Ball zusammenzurollen und panisch hin und her zu schaukeln. Sie war zu lange hinter ihrer behüteten Mauer der Stille gewesen.

      Die Welt des Schmerzes war in Vergessenheit gerückt und brach jetzt über sie herein, ertränkte ihren Geist und war doch nur ein Vorgeschmack auf das, was kommen würde. Akiko hatte Schlimmeres durchlebt. Müsste abgehärtet sein, aber die Jahre des Komfort hatten sie weich gemacht. In diesem Zustand würde es nicht lange dauern, bis der Orden sie erneut gebrochen hatte und dieses Mal mit ihr die Welt.

      Die Folter hatte bereits begonnen und sie fuhren die großen Geschütze auf. Sie ohne Schutzzauber durch den Flughafen zu zerren und in einen Doppeldecker zu setzen, war unmenschlich. Ein einzelner Gedanke reichte, um hunderte neue mögliche Zukunftsversionen

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