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der Hilflosigkeit schwappten über ihn und er hieß sie willkommen wie alte Freunde.

      Er erinnerte sich wage an eine Zeit, als es sie nicht gegeben hatte. Als er naiv durch die Welt gegangen war, mit stolz erhobenem Haupt, immer ein Lächeln auf den Lippen. In seinem Egoismus und seiner Sucht nach Ruhm und Reichtum hatte er gebadet. Adam hatte ihn gewarnt.

      „Hochmut kommt vor dem Fall“, hatte er zu sagen gepflegt. Doch Heinrich hatte nur gelacht, denn er hatte gewusst, dass er auserwählt und für Großes bestimmt war. Jetzt wünschte er sich, er hätte Leipzig und die viel zu kleine Wohnung nie verlassen. Zu klein für sieben Personen, immer dreckig, da seine Mutter immer müde von der Arbeit kam. Er hatte geglaubt, dort zu ersticken und sich nach der großen, weiten Welt gesehnt.

      Der Orden hatte ihm genau das geboten und er hatte, ohne zu fragen, akzeptiert. Er wäre jedem gefolgt, der ihm eine Karte aus der Armut und des Unbedeutendseins hingehalten hätte. Doch es war der verfluchte Orden gewesen. Was ihm damals aufregend und neu erschienen war, lastete seit Jahren drückend auf seiner Seele. Er war schon lange nicht mehr gerade gelaufen, immer nur gebückt, sein Inneres zusammengequetscht von dem Gedanken: Was konnte er schon gegen den Orden ausrichten?

      Vielleicht sollte er darum beten, dass das Flugzeug abstützte. Das würde sein Leiden und das von Akiko vermindern. Es war nicht das erste Mal, dass er darüber nachdachte, sie zu erlösen. Doch er hatte es nicht bei dem Mädchen gekonnt und konnte es nicht bei der Frau. Sich umzubringen, erschien ihm zu einfach. In die Hölle würde er noch früh genug kommen. Mit seinem Tod wäre Akiko nicht geholfen.

      Bilder von einem dürren, ausgemagerten Mädchen, das vor Schmerzen zusammengekrampft hinter Gittern am Boden lag, keine Kraft mehr hatte zum Schreien, stürzten auf ihn ein. Augen, die ihn einst angestrahlt hatten, blickten ausdruckslos ins Nichts.

      Als er die Kinder eingesammelt hatte, war es ihm egal gewesen. Er war nur scharf auf das extra Geld, den Ruhm und die Beförderung. Was man mit den Kindern anstellte, daran hatte er keinen Gedanken verloren. Doch dann war er Akiko begegnet.

      …

       Norden Japans, irgendwo im Wald, Frühling 1985

      Heinrich machte Rast in dem vermaledeiten Wald, der keinen Anfang hatte und kein Ende. Er war schlecht gelaunt. Schon zu lange war er in der Weltgeschichte herumgereist, ohne jemanden mit Potential zu finden. Die hochgewachsenen Bäume um ihn herum und das Grün erfreuten ihn genau so wenig wie der Geruch nach Kiefern und Zedern. Er musste bald etwas finden, irgendetwas. Warum es ihn in dieses seltsame Land der aufgehenden Sonne verschlagen hatte, wusste er nicht. Sein Riecher hatte ihn nicht einmal in eine Stadt geführt, die nur so von Menschen wimmelte. Nein, sein Instinkt hatte ihn in ein kaum besiedeltes Gebiet gebracht, in dem man kilometerweit laufen musste, um auch nur einer Menschenseele zu begegnen.

      Zum ersten Mal in seinem Leben zweifelte er an seinem Instinkt, der ihn bisher noch nie im Stich gelassen hatte. Ihn immer zu Kindern mit mehr Potential geführt hatte, als gut für sie war. Er hatte gefühlt, wie die Gabe in ihren kleinen Körpern pulsierte, darauf wartete, zu erblühen und die Welt zu verändern. Doch das letzte Jahr war trocken gewesen. Er hatte nicht einmal den Hauch von Talent gespürt. Nicht in Afrika, nicht in Indien, China oder Russland.

      Und jetzt war er in einem Wald im Norden Japans. Weit abgelegen von jeder Zivilisation. Ein riesiger schwarzer Rabe, der Heinrich kalte Schauder über den Rücken jagte, landete auf einem Baum, nicht weit von ihm. Er hörte sie nicht kommen und doch stand sie plötzlich vor ihm. Ihre Augen strahlten ihn an, ihr Mund wölbte sich zu einem Lächeln. Noch bevor Heinrich den kleinen, schmächtigen Körper berührte, wusste er, dass er sie gefunden hatte.

      Ihr Gesicht war schmutzig, ihre Arme und Beine bedeckt mit Dreck. Das lange, schwarze Haar stand ihr ungekämmt in alle Richtungen vom Kopf ab. Ihr fehlte ein Zahn. Ungewaschen und ungepflegt stand das kleine, zerbrechliche Mädchen vor ihm und er hatte noch nie etwas Schöneres gesehen, noch nie solch eine Macht gespürt. Sie pulsierte aus ihr heraus, schwappte auf das Gras über, die Bäume und erfüllte selbst die Luft. Die Macht, die der kleine Körper noch nicht halten konnte, gab er willentlich an seine Umwelt ab.

      So viel Lebensfreude, wie in den dunklen Augen des Mädchens, hatte er noch nie gesehen. Ihrem Zauber verfallen, handelte Heinrich doch so wie immer. Es geschah automatisch. Er folgte ihr bis zu einem alten Gebäude, längst über den Zustand der Reparaturbedürftigkeit hinaus, aber noch keine Ruine. Daneben stand eine kleine Kirche mit einem Holzkreuz auf dem Dach. Frauen in Schwarz und Weiß gekleidet begrüßten ihn. Das Mädchen hatte ihn zu einem Waisenhaus geführt.

      Die Nonnen, die es betrieben, freuten sich über sein Interesse und gaben alles großzügig preis. Der Name des kleinen Mädchens war Akiko. Man hatte sie zufällig im Wald unter einer uralten Kiefer gefunden. Heinrich forderte ohne Umschweifen Adoptionspapiere an. Alle schienen froh darüber, dass es ein Maul weniger zu stopfen gab. Auch wenn das Mädchen aussah, als wüsste sie nicht einmal, was das Wort Essen bedeutete. Keiner stellte Fragen. Es war einfacher denn je. Keine Eltern, die sie vermissen würden.

      Während er auf die Unterlagen wartete, beobachtete Heinrich das Mädchen mit dem Namen Akiko. Sie spielte mit den Kindern, oder versuchte es. Die anderen liefen vor ihr weg, zuckten vor ihrer Berührung zurück, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Einer der größeren Jungen nahm einen Stein und warf ihn nach ihr. Der Stein traf Akiko am Kopf. Blut lief ihre Wange herunter und tropfte auf ihr schmutziges, zerrissenes Kleid. Mit einem Gesicht, in dem nur Überraschung zu lesen war, hob sie ihre kleine Hand, langte sich an den Kopf und schleckte das Blut ab, bevor Heinrich sie erreichen konnte.

      Als sie ihn sah, lächelte sie ihn wieder an und er verlor sein Herz an sie. Doch das verstand er erst viel später. Zu Spät. Er tupfte das Blut mit seinem Taschentuch ab und strich ihr Haar aus dem Gesicht, da überkam es ihn. Das Rauschen von Macht. Ihm wurde heiß und kalt und er wusste, er hatte einen Schatz gefunden. Nur hatte er nicht gewusst, dass man solch einen Schatz behalten und beschützen musste und ihn nicht einfach in fremde Hände gab.

      Mit einer Routine, die er nicht empfand, machte er die Papiere für die Ausreise fertig. Gewaschen und richtig eingekleidet nahm er sie mit nach Deutschland. Er meldete sie an, übergab sie und erhielt seinen Lohn. Wie immer. Doch es war nicht wie immer. Er konnte sie nicht vergessen. Ihr Lachen und Strahlen verfolgte ihn, das Gefühl ihrer kleinen, warmen Hand in seiner.

      Heinrich konnte sie nicht vergessen und es war ihm zum ersten Mal nicht egal, was mit ihr passierte. Er versuchte es, zu verdrängen und ihre Augen mit Alkohol aus seinem Herzen zu spülen. Doch es wurde immer schlimmer, bis er es nicht mehr aushielt.

      …

       Deutschland, Walldürn, Herbst 1985

      Heinrich wusste jetzt, wo sie die Kinder hinbrachten. Eine geheime Einrichtung in der Nähe von Walldürn im Odenwald. Es war eine kleine Anlage, nicht weit von der dort stationierten Kaserne. Die Verpflegung des Personals ging über die Kaserne. 80 Prozent der Angestellten dort, Offiziere und Ausbilder, waren Brüder vom Orden. Es wurde auch als einer der vielversprechendsten Rekrutierungsquelle des Ordens gehandelt. Junge Männer im Geiste noch nicht gefestigt und auf der Suche nach Abenteuer, Ruhm, Ehre und offen für die Mystik des Ordens.

      Einige der Ordensbrüder arbeiteten in beiden Einrichtungen. Wenige waren nur im Geheimlabor tätig. Heinrich hatte die Anlage erst nach tagelanger Beobachtung ausfindig machen können. Brüder fuhren in Zivil zu der Einrichtung. Einige joggten hin, verschwanden tief im Waldickicht. Der Eingang war ein unscheinbares Loch, als Abwasserkanal getarnt. Heinrich hatte gewartet, bis die Ablösung hineinging und der Abgelöste herauskam. Dann hatte er sich durch den betonierten Kanal geschlichen. So leise er auch ging, hallten seine Schritte doch durch den Hohlraum. Nervös blickte er sich um. Das bisschen Tageslicht, das noch geblieben war, reichte nicht weit hinein und Heinrich war gezwungen seine Taschenlampe auszupacken. Der kleine Leuchtkegel führte ihn zu einer uralten Holztür, die so schief hing, dass sie niemanden aufhalten konnte.

      Nach weitern 500 Metern, wurden der Zement von Eisengerüsten abgelöst und ein Stahltor versperrte Heinrich den Weg. Ein Kartenleser war links an der Wand angebracht. Er löschte

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