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er denn keine Zeitung?

      Nicht mehr!

      Na-ja, die Vereinigung der regionalen Buchhändler veranstaltet doch seit ein paar Jahren eine sehr erfolgreiche Lesereihe an historischen Orten der Harzregion, nie gehört? Dieses Jahr zum vierten Mal, daher "Harz Vier"; davor hatte die Veranstaltung in Osterode, dann Claustal und voriges Jahr in Hahnenklee stattgefunden.

      "Und dieses Jahr haben wir die eben hier."

      Nachts hatte Cameo sein Zelt verlassen und war Pinkeln gegangen. Es hatte derart pechschwarze Dunkelheit geherrscht, dass er die anderen Zelte nicht sehen, nicht die Begrenzung des Bruchs auch nur erahnen konnte. Ein paar Fledermäuse waren in unheimlicher Nähe an seinem Kopf vorbeigeschwirrt, er war über eine der Zeltleinen wie über eine Fußangel gestolpert, hatte fröstelnd gegen etwas aus Holz gepisst, schlug sich im Ekelrausch eine fühlbar große Spinne, die (keine Ahnung) von einem Baum gestürzt, womöglich gesprungen war oder an einem Faden von einem Ast hing, aus dem Gesicht.

      Cameo hatte augenblicklich beschlossen, sich hier unbehaust, beengt, eben unwohl zu fühlen, an diesem Ort, den er bislang nur bei Nacht kannte.

      Am Morgen fror er noch immer, als er mit nackten Füßen durch Gras gestapft war, das vom kühlen Tau ? was gab's dafür überhaupt für ein Wort? -..."quitschte" oder "quatschte"?

      Er beschloss, am Montag aus diesem düsteren, kalten Inferno... (war das nicht paradox: ein kaltes Inferno?) Na-ja: eben aus diesem düsteren, feucht-kalten, unwirtlichen Höllenschlund, nein auch nicht... aus dem schaurigen, abweisenden Angst-Ort zurückzuziehen an den hellen, freundlichen, sonnenbeschienenen Platz: in das Paradiso. Mit besagtem Ergebnis.

      Bald stellte er zudem fest, dass hier die Stimme nicht weit trug, dass dieser enge, düstere Ort nicht nur die Gedanken einschnürte, sondern auch die Stimme fraß.

      Er würde hier, paradox, am viel engräumigeren Ort, ein Mikrophon brauchen. Insofern die Frauenband VierTussimo, die tagsüber ein kabarettistisches Programm aus alten Songs der Commedian Harmonists, Georg Kreisler-Chansons und eigenen Stücken zum Besten gab, ein elektrisch verstärktes Klavier und einen Verstärker nutzte, den eine Autobatterie speiste (und, für alle Fälle) auch über Mikros verfügte, war die Verstärkung seiner Sprechstimme kein Problem.

      Nur, dass (wie nachmittags ein erster Lesetest ergab) die elektronische Verstärkung einen merkwürdigen Hall- und Zerreffekt erzeugte. Warum fiel an einem engeren Ort wie diesem ausgerechnet der Amphitheater-Effekt weg?

      Äußerst störend machten sich bereits am frühen Nachmittag die Geräusche des Soundchecks der schlagerfestiven Nachbar- ... oder sollte er sagen: Gegenveranstaltung? bemerkbar.

      Er musste früher anfangen; denn wenn abends der überverstärkte, aufgeblähte Dummschmalz herüber quoll, würde er kein Wort mehr über die Lippen bringen. Man würde ihn auch wohl weder verstehen, noch würde man konzentriert zuhören können.

      Wie konnte Fetty, mit dem er damals in der Siebzigern des letzten Jahrtausends bei Hammock immerhin an Wishbone Ash, gelegentlich an Procol Harum erinnernden Rock gespielt hatte, heute so einen kulturellen Dünnschiss veranstalten!? Fetty, der vor zwanzig Jahren als Student am Wochenende in der Einkaufspassage sein Soloprogramm aus Hannes Wader-Frühbürgerliedern und Dylan-Songs präsentierte! Der auf dem Marktplatz an einem Stand des Kommunistischen Bundes Mitglieder geworben und selbst in seiner (auch vom politischen Alltag) freien Zeit schon wenigstens Supertramp oder Level 42 gehört hatte!

      Was war plötzlich mit dem Menschen los?

      Wozu muss man eine Familie und Kinder durchbringen, wenn man ihnen, nur weil man sie ernähren musste, für später nicht mehr hinterlässt als eine verlogene, verhunzte Lebens- und Musikkultur?

      Sein Opa hatte ihm, Cameo, mit brechender Stimme zwar und gezeichnet von der zunehmenden Dumpfheit einer merklich nachlassenden Geistesschärfe (indes umso mehr glanzäugig begeistert) von Konzerten der Chöre und Sängerbünde der Region berichtet. Von Treffen der Wandervogelvereine, von Frei-Gottesdiensten der Kirchengemeinden, von Pogromen gegen das verlauste Zigeunerpack.

      Da hatte sein Vater sich eingemischt: das mit den Zigeunern seien Märchen. Das fahrenden Volk hätte zwar nicht in die Stadt gedurft, aber man habe sie hier in Ruhe gelassen.

      Er erzählte im gleichen Zusammenhang an anderer Stelle, dass die Nazis den Ort solange für Kundgebungen genutzt hatten, bis er erheblich zu eng geworden war für die anströmenden Volksmassen. Danach hätten sie jedoch öfter noch im Taternbruch mit dem Jungvolk, der Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädchen Lagerfeuer veranstaltet. Im großen Bruch, wohlgemerkt, dem Paradiso, nicht im Inferno!

      Heute tagte an diesem Ort regelmäßig einmal im Jahr der Geschichtsverein und feierten hin und wieder Industriebonzen ihre Geburtstage.

      Nach einigem Hin und Her hatten Cameo und die anderen sich schließlich doch entscheiden müssen, die Erzählungen auf den Abend zu legen. Zumal einige der Anwesenden das schöne Wetter für Ausflüge zu nutzen gedachten. Außerdem sorge der Abend, die einbrechende Dunkelheit, doch Ambiente-mäßig, glaubte man, eher für die entsprechende Stimmung, die derartige Geschichten brauchen ? Schlagerfestival hin oder her.

      In das von Cameo an der Theke ausgelegte, aus selbstgeschöpftem Papier selbstgemachte Gästebuch hatten sich gestern Nacht eingetragen: Ulli, Pi, Di, Gabi, Benni, Taucher, Sonni, Berni, Rossi, Li, Puddle, Ulle. Heute Morgen noch: Gerdi, Berti, Ki, Bi, Grüni, Rafe, Günni, Olli und Caro. Toto hinterließ nie und nirgends seinen Namen. Der Verfassungsschutz hörte ihn ab, das wusste er verlässlich. Auch, dass er auf der schwarzen Liste der Staatsfeinde stand.

      Rossi und Sonni hatten den Vorschlag gemacht, als Scharazad und Dinarasad die Erzählungen mit der Formel zu eröffnen: "Wenn du noch nicht müde bist, Schwester, erzähl uns doch bitte eine deiner spannenden Geschichten..." Am Ende sollte es immer heißen: "Da erreichte das Morgengrauen Scharazad und sie sprach zu ihrer Schwester: wenn der Herrscher ihrer nicht überdrüssig sei und sie am Leben ließe, werde sie die Geschichte morgen fortsetzen und beenden." Cameo hielt das für keine gute Idee. Er wolle vor allem nicht auf den Effekt von Cliffhängern setzen! Die Leute sollen morgen freiwillig für eine neue Erzählung wiederkommen, nicht, weil sie noch das Ende einer alten hören mussten!

      Nach Einbruch der Dunkelheit trägt nun also Cameo seinen zweiten Text vor, untermalt von den herüberwabernden Klängen "forciert fröhlicher Feiermusik falscher Gefühle". So hatte er die in einer kurzen Einleitung zum zweiten Literaturabend genannt...

      Selbstinitiation

       Wie er damals man wurde

      Als er klein war, war er abends Riese, nach den verlorenen Kämpfen des Tages. Er holte den Karton mit den genau dreiundneunzig kleinen Plastiksoldaten aus dem Schrank, setzte die Figuren auf die Gäule. Kurze gegenseitige Kriegserklärungen der beiden verfeindeten Armeen, keine Friedensverhandlungen, es werden keine Gefangenen gemacht!

      Worüber sie in Streit geraten waren, wusste später niemand mehr.

      Er warf Radiergummis in die Menge und schoss mit einem über Daumen und Zeigefinger gespannten Gummiband Papierbomben auf die Reiter, zuerst die Anführer.

      Die Bomben: die vermasselte Lateinarbeit mit der großen roten "6" darunter in schmale Streifen geschnitten, die er zusammenrollte, in der Mitte knickte und auf das Gummi legte. Dann zog er an, zielte und schoss.

      Wurde ein Anführer getroffen, der daraufhin rücklings vom Pferd stürzte, unterwarf sich der demoralisierte Rest ihm, Ludewig, dem Herrn über Leben und Tod, augenblicklich.

      Nachmittags aber im Wald Kröten aufblasen, kleinere Jungs quälen, Mädchen ärgern und Feuer legen, was andere gemacht haben ? bei diesen Übungen, wie man man wird, war er nie dabei. Und ebenso: später, bei diesem legendären Anschlag, als der Briefkasten hochging von Kikero (das war der Spitzname des Lateinpaukers, den der sich eingehandelt hatte, als er plötzlich Cicero nur noch mit K aussprach)... Da glaubten sie alle sicher zu wissen, Lutz sei das gewesen mit der Bombe. Aber es war Ringo. Die Sprengladung bestand aus vielleicht

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