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oder der Olle von Ringo, der bei der SS gewesen war und das EK1 trug, weil er, wie er erzählte, eine russische Familie aus einem brennenden Haus gerettet hatte. Veteranen, die mit rotem Kopf anfingen zu brüllen: Man soll doch jetzt endlich mal aufhören mit den Verdächtigungen und der Verfolgung Unschuldiger. Was hätte denn schon ein einzelner kleiner Landser ausrichten können, hä? Und was, bitteschön, war das Verbrechen einer deutschen Mutter, die schließlich nur ihre fünf Panzen... Nein, seine Omma fing an zu weinen und sagte, man muss zusehen, dass so was nie wieder passiert!

      *

      Welches Recht, dachte Lutz, hatte er eigentlich, Omma moralisch unter Druck zu setzen? Sie hatte jedenfalls, was er zumindest als sicher annahm, nie einen Menschen getötet.

      Hatte er getötet? Absichtlich?

      Eine Kugel kam geflogen, galt sie mir, galt sie dir? Er hätte nie geglaubt, dass er den Typ auf die Entfernung trifft. Nie und nimmer!

      Die Geschichte hatte Lutz nicht einmal seinem besten Freund Ringo anvertraut.

      Auch nicht, wie es mit Omma zuende gegangen war. Nur einer wusste es.

      Er hatte ausgerechnet Axel ins Vertrauen gezogen. Er hielt Axel als einzigen für moralisch geeignet, weil der einmal, als ein Mädchen aus der Parallelklasse schwer mit dem Rad gestürzt war, gehofft hatte, dass die Kuh stirbt. Weil es dann immer einen Tag Schulfrei gab. Sie hatten blutende Handflächen gegeneinander gepresst und Axel hatte geschworen, die Geschichte von dem Anschlag auf dem Schützenplatz und die näheren Umstände des Todes von Omma niemand anderem zu erzählen.

      Axel hatte lange Zeit das Versprechen gehalten.

      *

      Seinen Eltern, die den ganzen Tag schwer arbeiteten und abends gestresst nach Hause kamen, wurde Omma immer mehr zur Last. Wenn sie das Wohnzimmer betraten, hatte Omma von deren Geld Unmengen Kuchen eingekauft, Kaffee gekocht ("labbrige Plörre", maulte sein Vater, "Boden-seh-Wasser" seine Mutter), den Tisch mit Blumen dekoriert (die Kerzen waren mittlerweile heruntergebrannt), für zwanzig Leute gedeckt.

      "Was ist das denn!"

      "Aber du hast doch heute Geburtstag?"

      "Nein, ich hatte im November, verdammt noch eins! Und wozu, bitteschön, brauchen wir einen riesen Pott Pellkartoffeln, wo die ganze Sechste Armee den Winterkrieg mit überstanden hätte!"

      Dem Kater hatte sie den Kopf in der Haustür gequetscht. Schwerhörig wie sie war, hatte sie sein Kreischen vielleicht nicht gehört oder sich jedenfalls nicht erklären können, dass der Kater schrie, nur weil die Tür klemmte. Seither sah er aus wie Jürgen von Manger.

      Für die Nachbarn wurde Omma zunehmend lächerlich, wenn sie nachlässig gekleidet, mit verrutschtem Haarteil oder völlig zerzaust, das schlecht sitzende, pralle Kostüm links herum an (und natürlich hinten kaum geschlossen, da sie nicht an die Knöpfe kam), die Straße entlang wackelte.

      Wenn sie die Leute, die tuschelnd an den Gartenzäunen standen, nicht mehr erkannte und verwirrt fragte, wo sie zu Hause sei oder ob sie ihren Hausschlüssel gefunden hätten. Oder wenn sie mit Harke, Schaufel und einem riesigen zerbeulten Eimer aufbrach, um die Gräber ihrer toten Familie zu pflegen, die sie vor vielen Jahren auf dem Storbecker Friedhof hundert Kilometer entfernt beerdigt hatte.

      Natürlich konnte keiner ihr vertrauen. Auch Lutz nicht, der morgens in der Schule war. Eine verdatterte alte Frau ist eine permanente Gefahr... für sich und andere: der Gasherd, der Elektroboiler, der Kohleofen; "Messer, Gabel, Schere, Licht". Die plötzliche Anwendbarkeit ihrer vormaligen Lieblingsverbote für ihn auf sie selbst fand er traurig paradox.

      Ihre Augen machten nicht mehr mit, sagte sie, sie konnte die Fäden nicht in die Nadelöhre kriegen. Jetzt nähte sie nicht einmal mehr mit der Hand.

      Seit man die Kontakte im Stecker des Bügeleisens gelockert, den Haupthahn hinterm Gasherd abgedreht und das Kabel der Waschmaschine aus der Steckdose gezogen und in der Rückverkleidung versteckt hatte, funktionierten auch die anderen Geräte aus unerfindlichen Gründen auf einmal nicht mehr. Die materielle Gebrauchswelt um sie herum, die Omma bald ein dreiviertel Jahrhundert lang perfekt befehligt hatte, gehorchte ihr nicht mehr. Auch die Maschinen hatten sich nun gegen sie verschworen.

      Zweimal hatte sie wenig später versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Bei Altersdepressionen hilft Tolvin.

      Nach ihrem zweiten Schlaganfall wurde sie bettlägerig. Sie lag fiebernd, mit glühender Stirn da, meist schlief sie. Da sie ihre Zahnprothese nicht mehr einsetzen konnte, wirkten ihre sonst gesund geröteten, runden Wangen fahl und eingefallen.

      Ohne ihre Zähne konnte Lutz aber nicht verstehen, was sie murmelte. Er erkannte sie auch nicht als seine Omma wieder; sie war ihm fremd geworden.

      Dann reagierte sie überhaupt nicht mehr. Er wusste nicht, ob sie ihn hörte und ob sie wirklich etwas sagen wollte, wenn sie durch ihre gelähmten Lippen stammelte und mit fiebrig-glasigen Augen durch ihn hindurchstierte.

      Als ein Bekannter seiner Eltern eine Arie sang, in der es um Jugend und Liebe ging, sah er eine Träne in ihrem Auge; und als das Lied vorbei war, erhoben sich zwei dünne, gebrechliche Ärmchen aus ihrem Bett und klatschten schwach, fast unhörbar Beifall.

      Der Gedanke, dass sie alles aufnahm und mitbekam, aber nichts mehr aus ihr herauskonnte, dass sie nicht mitzuteilen imstande war, ob sie Angst oder Schmerzen hatte, ob sie Trauer empfand oder auf ihren Tod hoffte, war ihm unheimlich. So unheimlich, dass Lutz jetzt immer öfter ihr Zimmer mied.

      Er steht nachts einige Male mit einem Kissen neben Ommas Bett und denkt, dass es in zehn Minuten vorbei wäre. Aber er hat die Befürchtung, ihren Todeskampf unter seinen Händen zu spüren. Er weiß, dass seine Mutter Omma täglich Insulin spritzt. Wenn man zu viel davon kriegt, stirbt man. Er findet die Spritzen und Ampullen im Medizinschränkchen im Bad.

      Als am nächsten Tag Mittags Ommas Bett leer ist, spürt Lutz Erleichterung. Die fremde, siechende alte Frau hat sie verlassen.

      Erst als sie Tage später unter Blumen in einer massiven, fest verschlossenen Eichenkiste lag, wuchs die Person, die man nun gleich hinaustragen und für immer, für ihn unerreichbar, verscharren würde, vor seinem inneren Auge wieder zu seiner Oma zusammen, so wie er sie kannte, wie er sie gemocht hatte.

      Da kommt Omma ein letztes Mal O-beinig und milde lächelnd auf ihn zu, nimmt seine Hand und sagt:

      "Du musst dich mal wieder um deine Patrizia kümmern. Sonst war doch alles umsonst."

      Nein, umsonst war das alles nicht gewesen. Er hatte sich wie ein richtiger Mann verhalten. Vielleicht wäre sein Vater stolz auf ihn, wenn er's wüsste. Aber einer seiner besten Freunde aus dem Gesangsverein war der Leiter der Mordkommission, Bollmann; wenn die was zusammen saufen, verplappert sein Oller sich vielleicht.

      Viel später fand Lutz in Ommas altem Kleiderschrank im Keller, zwischen alten Briefen und Fotos von ihr, seinen Kasten mit den Stahlkugeln und die Präzisionsschleuder.

      Erst als Lutz sich vor einigen Jahren auf die Schienen der Bahnstrecke legt und sich in drei Teile zerfahren lässt (ach was: in sechs) ? nur weil diese dumme Pute, wie hieß sie doch? Patrizia (heute heißt sie Kelly und wohnt mit so'nem ollen Spießer, der über zwanzig Jahre älter ist als sie, am Rhein), nur weil die ihn also verlassen hatte ? obwohl Axel und Lutz sich vor Urzeiten heilig geschworen hatten: sie werden allein durch die Hand eines Feindes sterben! Da beschloss Axel, die Geschichte von Lutz zu erzählen. Und das auch nur seinem besten Freund Ringo. Das war Axel Lutz, glaubte er, trotz allem immer noch schuldig. Obgleich sie ja eigentlich, jetzt mindestens, quitt waren!

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