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Steiff-Katze noch im Arm, auf der Wange spürt er die kalte Spucke, die aus seinem Mundwinkel in ihr Fell getropft war, wirft sie durch das Spinnennetz auf dem Kleiderschrank. Er wird sie nie wieder zwischen den ekligen Staubflusen dort oben hervorholen. Er wird auch nicht länger die aus den Sexheften von Axels großem Bruder herausgerissenen Blätter aufbewahren: nackte, dicke und faltige alte Frauen, die ihre Slips auf die Schenkel gezogen, die Zunge lasziv in den Mundwinkel geschoben hatten und ihn auffordernd anglotzten. Er zieht sie unter dem Teppich hervor, steckt sie in einen großen Briefumschlag, den er zuklebt und in den Papierkorb knüllt.

      Aus seinem Versteck unter dem Bett zerrt er die Jeans hervor, die Ringo zu eng geworden war. Seine Mutter durfte sie nicht sehen. "Ich steige einfach aus dem Kellerfenster!" ist sein erster Gedanke.

      Dann entscheidet er, so vor seine Alten zu treten: die enge, an den Knien abgeschabte Hose, das etwas gelblich verblasste aber taillierte Nyltesthemd.

      Dazu die schwarze Marshall-Schleife, wie Wyatt Earp sie trug. Er hatte dafür die Schnürsenkel aus seinen Turnschuhen gezogen und zusammengeknotet. Wenn es heute wieder Ärger gibt, seh'n die mich nie wieder!

      *

      Lutz hatte es nicht sofort gemerkt, nur manchmal fragte Omma ihn merkwürdige Dinge. Schon morgens machte sie ihm Brot für die Arbeit. Er war aber erst vierzehn und ging zur Schule. Unterhielten sie sich abends in ihren Zimmer, fragte sie beispielsweise, ob er sich noch an ihre Hochzeit erinnern könne oder ob ihre Eltern (also seine) bald heiraten. Die Herstellung der richtigen zeitlichen Bezüge und familiären Zusammenhänge war ein hartes Stück Überzeugungsarbeit, für das er sich anfangs noch die Zeit nahm.

      "Omma, denk doch mal nach: deine Hochzeit war schätzungsweise 1925, also 26 Jahre vor meiner Geburt. Daran kann ich mich unmöglich erinnern! Und meine Eltern sind nicht deine Eltern. Meine Mutter ist deine Tochter, und mein Vater ist dein Schwiegersohn. Du bist vielleicht 1910 geboren und ich 1951. Wir können also nie und nimmer Geschwister sein!"

      Seine Erklärungen wurden mit einem eher ungläubigem "meinst'e wirklich?" kommentiert. Oder mit einem nur Verständnis heuchelnden "ach was, is' ja interessant!"

      Sie sah ihm dabei auf die Schuhe oder mit stumpfen Augen durch ihn hindurch. War er aus dem Zimmer, hörte er sie leise zu sich sprechen: "Die glauben, sie können ihre alte Omma verklapsen. Die woll'n mich alle verrückt machen!"

      Ein andermal rief sie ihn leise zu sich. Sie stand verwirrt, mit zerzaustem Haar, in ihrem Zimmer, hatte ein leeres, offenes Portemonnaie in der Hand. Sie sprach ganz sanft und verständnisvoll:

      "Lutz, du weißt doch, dass du alles von mir haben kannst, du

      brauchst mich nur zu fragen!"

      "Ja, klar, Omma!" (Er verstand nicht recht... )

      "Warum klaust du mir mein Geld?"

      Er ahnte, dass es völlig gleichgültig war, was er antworten würde. Die Ausweglosigkeit seiner Lage machte ihn wütend, er maulte nur "ach, Quatsch!" und ließ sie stehen.

      Danach sprach sie auch mit ihm für lange Zeit nicht mehr. Viel später, nach ihrem Tod, fanden sie Geldscheine zwischen ihrer Wäsche im Vertiko versteckt.

      *

      Er konnte Patrizia nur am Bus abfangen. Mit zitternder Stimme hatte er sie für nach der Schule in die Milchbar am Alten Stadttor eingeladen. Sie hatte nicht geantwortet, nur gelächelt, dabei die Hand vor den Mund gehalten und genickt.

      Um halb zwei hocken sie auf unbequemen, kleinen kalten Metallstühlen mit tiefer Sitzfläche und steif steiler Rückenlehne. Er hatte stotternd für sie einen Espresso bestellt, sich selbst ein Fürst Pückler mit Sahne.

      Als er von der Toilette kommt, wo er seine Frisur und den Sitz der Schleife kontrollieren musste, sitzt einer der Kellner neben ihr am Tisch. Auf seinem Stuhl!

      Sie lachen beide. Später wird der ihr noch zwei Espresso auf Rechnung des Hauses bringen, wobei er sie anlächelt, ihn hingegen ignoriert. Selbst als er zahlt (zwanzig Pfennig Trinkgeld immerhin!).

      Auch sie sieht jetzt nicht mehr zu ihm herüber, grinst hin und wieder verstohlen in Richtung Theke.

      Er weiß nicht, worüber er reden soll, drückt "Satisfaction" in der Music-Box.

      Vor der Tür verabschiedet sie sich eilig und kühl, "muss Hausaufgaben machen", wendet sich ab und rennt los: "krieg' den Bus sonst nicht mehr!"

      Er war mit dem Rad zum Bauernhof seines Onkels in Hanndorf gefahren, um die Tiere zu besuchen. Auch sie sahen deprimiert aus. Er füttert den einsamen Esel mit seinem Schulbrot, der dankbar den Kopf gegen den Maschendraht presst, geht mit sanftem Rotieren des Bauches dem angenehm warmen Druck entgegen.

      Omma überrascht Lutz abends mit seiner Jeans. Die Nietenhose, wie sie sagt, die er vorgestern in die Wäsche getan hatte und die heute, wie er hoffte, rechtzeitig zum Cola-Ball trocken war, lag abends um sieben der Länge nach aufgetrennt über den runden Wohnzimmertisch ausgebreitet.

      "Aber du wolltest doch, dass ich das Ding weiter mache!"

      Natürlich wollte er die Hose, die er extra eine Nummer zu klein gekauft hatte, mit der er sich danach in die Badewanne gesetzt, deren Knie er mit Imi weißgeschrubbt und die er schließlich am Körper hatte trocknen lassen, damit sie wie angegossen saß, "eng wie 'ne Wurstpelle", nicht wieder weit haben:

      "Du hast geglaubt, dass ich sie weiter haben wollen müsste, weil sie dir so nicht gefällt!"

      Omma überaschte ihn oft mit selbstgenähten Hosen, die zu kurz, zu weit, auf jeden Fall irgendwie unmodern waren. Mit langen, aus hässlich schreienden Farben gestrickten Schals, die ? zusammen mit Hemden, die sie billig bei Woolworth erstand, altmodischen Strickjacken, Golfer-Pullovern mit knalligen Rauten-Mustern und elektrisch aufladbaren Polyester-Mänteln der verstorbenen Gatten ihrer Freundinnen ? im blauen Plastiksack für die Altkleidersammlung der Diakonie verschwanden, nachdem Lutz die Sachen zwei-, dreimal zum Schein getragen hatte.

      Er schämte sich; schließlich wusste er, dass sie Tage und Nächte damit verbracht hatte, die Kleidungsstücke auf die Größe eines Vierzehnjährigen umzuändern. Er vertraute ebenso auf ihre (durch die Alzheimersche Krankheit verstärkte und ohnehin für ihr Alter übliche) nachlassende Erinnerungskraft, wie auf die Gültigkeit des Sprichworts "Aus den Augen, aus dem Sinn".

      Er wusste es beim besten Willen nicht mehr, möglicherweise steckte Sabotage dahinter, vermutlich handelte es sich aber nur um Materialermüdung aufgrund unablässiger Benutzung; jedenfalls war niemand wirklich traurig und schon gar nicht sonderlich hilfsbereit, als ihre Nähmaschine irgendwann nicht mehr funktionierte.

      "Och, Omma, das alte Schittding repariert dir keiner mehr!"

      Sie nähte unbeeindruckt mit der Hand weiter; und da ihr das Entwerfen, Zeichnen, Ausschneiden und Zusammennähen ganzer Hosen, Hemden oder Jacken einfach nicht mehr gelingen wollte, verlegte sie sich aufs Kürzen oder Verlängern der Hosenbeine und Ärmel bereits vorhandener Objekte.

      Es tat ihm entsetzlich leid, aber er fing nun an, seine Wäsche zu verstecken, selbst zu waschen, aufzuhängen, nicht aus den Augen zu lassen, bis sie trocken war, sie abzuhängen und wieder zu verstecken.

      Zum Ändern gab er ihr abgelegte Hosen, die Omma zu Shorts umarbeitete, bevor sie in die Sammlung kamen, alte Jacken und Mäntel, die sie wendete, also auf links umnähte. So hatte sie im und nach dem Krieg aus Uniformstoffen Kleidung für ihre drei Kinder gemacht; sie säumte Taschentücher ein, obwohl man längst Tempos benutzte, und stopfte Strümpfe, die keiner mehr trug.

      Alle waren erleichtert, als irgendwann ihr kleiner Fernseher nachmittags schon quäkte. Omma hatte keine Lust mehr zu nähen.

      *

      Eines Abends, an einem Freitag, das wusste Lutz noch, sieht er Patrizia wieder. Auf dem dunklen Weg vom Schützenplatz zum Alten Stadttor. Lachend an einen Baum gelehnt.

      Einer dieser brutal und dumm aussehenden, tätowierten Kartenabreißer beugt sich über sie, küßt sie, drückt

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