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Menschenlos. Wolfgang Dahlke
Читать онлайн.Название Menschenlos
Год выпуска 0
isbn 9783847687252
Автор произведения Wolfgang Dahlke
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Die Typen kann er ab! Die immer hinter dem Wagen, in dem ein einsames Mädchen sitzt, freihändig zwei, drei Runden auf der schräg rotierenden Platte mitfahren, manchmal auch souverän auf dem Rand der Gondel hocken ? anscheinend ohne überhaupt von ihr die geringste Notiz zu nehmen. Die dann wagemutig an der Kasse abspringen, sich dort von einer ganzen Gruppe giggelnder Gören auffangen lassen!
Er drückte sich rückwärts durch die Büsche, wollte nicht seine schmerzliche Niederlage dadurch komplett machen, dass sie ihn sah. Dass er wie ein Spanner dastand.
In der Montagsausgabe würde es wohl noch nicht stehen. Die Redaktion der Lokalzeitung reagiert meist nicht auf Ereignisse, die sich am Vorabend nach acht zugetragen haben.
Wenn sie es überhaupt brachten!
Er war gespannt.
Er hatte lange nach ihm gesucht. Dann sah er ihn, als Chip-Kassierer an der Berg- und Talbahn. Natürlich fuhr er freihändig mit, manchmal eine ganze Tour, und selbstverständlich sprang er in voller Fahrt an der Kasse ab. Ob Patrizia im Wagen saß, konnte er nicht sehen.
"Tragischer Unfall überschattete die letzten Stunden des diesjährigen Schützenfestes".
Der Lokalteil lag offen auf dem Küchentisch. Weiter las er nicht, schmierte sich stattdessen ein Brot. Das Wort "tragisch", das sie in solchen Zusammenhängen regelmäßig benutzten, störte ihn auch jetzt wieder. Besonders jetzt! Aus dem Deutschunterricht wusste er, dass ein unausweichlicher Konflikt, den Helden griechischer Tragödien durchlebten, ehe sie ihrem unentrinnbaren Schicksal in die Augen sahen und bevor das Publikum in der Katharsis durch Angst und Schrecken geläutert wurde, als "tragisch" bezeichnet werden konnte. Ein Unfall jedenfalls nicht.
Und dieser schon gar nicht!
Ob er nichts mitbekommen hat, er war doch auch da. Nein, was denn? Seine Mutter las ihm aus der Zeitung vor. Da stand, dass ein junger Mann von der Berg- und Talbahn gestürzt und auf dem Weg ins Krankenhaus seinen schweren Verletzungen erlegen war.
Lutz dreht sich um, seine Wangen brennen vor Erregung. Er lässt es dann einmal kurz und triumphierend herausplatzen: "yea!", allerdings leise genug, dass sie es nicht hört, ballt energisch die Faust in der Hosentasche.
Also doch! Er hört nicht weiter zu, sieht jetzt die Szene wieder vor sich: Er hatte sich unter einem der Wohnwagen gegenüber vom Karussell in Stellung gelegt, sah von hier das Gesicht seines Konkurrenten immer an der gleichen Stelle auftauchen; über den anderen, weil er ja stand.
Er merkte sich die exakte Position: etwas links unterhalb des "A" von ...bahn. Einen Fehlversuch hatte er nur gehabt.
Dann greift sich der Typ plötzlich ins Gesicht, kommt irgendwie ins Rutschen, verschwindet zur Seite und muss dann nach vorne von der in voller Fahrt rotierenden Platte geschleudert worden sein. Das konnte Lutz nicht mehr sehen, es standen zu viele Leute um das Karussell. Außerdem war er danach sofort hinten unter dem Wagen hervorgekrochen, zum Toilettenhäuschen gerannt, wo er sein Fahrrad angeschlossen hatte, und nach Hause gefahren.
*
Sein Vater war ungeheuer wütend. Enttäuscht war er. Jawohl!
Das muss man sich mal vorstellen: der Kerl verheimlicht uns seine "6" in der Lateinarbeit. Sein Lehrer hatte im Betrieb angerufen.
Heute Abend gab's jedenfalls kein Fernsehen! Und ab ins Bett, sofort!
Ach übrigens, so'n Mädchen hätte auch angerufen, Gitte, Ina oder Gerda oder so, und sich nach ihm erkundigt. Seine Mutter rief es ihm nach. Da war er schon auf dem Weg in sein Zimmer.
"Gila!" schnaubte er leise. Wie schwer was es, sich Namen zu merken, die ihm wichtig waren?!
Patrizia wollte er aber erst einmal 'ne ganze Weile schmoren lassen. Überhaupt hatte er jetzt unheimlich viel Zeit und Geduld, wo alles in Ordnung war.
Er ritt allein über die endlose Prärie.
Der Barkeeper wollte ihm erst kein Wasser für sein Pferd geben, das er vorm Saloon festgebunden hatte.
Jetzt verlangt er eine indiskutabel überhöhte Phantasiesumme für das schlecht eingeschenkte Glas Cola-Rum, das er ihm mürrisch 'rübergeschoben hat.
Kurze Bewegung aus der Hüfte, zwei, drei gezielte Schüsse; schreiend bricht Kikero hinter der Theke zusammen. Dann erst sieht Lutz nach, ob die Präzisionsschleuder und die Packung Stahlkugeln noch unter der Matratze liegen.
*
Sie waren nicht mehr dagewesen!
Lutz ging auf keine Cola-Bälle mehr, wo die Mädchen rechts, die Jungs links saßen und alle auf Kommando auf die Mädchenbank zustürmten. Alle hatten immer Patrizia gekriegt und er musste mit der Dicken tanzen. Er sah auch nicht mehr mit seinen Alten fern. Er saß bei Omma.
Wie alte Menschen mit dem nahen Tod fertig werden, interessierte ihn sehr. Er wollte immer und immer wieder wissen, ob Omma Angst hatte vorm Sterben.
Nein, Angst vorm Tod hatte sie nicht, im Gegenteil, sie verband damit die Hoffnung, alle wiederzusehen: ihr gestorbenes Kind, ihren Mann, ihre Schwester, ihre Eltern.
"Also glaubst du an den Himmel?"
Nein, daran glaubte sie nicht eigentlich, auch nicht an Gott. "Alles Märchen!"
Ja, aber worauf sie denn sonst hoffe! Er wurde ungeduldig: "Ich meine, du musst dich doch mal entscheiden: entweder du glaubst an Gott, den Himmel, das ewige Leben, dann ist es, zumindest deinem Glauben nach, möglich, dass du sie alle wiedersiehst. Oder du glaubst nicht daran, dann wäre es deinem Glauben gemäß sehr unwahrscheinlich!"
Oder Lutz sagte beispielsweise: "Es gibt keinen größeren Widerspruch als den zwischen dem ewigen Tod und dem ewigen Leben. Ich würde an deiner Stelle wissen wollen, was nun wahr ist."
Sie wollte es weiter so halten, dass sie mal dies, mal jenes glaubte.
Lutz selbst hatte schon vor der Konfirmation aufgehört, an Gott zu glauben, hatte eines abends beim Beten die Hände wütend auseinandergerissen und gebrüllt: "Quatsch, ich laber' doch nicht ständig mit einem, den es gar nicht gibt!"
Danach wurde aus dem Versprechen des Ewigen Lebens die Bedrohung des unendlichen Todes. Manchmal, wenn er in Gedanken auf dem Zeitpfad entlangfuhr, den er sich vorstellte wie einen Lichtstrahl, aus dem Unendlichen kommend, ins Unendliche gehend, und wenn dieser sich immer tiefer ins schwarze Nichts bohrte, dann schrie er in Panik "nein, nein!" und machte Licht.
Langsam wich die Verzweiflung aus dem "Nie, nie wieder!", das er wie ein Mantra der äußersten Verzweiflung so lange vor sich hergebetet hatte, bis die Angst vor der Unendlichkeit endlich da war und, wie ihr Inhalt: das All selbst, bis ins Unermessliche wuchs. Dann rief er: "Lieber Gott, hilf mir!" ? und die Angst ging vorbei.
Später, als Gott merkte, dass Lutz gar nicht an ihn glaubte, half er nicht mehr. Da hätte er gern wenigstens diesen unehrlichen, brüchigen Halbglauben seiner Oma gehabt, sozusagen nur für die paar Male, wo man ihn brauchte.
So ähnlich hatte, fand er, Ommas Generation alles verarbeitet: Dem unbeirrbaren Glauben an den Endsieg folgte schließlich doch die Niederlage; erst danach, als er verloren war, war der Krieg schlecht, der Führer böse, Göbbels ein Demagoge und der Rest dumm gewesen. Er konnte nicht verstehen, wie Leute, die die ganze Welt erobern wollten, wenig später damit zufrieden sein konnten, die alte, jetzt kaputte und geteilte, die sie einst, weil sie ihnen zu mickrig war, aufgegeben hatten, wenigstens halbwegs wieder aufzubauen.
Wie sie mit der Judenvernichtung fertig wurden, von der man nichts gewusst hatte, obwohl links und rechts Nachbarn verschwanden, kleine Kaufläden eingingen, große Kaufhäuser plötzlich Nazis gehörten, Lehrer ihre Stellen verloren. Und wo blieben die alle. Im Urlaub?
"Wir haben das wirklich nicht geglaubt, dass der Hitler so was tun würde! Aber wir haben uns auch nicht gefragt, wo die alle abgeblieben waren!"
"Wohl, weil ihr Angst