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Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff
Читать онлайн.Название Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten
Год выпуска 0
isbn 9783742762917
Автор произведения Ernst Tegethoff
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
und begehrte, das Tier zu sehen; er schickte Cleomades
mit einer Schar Bewaffneter auf den Turm, sein
Flugzeug zu holen. Der Jüngling fand das Pferd im
nämlichen Zustand vor, wie er es verlassen hatte; er
brachte es dem König und dieser betrachtete es mit
Erstaunen. Die Königin hatte Erbarmen mit dem jungen
Mann und bat ihren Gemahl um Gnade. Dieser
hätte ihm gern verziehen, wenn ihn seine Lüge nicht
verdächtig gemacht hätte. Er wandte sich an seine
Ratgeber und fragte sie, was er mit dem Gefangenen
tun solle. Die Meinungen gingen weit auseinander,
aber schließlich einigte man sich dahin, daß er gehängt
werden solle. Da bedachte sich Cleomades und
sprach: »König, ich fürchte den Tod nicht, aber da ich
Euch nicht entgehen kann, bitte ich Euch um eine
Gnade: hängt mich nicht wie einen Straßenräuber! Ich
bin ein Ritter und verdiene einen ehrenvollen Tod.
Laßt mich mein Pferd besteigen und dann durchbohrt
mich mit Euern Pfeilen und Schwertern.« Der König
gestand ihm diese Gnade zu, denn es war ihm gleichgültig,
auf welche Weise er ums Leben käme. Rings
um das Roß versammelten sich die Knechte mit Spießen,
Lanzen, Pfeilen, Schwertern und Stöcken; große
Steinblöcke hielten sie im Schoß, um sie auf den Gefangenen
zu schleudern. Cleomades bestieg freudigen
Herzens sein Gefährt, als er aber oben saß, legte er
seine Hand an die Stirn des Tieres, drehte den Zapfen
und sogleich durchschnitt die Maschine die Luft, so
daß die Zurückbleibenden mit geöffneten Mäulern dastanden
und meinten, der Leibhaftige habe sie genarrt.
Cleomades nahm seinen Flug nach Spanien, wo er
mit größter Freude empfangen wurde. Seine erste
Bitte war, Crompart aus dem Gefängnis zu entlassen,
die Hand Marinas freilich habe er durch seine Treulo-
sigkeit verwirkt. Der Bucklige war sehr bekümmert,
als ihm der König seine Tochter verweigerte und er
verließ ihn voll Scham und Trauer ohne Abschied. Er
entließ sein Gefolge, das er in Sevilla zurückgelassen
hatte, er selber aber blieb in der Stadt, um eine günstige
Gelegenheit abzuwarten, daß er sich am König
und besonders an Cleomades rächen könne. Er kleidete
sich als Arzt und übte das Gewerbe eines Heilkünstlers
aus. Den Königssohn indessen ließ die
Liebe zu Clarmondine nicht rasten, und er glaubte
nicht eher Ruhe zu finden, bis er sie als seine Gattin
heimgeführt habe. Als drei Tage verstrichen waren,
nahm er von seinem Vater Abschied, um zu ihr zurückzukehren.
Er nahm denselben Weg, den er gekommen
war und ließ sein Flugzeug unter einer Ulme
in der Nähe von König Carmans' Schloß zu Boden
gleiten, um dort in Furcht und Hoffnung den Anbruch
der Nacht zu erwarten. Als der Mond aufgegangen
war, bestieg er sein Roß wieder und flog ruhig und
sicher in die Burg. Er ließ den Turm zur Seite liegen
und senkte sein Gefährt in das Blumengärtlein hernieder,
wo ihn der König letzthin überrascht hatte. Dort
stieg er ab und verbarg das Pferd in einer Mauernische.
Die Tür der Schlafkammer der Prinzessin stand
offen, um dem Duft der Blüten Eintritt zu gewähren,
und Cleomades gelangte ungehindert in das Gemach.
Er blieb einen Augenblick stehen und überzeugte sich
zunächst, ob alles schlief, dann trat er an das Bett der
Jungfrau und weckte sie mit einem Kuß. Sie schlug
mit einem Seufzer die Augen auf und sprach: »Ach,
wer hat mich geküßt?« Beim Licht der Kerzen erkannte
sie den Jüngling sogleich, aber sie wußte
nicht, ob sie schweigen oder schreien solle, denn sie
mißtraute dem Fremden, obwohl sie ihn liebte.
»Herr,« sagte sie, »ich sollte Euch zürnen, weil Ihr
neulich eine Lüge geredet habt.« »Jungfrau, ich
schwöre Euch, daß ich Euch heute die Wahrheit sagen
will. Cleomades heiße ich und mein Vater herrscht
über Spanien.« Bei diesen Worten jubelte Clarmondinens
Herz, denn der Ruhm seiner Heldentaten war
schon in ihr fernes Land gedrungen und vom Hörensagen
hatte sie den Vollbringer so vieler edler Taten
schon geliebt. Sie fragte ihn, warum er gekommen sei,
und er flüsterte ihr leise, leise, damit die Wärterinnen
nicht erwachten, seinen Plan ins Ohr und bat sie mit
aufgehobenen Händen, sie möge mit ihm in seine
schöne Heimat ziehen, um an seiner Seite als Königin
zu herrschen. »Herr,« sagte sie, »ich ergebe mich in
Euern Willen. Aber ich fürchte, mein Vater wird nicht
in diese Heirat einwilligen, denn er hat mich schon für
einen andern bestimmt.« Es bedurfte geringer Überredungskunst,
um sie zur Flucht mit ihm zu bewegen.
Darauf verließ Cleomades das Gemach, um sie im
Garten zu erwarten. Die Prinzessin weckte indessen
ihre Gespielinnen und erzählte ihnen, daß der berühmte
Ritter Cleomades gekommen sei, um sie mit
sich in sein Land zu führen. Die Jungfrauen, die
gleichfalls schon viel von der Tapferkeit des spanischen
Königssohnes gehört hatten, lobten ihre Wahl
und redeten ihr zu, mit ihm zu fliehen. Darauf traten
sie alle vier in das Gärtlein und die Wärterinnen trugen
dem Paar einen Imbiß auf und baten den Königssohn,
sie sobald als möglich in sein Land zu rufen.
Die Prinzessin aber war bekümmert, daß sie ihre Eltern
verlassen sollte, und Cleomades mußte ihr versprechen,
daß er ihr noch einmal Gelegenheit geben
wolle, sie zu sehen. Die Wärterinnen mahnten nun die
Liebenden, nicht länger mehr zu verharren, denn
König Carmans hatte die Gewohnheit, bei Tagesanbruch
sich zu erheben