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Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff
Читать онлайн.Название Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten
Год выпуска 0
isbn 9783742762917
Автор произведения Ernst Tegethoff
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
leichtes Gebot übertreten habe, und du hast ein noch
leichteres nicht gehalten.« Hierauf ließ der Eremit von
seiner Anmaßung ab und vertauschte seinen Groll mit
Mitleid.
Der Engel und der Waldbruder
Einst wurde ein Eremit vom Geiste der Lästerung versucht
und grübelte darüber nach, wie doch die Urteile
Gottes ungerecht seien, wie die Guten in Kummer und
die Schlechten in Freuden lebten. Da erschien ihm ein
Engel in Menschengestalt und sprach zu ihm: »Folge
mir, denn Gott schickt mich, daß du mit mir gehest
und ich dir den verborgenen Sinn seiner Urteile
zeige.« Und er führte ihn in das Haus eines biederen
Mannes, der sie wohlwollend und gastfreundlich aufnahm
und mit allem Nötigen bewirtete. Am anderen
Morgen aber entwendete der Engel ihrem Gastfreunde
einen Becher, welchen dieser sehr hoch schätzte.
Hierüber begann der Eremit zu murren, denn er
glaubte, jener sei nicht von Gott gesandt. Die nächste
Nacht verbrachten sie im Hause eines Mannes, der
ihnen ein schlechter Wirt war und der sie unfreundlich
behandelte. Diesem gab der Engel den Becher, den er
dem guten Gastgeber gestohlen hatte. Als der Eremit
solches sah, wurde er noch betrübter und begann eine
noch schlechtere Meinung von seinem Begleiter zu
bekommen. Von dort weitergehend nächtigten sie ein
drittes Mal im Hause eines guten Mannes, der sie mit
großer Freude empfing und ihnen reichlich mit allem
Notwendigen aufwartete. Am anderen Morgen gab er
ihnen einen jungen Mann, seinen Diener, mit, daß er
ihnen den Weg zeige. Diesen stürzte der Engel von
einer Brücke herab und ertränkte ihn im Wasser. Als
der Eremit solches sah, wurde er traurig und ärgerlich.
In der vierten Nacht nahm sie ein trefflicher Mann
aufs beste auf, brachte ihnen mit heiterer Miene reichliche
Speise und ließ ihnen geeignete Lagerstätten
herrichten. Aber das kleine Söhnchen des Gastwirtes,
das einzige, das er hatte, begann in der Nacht zu weinen
und hinderte sie am Schlafen. Da stand der Engel
nächtlicherweile auf und erwürgte den Knaben. Als
der Eremit solches sah, glaubte er, sein Gefährte sei
der Satan selber und wollte sich von ihm trennen.
Jetzt endlich redete der Engel und sprach: »Deshalb
hat mich der Herr zu dir geschickt, daß ich dir den
verborgenen Sinn seiner Urteile zeige, und damit du
erfahrest, daß nichts auf der Erde ohne Grund geschieht.
Jener wackere Mann, dem ich den Becher
fortnahm, liebte ihn zu sehr, bewahrte ihn neidisch
und dachte häufig an den Becher, wenn er an Gott
hätte denken sollen. Deshalb habe ich ihn ihm zu seinem
Heile genommen und jenem schlechten Wirte,
der uns in seinem Hause übel aufnahm, gegeben,
damit er seine Vergeltung noch in diesem Leben empfange,
denn im Jenseits wird ihm kein Lohn mehr zuteil
werden. Jenen Diener aber habe ich ertränkt, weil
er sich vorgenommen hatte, am folgenden Tage seinen
Herrn zu töten, und so habe ich unseren guten Gastgeber
vor dem Tode errettet, seinen Diener aber vor
einer Mordtat, damit er, ohnehin schon ein Mörder
dem Vorsatze nach, um etwas weniger in der Hölle
bestraft werde. Unser vierter Gastfreund endlich tat
viel Gutes, ehe er den Sohn hatte und bewahrte alles,
was er an Lebensmitteln und Kleidung erübrigte, für
die Armen auf; als aber sein Knabe geboren war, zog
er seine Hand von den Werken der Barmherzigkeit
zurück und bestimmte alles für seinen Sohn. Ich habe
ihm den Anlaß zur Habsucht genommen und gleichzeitig
die Seele des unschuldigen Kindes ins Paradies
gebracht.« Als der Eremit solches hörte, wurde er von
jeder Versuchung befreit und begann die Urteile Gottes,
deren Sinn verborgen ist, mit lauter Stimme zu
preisen.
Der Wolf in der Vorratskammer
Es wird erzählt, daß der Fuchs den mageren Wolf
überredete, ihm in eine Vorratskammer Stehlens halber
zu folgen. Der Wolf aber fraß so viel, daß er
durch die enge Öffnung, die ihm Einlaß gewährt hatte,
nicht mehr herauskonnte, und er mußte so lange fasten,
bis er seine ehemalige Magerkeit wieder erreicht
hatte. Er wurde indes überrascht und geprügelt und
mußte unter Zurücklassung seines Pelzes flüchten.
Der büßende Räuber
In einem Hause jenseits des großen Sees bei Neuenburg
in der Diözese Lausanne wohnte ein Geistlicher
namens Wilhelm, der wegen der Wunder, die Gott um
seinetwillen gewirkt haben soll, für heilig gilt. Ein
Ritter, der ihn besuchte, fragte ihn, warum er sich so
durch Fasten, Tränen und Bußhemden abtöte und abmühe.
Der Geistliche antwortete, es drohe ihm am
Tage des Gerichts ein Flammenmeer von der Größe
des Sees, und es bedürfe der ganzen Kraft seiner
Buße, um dem höllischen Feuer zu entgehen. Und er
erzählte als Beispiel, daß ein Räuber, der seinen Gegnern
entfloh, sich in Gestalt des Kreuzes zu Boden
warf, als er sah, daß kein Entrinnen mehr möglich sei,
und bekannte, er habe den Tod wohl verdient; weil er
Gott beleidigt habe. Er weinte darüber, gestand, daß
er ein Sünder sei und bat seine Verfolger, daß sie, um
Gott mit ihm zu versöhnen, seine Glieder der Marter
preisgäben. Einem Eremiten, der schon viele Jahre in
den Bergen büßend verbracht hatte, wurde offenbart,
wie Engel die Seele dieses Räubers unter Lobgesängen
in den Himmel trugen. Dafür wußte der Eremit
Gott keinen Dank, sondern er ärgerte sich und bedachte,
daß er, der sich allen Kasteiungen ausgesetzt
habe, auf