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Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff
Читать онлайн.Название Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten
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isbn 9783742762917
Автор произведения Ernst Tegethoff
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
und bemerkte den Nachen, der ohne Segel und
Mast herantrieb. Als das Boot an Land kam, begab
sich die Menge zum Strande und der Profoß begrüßte
die Fremde: »Jungfrau, der wahrhaftige Gott gebe
Euch Glück und Freude!« »Herr,« entgegnete sie,
»der, den Ihr anrieft, möge Euch erhören!« »Jungfrau,
berichtet uns, wo Eure Heimat und wie Euer Name
ist!« »Herr, ich bin eine Unglückliche, die hier ans
Ufer trieb. Wenn es Euch gefällt, so rettet mich; mehr
kann ich Euch nicht sagen.« »Wenn Euch jemand Unrecht
tat, Schöne, so seid Ihr hier in guter Hut. Ich
will Euch zu meinem Herrn führen, der König in diesem
Lande ist, er ist jung und schön. Bei seiner Mutter
wird es Euch wohlergehen und an nichts fehlen.«
Der Profoß nahm die Jungfrau mit sich heim und
führte sie am anderen Tage nach Dondieu, wo der
König mit seiner Mutter weilte. Dieser saß gerade mit
zweiunddreißig seiner Barone bei der Tafel, als der
Profoß, die Jungfrau an der Hand haltend, eintrat.
»Herr,« sagte er, »eine schöne Beute bringe ich Euch
hier. Nehmt sie, die ein Schiff hertrieb, in Gnaden
auf!« Der König wandte sich liebevoll an die Fremde
und fragte sie nach ihrer Herkunft und ihrem Schicksal,
sie aber sagte, sie wolle lieber sterben, als ihr Unglück
erzählen. Da der König ihre Tränen sah, drang
er nicht weiter in sie, sondern führte sie seiner Mutter
zu. So blieb sie am Hofe und wurde bald ihrer Güte
und Schönheit wegen allgemein beliebt; da man aber
ihren Namen nicht wußte, nannte man sie die Manekine,
das heißt Einhand. Je länger sie am Hofe verweilte,
in desto höherem Maße kehrte ihre frühere Schönheit
wieder, und je schöner sie wurde, desto mehr
fühlte sich der junge König zu ihr hingezogen, bis die
Bande der Liebe, die ihn fesselten, so stark wurden,
daß er sie nicht mehr zerreißen konnte. Auch ihr Herz
war von Liebe erfüllt, aber keiner von beiden kannte
die Gefühle des anderen.
So verging ihnen ein ganzes Jahr unter schlaflosen
Nächten, aber der Königinmutter, welche das schlechteste
und listenreichste Weib von der Welt war, entging
es nicht, daß ihre Herzen Liebe zueinander trugen
und sie sprach zornig zu Manekine: »Es scheint
mir, daß mein Sohn dich von Herzen liebt. Ich verbiete
dir, wenn dir dein Leben lieb ist, ihm in Zukunft
Gesellschaft zu leisten. Ich werde dich töten lassen,
wenn er sich noch einmal mit dir sehen läßt.« Als am
dritten Tage der König wieder in ihr Zimmer trat, zitterte
die Jungfrau vor Furcht und weinte. Der König
merkte wohl, daß sie in Kummer war und er fragte sie
nach der Ursache ihres Grams. Da erzählte sie ihm
das Verbot der bösen Alten. »Freundin,« erwiderte er,
»beruhigt Euch! Ich will Euch vor ihr schützen und
will Euch nicht länger verheimlichen, was ich bisher
verborgen hielt. So wißt denn, mein süßes Lieb, daß
Ihr mein Herz und mein Leben seid, all mein Gut,
meine Gesundheit und meine Freude, daß ich heute
und immerdar Euch gehöre.« Die Jungfrau verbarg
ihre Freude über diese Worte und antwortete züchtig
und bescheiden, sie sei zwar zu niedrig für seine
Liebe, doch wage sie nicht, eine so große Ehre auszuschlagen.
Darauf küßte sie der König wohl zwanzigmal
auf den Mund, dann führte er sie in sein Schloß
und ließ den Kaplan rufen; dieser aber legte ihre
Hände ineinander und vermählte sie. Als die Mutter
dies erfuhr, sprach sie: »Verflucht sei er, wenn er sie
genommen hat, und jeder, der ihn noch als König achtet.
Gar zu niedrig hat er gehandelt, daß er eine Landstreicherin,
eine Hergelaufene geheiratet hat, eine
Frau mit nur einer Hand!« Vierzehn Tage darauf
wurde Pfingsten gefeiert, und an diesem Tage wollte
der König seine junge Gemahlin krönen lassen. Zu
dieser Feier berief er alle seine Vasallen aus Schottland,
Cornwall und Irland und die Nachricht von seiner
Vermählung verbreitete sich pfeilgeschwind im
ganzen Lande. Als die Nachtigallen sangen und die
Wiesen blühten, da füllten die Ritter, die Grafen und
Barone mit ihren Damen die Zelte, und drei Tage lang
wurde die Hochzeit gefeiert. Die Mutter des Königs
aber reiste am nächsten Tage voll Grimm auf ihr
Landgut, denn sie glühte vor Neid und Haß gegen die
junge Königin.
Fünf Monate mochten seitdem vergangen sein, da
sprach der König eines Tages zu seiner Gemahlin:
»Ich bitte Euch, liebe Freundin, daß Ihr mir um meiner
Ehre willen eine Reise gewährt: in Frankreich findet
ein großes Turnier statt, dem ich beiwohnen
muß.« »Diese Reise erschreckt mich,« erwiderte die
Manekine, »denn ich bin allein in diesem Lande und
Eure Mutter haßt mich.« »Ich werde Euch in solcher
Hut lassen, daß Ihr weder meine Mutter noch sonst jemanden
zu scheuen braucht.« Der König hatte einen
Seneschall, der sein treuester Ratgeber war, diesen
berief er nebst zwei anderen Rittern zu sich und
sprach: »Ihr Herren, ich gehe auf kurze Zeit in ein anderes
Land, um Ehre und Ruhm zu erwerben. Ihr werdet
bei der Königin bleiben und sie mit eurem Leben
schützen. Vor allem werdet ihr sie vor meiner Mutter
behüten, damit diese ihr kein Leids antut.« Darauf
nahm er Abschied von seiner Gattin und trat mit großem
Gefolge die Fahrt an.
Die Königin, welche ihn bis zum Meere begleitet
hatte, kehrte in Gesellschaft ihrer drei Hüter zurück.
Es gab nichts mehr auf der Welt, was sie erfreuen
konnte, seit sie den Anblick ihres Gemahls