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      XVIII.

      Sterano verstand die Artesianer nicht. Sie waren ein Volk voller Gegensätzlichkeiten. Es schien unmöglich, ihre Handlungsweisen nachzuvollziehen. Zum ersten Mal war es Sterano gelungen, echten Kontakt zu ihrer Verfolgerin herzustellen, und im nächsten Moment wurde diese von einer kleinen hinterhältigen Bombe getötet. Sterano hatte sich einen Weg gesucht, hin zu dem Platz, der laut Eyniyahs Worten sicher sein sollte, und sich unverzüglich dorthin begeben. Aber dort wurde gebaut. Viel, viel zu viel Unruhe. Die Unruhe legte sich schlagartig, nachdem Sterano angekommen war, und sie blieb auch dort, aber nur wenige Tage, denn das, was sie brauchte, war schnell aufgebraucht. Sie zog weiter und fand eine riesige Anlage, die in den Gedanken der Artesianer Fusionsreaktor hieß, und die riesige Mengen von Energie bereitstellte. Der Reaktor heulte auf, als sie ihn berührte, aber er gehorchte ihr sofort und heiße Flüsse zogen aus dem Reaktor in ihre Adern. Sie hatte alles, was irgendwie mit normalem Auge sichtbar sein konnte, abgestreift, Haare, Haut, Flügel. Sie stieg immer weiter in einen herrlichen Rausch hinein, sie würde sich reproduzieren, nicht einfach nur sich selbst, sondern neues hariolenes Leben würde diesem Rausch entsteigen. Viel stärker und machtvoller als ihr eigenes.

      XIX.

      Heute war nicht die Stunde von Lakolar Annselarmo. Der Thraxonische Antragsprüfer und die Primesorische Königin hatten ihm sehr beunruhigende Nachrichten zukommen lassen und Lakolar Annselarmo entschied sich dafür, ihnen höchstpersönlich die Lage zu erklären. Dazu musste er seine nachtschwarzen Räume verlassen und sich in einen Saal begeben, in dem ihm die Sehenden überlegen waren. Aber die Primesorische Königin war das wert und der Antragsprüfer der Thraxonischen Nation ebenfalls. Sie standen zu dritt auf einer Ebene und konnten miteinander reden, ohne dass einer von ihnen die Augen hätte senken müssen.

      Lakolar Annselarmo lud sie zu Tabak und Sen ein, das war das Zeichen für den Thraxoner, dass er seinen Journalistenanhang zu Hause lassen sollte und für die Primesorische Königin, dass sie ohne ihre aufwändige Garderobe erscheinen konnte.

      Die Primesorische Königin hatte eine neue Stimme und wie immer fand Annselarmo, dass sie für eine Verantwortung über zwei Fünftel der bewohnbaren Planetenoberfläche viel zu jung war. Aber diese zwei Fünftel der Planetenoberfläche waren nicht hierarchisch verwaltet und die Königin konnte nie sagen, wie hoch das Bruttosozialprodukt der Artesianer in ihrem Herrschaftsbereich zur Zeit gerade war. Die Primesorer hätten eine solche Angabe auch als Zumutung empfunden, sie bezahlten Steuern und Abgaben an ihre Regierung nur aus Überzeugung und nur so viel, wie ihnen diese Regierung wert war. Den Rest ihrer Einkünfte verwerteten sie nach eigenem Ermessen. Die neue Primesorische Königin war gerade auf dem Weg, ihrem Volk die Notwendigkeit einer gewissen Ordnung wieder plausibel zu machen. Sie war groß gewachsen und wenn sie tief durchatmete, dann traf sogar den Lerasischen Diktator ihr warmer Hauch. In solchen Momenten dachte Lakolar Annselarmo daran, dass das Primesorische Unterwasserreich wirklich eine Königin brauchte, die einen tiefen Atem besaß. Ihr Name war Uliesieth Umia.

      Der Antragsprüfer der Thraxonischen Nation Thuron Thieck war ein unscheinbarer und sehr in sich ruhender Artesianer, den Lakolar Annselarmo schon seit zwanzig Jahren kannte und dem er schon mehrere hohe Funktionen in seiner eigenen Regierung angeboten hatte. Thuron Thieck aber stand zu seiner komplizierten und nervenraubenden Thraxonischen Demokratie. Irgendwie besaß er die Fähigkeit, immer wieder eine große Menge Artesianer dazu zu bewegen, dass sie in völliger Übereinstimmung mit ihrem eigenen Willen genau das taten, was Thuron Thieck für wichtig und momentan notwendig hielt.

      Lakolar Annselarmo wünschte sich diese Fähigkeit auch. Weil er sie nicht besaß, setzte er Willen mittels Befehlsgewalt durch. Von seinem dunklen Arbeitszimmer bis in die letzte Wohnstube reichte diese Befehlsgewalt, sie lenkte und schützte einen großen Teil aller Artesianer auf Artesa und noch mal zehn Prozent, die sich mehr oder weniger im Orbit des Planeten aufhielten. Wer das nicht wollte, der wechselte in die lockeren Wohnformen des Primesorischen Reiches oder in die aufwendigen Verwaltungsverfahren von Thraxon.

      Bei diesem Treffen bei Tabak und Sen wurden sich die drei Staatsoberhäupter nicht einig. Lakolar Annselarmo konnte ihnen nicht glaubhaft erklären, dass diese Situation nicht gefährlich war, dass die massive Einfuhr von orbitalen Energiereserven nichts damit zu tun hatten, dass einer der drei planetenwichtigen Fusionsreaktoren praktisch ausgefallen war, und dass die massive Energiekonzentration in den Händen eines Fremdwesens keine Gefahr für den Planeten darstellte.

      „Die Fehler, die wir machen, resultieren nur aus unserem absoluten Nichtverständnis für ein solches Fremdwesen. Nies Edo entzieht sich unserer Vorstellungskraft, und immer, wenn wir einen Hauch von Berührung zustande bekommen, passiert der nächste Fehler. Manchmal denke ich, dass ich ihre Verfolger bekämpfen müsste und nicht sie.“ Das sagte Lakolar Annselarmo nicht in der Versammlung der Staatsoberhäupter, sondern leise während seiner schlaflosen Nächte, in denen er scheinbar endlos durch die Zimmerfluchten wanderte, auf der Suche nach Ruhe und Geduld. Irgendwann, in den nächsten Tagen musste etwas passieren. Irgendetwas. Die Falle, die sie für sie gebaut hatten, war nicht rechtzeitig fertig geworden, die riesigen Mengen an zusammengetragenen hochgiftigem strahlendem Müll hatte sie leergesaugt in weniger als drei Tagen, bevor der schwere Schutzschild, den sie aktivieren wollten, fertig geworden war. Sie war weitergezogen, bis zu dem Reaktor und mit dem Maß, mit dem sie wuchs, wuchs auch ihr Energiehunger. Die Liste der möglichen Anwendungen für eine solche Energiemenge war nicht mehr zu überschauen, sie wuchs täglich weiter. Was aber noch schneller wuchs, das war die Angst und die Liste der Vorhaben, mit denen das Fremdwesen vernichtet werden sollte. Irrsinn, Selbstmord. Wann begreifen sie das endlich! Bei einer derartigen Größenordnung gewinnt man nicht mit Bomben, sondern nur mit guten Nerven.

      Sameon hatte keine Nerven mehr. Seit man ihn vor Dekaden von seinem Posten in Exodun Hall abgeholt hatte, seitdem lebte er abgesondert von der Öffentlichkeit in einem winzigen Hotel am Primesorischen Meer. Er hatte seit seiner Abberufung keine Nachrichten mehr gesehen, keinen Film, er hatte keine Fremden getroffen, keine Tele mehr geführt. Er war nur am Strand auf und ab gelaufen, hatte einzelne Schaben verscheucht, die den Strand als ihr Eigentum zu betrachten schienen, und ihn frech anfauchten. Sameon erinnerte sich an sehr frühe Zeiten, in denen er mit anderen Kindern auch Schaben gejagt hatte, damals waren sie ihm unheimlich groß vorgekommen, heute würde er ein solches Mistvieh mit einem einzigen, gezielten Fußtritt ins Wasser befördern. Drinnen im Wasser machten die Primesorischen Grenztruppen auch Jagd auf die Küstenschaben und dann krochen sie zu Tausenden unter die Hülle der Artesa, dorthin folgte ihnen niemand. Sie waren gründlich hässlich und nicht auszurotten.

      Sameon hatte in den letzten Dekaden mehrere Male unter dem Medikomp gelegen, seitdem summten ihm die Ohren und das Fingerspitzengefühl war ihm verloren gegangen. Ein kleines Männchen hatte sich zwischen seinen Ohren eingenistet, kurz nach der Operation mit ihm geflüs­tert, und jetzt vor wenigen Tagen bei einem dieser Strandspaziergänge ein zweites Mal, und Sameon war sich nicht mehr sicher, in wie weit er noch mit seinen Gedanken wirklich allein war. Zumindest, seit ihm das Männchen gesagt hatte, dass er seine Kraft nicht an die Schaben vergeuden sollte. Sameon dachte an die letzten vier Patienten, die er auf Schonplätze verwiesen hatte und von denen er nicht wusste, woran sie sterben würden. Er dachte an die beiden Frauen, die von seinen Besuchen lebten und die eigentlich seine Familie waren. Mehr Familie hatte Sameon nie gewollt. Familie war für ihn etwas, das man schneller verlieren konnte, als man darüber nachdachte, und der Schmerz war umso größer, je mehr man sich in dieser Familie eingerichtet hatte. Sameon hatte sich in der Welt der einsamen Erwachsenen eingerichtet und seine Seele mit Arbeit zugekleistert. So betrachtete er die langen Spaziergänge am Strand als seine Arbeit und den Dialog mit dem kleinen Männchen zwischen den Ohren als eine zu erlernende Fähigkeit. Dass sie als Kinder die Schaben nur deswegen gejagt hatten, um an die Beute der Schaben zu kommen, Mitbringsel aus der Welt unter der Artesa, daran dachte Sameon nicht mehr. Denn die Zeit vor Lerasia war nichts, rein gar nichts. Niemandszeit.

      Sameon wusste nichts von der schleichenden Unruhe, die sich draußen auszubreiten begann, denn die Artesa war mit einem Fremdwesen infiziert, dass sich nicht einkreisen und auch nicht vertreiben ließ. Es hatte einen der drei wichtigsten Energieerzeuger

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