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Schmetterlingsscherben. Esther Hazy
Читать онлайн.Название Schmetterlingsscherben
Год выпуска 0
isbn 9783847653134
Автор произведения Esther Hazy
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
«Hättest du nicht letztes Jahr Abitur machen müssen?», fragte ich mit gekreuzten Armen vor der Brust, als er den Kofferraum zuschlug. Er grinste breit. «Hab in der Elften eine Ehrenrunde gedreht.»
«Wow, wie beeindruckend», gab ich sarkastisch von mir und humpelte zur Beifahrertür. Lennard war schneller und öffnete sie für mich. Wortlos stieg ich in den Wagen, ehe er die Tür wieder zumachte und auf der Fahrerseite einstieg. Er beäugte mich abschätzig. «Was ist mit dir? Wie kommt's, dass du immer noch zwei Jahrgänge unter mir bist?»
«Ich hab ein Jahr pausiert», erklärte ich ihm, zog mir meine Kapuze wieder über und setzte die Sonnenbrille auf.
«Was hast du in der Zeit gemacht? Warst du im Ausland?»
«So was in der Art», antwortete ich ausweichend und schnallte mich an.
Das erste Mal in meinem Leben freute ich mich über die Tatsache, dass dieses Nest so klein war. Wir brauchten keine fünf Minuten bis zu meiner Straße und erleichtert schnallte ich mich ab, als wir vor unserem Haus zum Stehen kamen. Lennard öffnete die Tür und bot mir helfend die Hand an, die ich beiseite schlug und mich selbst irgendwie aus dem Wagen hievte.
Er holte mein Rad aus dem Kofferraum und schob es in unseren Vorgarten, ehe er wieder zu mir kam und mich erwartungsvoll ansah.
«Was?! Ich werde mich bestimmt nicht dafür bedanken, dass du mich genötigt hast, mit dir zu fahren!»
Diesmal lachte er nicht. Er verzog bloß das Gesicht und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. «Du hättest echt nicht wieder herkommen sollen, Ska.» Damit drehte er sich um und ging ums Auto herum.
«Als ob ich mir das ausgesucht hätte», murmelte ich eher zu mir selbst und humpelte zur Tür herüber, während der Wagen hinter mir aufheulte und losfuhr. Ich drehte mich nicht nochmal um, sondern ging direkt ins Haus.
«Hey! War das Lennard da draußen?» Mein Vater kam in den Flur. Offenbar hatte er uns durchs Küchenfenster beobachtet.
«Ja, er… er hat mich hergebracht», seufzte ich, zog die Kapuze vom Kopf und die Sonnenbrille vom Gesicht und schmiss meine Tasche in dieselbe Ecke wie immer. «Meine Reifen sind hinüber.»
«Deine Reifen? Vom Fahrrad? Na, das ist aber nett von ihm, dass er dich da fährt!» Rüdiger lächelte gut gelaunt. «Aber Lennard und du, ihr habt euch ja schon immer bestens verstanden!»
«Können wir einfach essen, Pa?!», fauchte ich eine Spur zu aggressiv. Mein Vater sah mich schon wieder mit diesem furchtbar besorgten Blick an, nickte nur und schob mich voran ins Wohnzimmer. Es tat mir leid, dass ich ihn so angepampt hatte, aber dieser Tag war auch so schon schlimm genug gewesen. Und das Letzte, was ich wollte, war, über Lenny Lennard zu reden.
Nach dem Essen verzog ich mich direkt in mein Zimmer. Ich verriegelte die Tür von innen und drehte die Stereoanlage auf, damit meine Schluchzer im Flur nicht zu hören waren.
Alles, wirklich alles lief im Moment so furchtbar schief. Ich wollte nicht hier sein, ich hatte nie wieder herkommen wollen und einfach alles vergessen wollen, was ich hier erlebt hatte.
Und wieso hatte er mich unbedingt ansprechen müssen?! Hätte er nicht einfach so tun können, als ob er mich nicht gesehen hätte, und mich das dämliche Rad nach Hause schieben lassen? Das wäre mir tausendmal lieber gewesen, als mit ihm sprechen zu müssen.
Ich konnte ihm unmöglich wieder unter die Augen treten. Mir wurde speiübel, als ich an die Schule morgen dachte. Er würde da sein. Bis zu seinem Abitur. Noch einige Monate. Das würde ich nicht durchstehen.
Ich warf mich ins Bett und versuchte an irgendetwas anderes zu denken, aber alles, was ich sah, wenn ich die Augen schloss, war sein Gesicht.
«Du bist so aufgewühlt», murmelte Ramona, die über mir schwebte. «Mach die Augen zu, ich werde dich beruhigen.»
Seufzend senkte ich die Lider, auch wenn es in meinem Magen rumorte wie in einem Betonmischer. Die kleine Engelsfigur pustete sanft auf meine Augenlider und die Stirn und kühlte meine Wangen, die ganz heiß geworden waren.
Irgendwie senkte sich mein Puls und mein Körper entspannte sich. Auf einmal war ich einfach nur noch müde und komplett erledigt und es fiel mir nicht weiter schwer, einzuschlafen.
Mit dem nächsten Morgen kehrte die Panik zurück. Ich konnte unmöglich zur Schule. Das würde ich nicht über mich bringen. Nicht heute. Noch nicht. Vielleicht morgen, oder übermorgen, wenn ich mich irgendwie mit dem Gedanken abgefunden und mich seelisch auf eine zweite Begegnung eingestellt hatte.
Aber auf keinen Fall so.
«Pa?», fragte ich also, als ich im Schlafanzug in die Küche tapste. «Mir geht's nicht so gut. Wäre das okay, wenn ich heute zu Hause bleibe?»
Mein Vater sah erschrocken von seiner Zeitung auf und wurde jäh in seiner Morgenroutine unterbrochen. Besorgt musterte er mich. Ich zog an den Ärmeln meines ausgeleierten Pullovers herum. Ich log nicht gern, aber es ging nicht anders. Und ich fühlte mich tatsächlich schlecht. Ich war mir auch sicher, dass ich nicht besonders gesund aussah.
«Was stimmt denn nicht? Bist du krank? Hast du Probleme? Du weißt, du kannst mit mir reden, Liebling.»
«Ich weiß. Das ist es nicht. Ich hab bloß… meine Tage. Da krieg ich immer so krasse Krämpfe», log ich, weil das irgendwie noch das unverfänglichste war. Sobald er auch nur annähernd vermutete, dass mein seelischer Zustand labil war, würde er bei Doktor Meineken anrufen. Und ich hatte keine Lust mehr auf Therapie. Es hatte nicht geholfen. Und es würde auch nicht mehr helfen. Ich kam alleine klar. Irgendwie.
«Das klingt ja gruselig», rief Rüdiger und verzog das Gesicht. «Dann leg dich wieder ins Bett, Liebling. Ich schreib dir eine Entschuldigung.»
Sobald ich wieder in der Sicherheit meines eigenen Zimmers und unter meiner kuscheligen Decke war, ging es mir besser. Jedenfalls war die Panik verschwunden. Zurück blieb die Einsamkeit. Meine Mutter fehlte mir in diesem Moment so sehr, dass es wehtat.
Kapitel 4
«Ich kann heute auf keinen Fall zum Sportunterricht», maulte ich. «Wir machen Zirkeltraining! Das ist der absolute Horror. Ich bin immer die Schlechteste und alle lachen mich aus.»
«Dann sag doch einfach, du hast deine Tage», schlug Lennard vor, der neben mir auf dem Schulhof stand. «Dann musst du bloß zugucken.»
«Aber ich bin erst elf! Ich hab so was noch nicht!», rief ich verwirrt. Wir hatten das Thema Menstruation in der Schule durchgenommen, aber bisher war bei mir noch nichts dergleichen aufgetaucht. Gott sei Dank. Der Gedanke war irgendwie gruselig.
«Das weiß dein Lehrer doch aber nicht», lachte Lennard und schob sich die Brille zurück auf die Nase. «Und Penny aus deiner Parallelklasse hat ihre auch schon mit Elf bekommen und erzählt seitdem überall herum, sie wäre jetzt eine echte Frau.» Er verdrehte die Augen und ich kicherte leise. «Dabei schläft sie manchmal noch bei ihren Eltern im Bett!»
Ich ging auch die beiden nächsten Tage nicht zur Schule, weil mir mein Vater Bettruhe verordnet hatte. Er kümmerte sich wirklich sehr um mich, brachte mir Kamillentee und Aspirin und überlegte sogar, den nächstgelegenen Frauenarzt zu kontaktieren, wovon ich ihn gerade noch rechtzeitig abhalten konnte.
«Ich wollte morgen nach Hannover fahren», sagte Rüdiger an diesem Freitagmittag. Er war wie immer in der Mittagspause nach Hause gekommen. Ich hatte mich sogar bemüht, ihm beim Kochen zu helfen, aber ich konnte nicht mehr tun, als Gemüse zu schnippeln. Meine Mutter war nicht allzu talentiert gewesen, was die Zubereitung von Nahrungsmitteln anging. Mir fehlte der chinesische Lieferservice,