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paar Wochen gekauft hatte. Es war ein kleiner, silberner Engel, der mir Glück bringen sollte und mich beschützen sollte. Das war kurz vor dem Unfall gewesen. Ich biss mir auf die Unterlippe und schleuderte den Engel gegen die gegenüberliegende Zimmerwand, als ein leiser Aufschrei zu hören war.

      «Das hat verdammt weh getan!»

      Ich starrte auf den silbernen Fleck auf dem Sofa, der sich jetzt langsam erhob. Der Engel hatte die Flügel ausgestreckt und flog direkt auf mich zu. «Das war wirklich unhöflich!»

      Ich schloss die Augen, in der Hoffnung, die Halluzination würde verschwinden. Aber das hatte noch nie geholfen. Als ich sie wieder öffnete, hatte es sich der Engel auf meinem Schreibtisch bequem gemacht.

      Ich warf einen Blick auf die Uhr. Noch zwei Stunden, bis Dora mich abholen kam. Vielleicht war Gesellschaft doch gar keine so schlechte Idee. Da fiel es mir wesentlich leichter, solche Sachen zu ignorieren. Wenn man alleine war, und eines dieser Trugbilder beharrlich auf einen einredete, war das wirklich schwer.

      «Hey, Louise! Ich rede mit dir!»

      «Äh», machte ich und blinzelte irritiert auf das kleine Figürlein hinunter. Es war nicht real, verdammt. Ich packte den Schlüsselanhänger, riss das Fenster auf und schmiss ihn in den Vorgarten, ehe ich doch noch mit ihm sprach. Sobald ich das Fenster wieder verriegelt hatte, fühlte ich mich besser.

      Seufzend setzte ich mich wieder an den Schreibtisch und zwang meine Konzentration auf die Hausaufgaben. Solange ich an Mathematik dachte, würde sich mein Hirn vielleicht keine neuen Gespinste ausdenken.

      Dora holte mich um kurz nach Sieben ab. Da sie auf einem der Bauernhöfe außerhalb des Ortes wohnte, war der Weg für sie in die Stadt mit Rad ein wenig zu weit. Sie fuhr stattdessen eine ziemlich popelige, orangegelbe Vespa, weil sie mit ihren 16 Jahren noch kein Auto fahren durfte. Ich wäre mit meinem Rad vermutlich ähnlich schnell gefahren, aber ich wollte nicht meckern, also stieg ich hinter ihr auf den Sitz und stellte meinen Gipsfuß daneben ab.

      Ich hatte mich immer gefragt, wie es in einem Nest wie diesem überhaupt ein Kino geben konnte. Auch wenn es nicht besonders groß war. Es hatte immerhin zwei Kinosäle und es liefen meistens auch relativ aktuelle Filme. Leider bedeutete das in unserem Falle, dass wir die Wahl hatten zwischen einem animierten Kinderfilm und einem überladenen Actionstreifen. Ich war zwar für den Film mit Bruce Willis, aber Dora war kein Fan von Gewalt und schnellen Kamerabewegungen, also kauften wir schließlich Karten für den Kinderfilm. Ich hatte keine allzu großen Erwartungen daran und trotzdem wurden diese noch enttäuscht. Der Film war sogar so schlecht, dass ich währenddessen aufstand und in den Flur flüchtete.

      In der Damentoilette spritzte ich mir ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht und rieb mir die verspannten Schultern, ehe ich wieder das Foyer betrat. Erschrocken blieb ich stehen und starrte zu einem Jungen rüber, der einige Meter von mir entfernt stand und mit dem Kartenverkäufer schwatzte.

      Ich hatte keine Ahnung, wer das war, ich war mir nur ziemlich sicher, dass er neu hergezogen sein musste. Denn so ein Gesicht hätte ich mit Sicherheit nicht vergessen. Er war groß und muskulös und seine platinblonden Haare hingen ihm wirr ins hübsche Gesicht. Ich starrte ihn völlig irritiert an, während er sich umdrehte und in den Kinosaal ging, in dem gleich der Actionfilm anlief. Ich war sogar kurz am überlegen, ob ich ihm einfach folgen sollte, als mich der Junge aufhielt, der hier arbeitete. «Hey!», rief er. «Kann ich mal deine Karte sehen?»

      «Äh, klar», seufzte ich und grub in meiner Jackentasche herum, bis ich ein etwas zerknittertes Stück Papier fand und es ihm reichte. Er starrte mich an wie ein Irrer. «Das… ist eine Einkaufsliste.»

      «Eine…» Ich zog ihm den Zettel aus der Hand und warf einen Blick darauf. Tatsächlich. Die Sachen, die mir meine Mutter aufgetragen hatte, aus dem Supermarkt mitzubringen.

      «Ach, scheiße. Ich glaub, die Karten hat Dora.» Ich verzog das Gesicht und der braunhaarige Junge grinste. «Hey, du bist doch Louise, oder?»

      «Äh… Ja.» Ich nickte irritiert, während er weiterhin dämlich grinste. «Du warst mal mit mir zusammen beim Tennis, kann das sein?!»

      «Äh. Kann sein.» Ich hatte jedenfalls mal Tennis gespielt.

      «Ist ja irre, dass du wieder hier bist! Und? Was hast du so die letzten Jahre gemacht?»

      «Ach, alles Mögliche», murmelte ich verlegen und strich mir die Haare aus der Stirn.

      «Hey, Nils!», rief jemand hinter uns und ich stolperte zur Seite, als der gutaussehende Typ wieder vor uns auftauchte und den Jungen in Uniform anlächelte. «Schmeißt du den Film heute nochmal an?»

      «Äh, ja, klar! Tut mir leid, ich war abgelenkt!» Damit joggte Nils davon, um in dem zweiten Kinosaal den Film einzulegen. Hier musste sogar noch alles manuell gestartet werden, ehe irgendwas lief.

      Der andere stand jetzt so nah vor mir, dass ich ihn genauer betrachten konnte. Er hatte ein markantes Kinn, hohe Wangenknochen und eine kleine Narbe über der linken Augenbraue; seine Nase hatte einen leichten Knacks, als wäre sie nach einer Prügelei gebrochen worden. Das machte ihn sogar noch attraktiver. Und seine Augen waren von so einem intensiven Grün wie die Blätter der Bäume im Frühling.

      Er sah mich einen Moment lang irritiert an und öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, besann sich dann aber doch eines Besseren und folgte Nils zurück in den Kinosaal.

      Ich nutzte die Gelegenheit, um mich zurück in den Raum zu Dora zu schleichen.

      Kapitel 2

       Ich kicherte albern und zog ihm die dunkelbraune Perücke vom Kopf, die wir in einer alten Truhe im Keller gefunden hatten. Damit sah er aus wie Doras Mama, bloß viel kleiner.

       «Du kannst dich gar nicht so gut verkleiden, dass ich dich nicht erkenn», grinste ich frech durch meine Zahnlücke und er streckte mir die Zunge raus. «Wetten?!» Er griff zu einem Haufen alter Kleider und verschwand darunter.

       Ich lachte los und schmiss die wunderschönen Tücher in die Höhe. «Ich würde dich immer und überall erkennen, selbst wenn ich nichts sehen kann!»

       «Das werden wir ja sehen!», rief er und rannte lachend voran die Treppe hinauf.

      Obwohl ich erst seit zwei Wochen wieder hier war, hatte ich schon einen neuen Ruf weg an der Schule. Vielleicht lag es daran, dass ich in letzter Zeit nur noch schwarz trug. Das hatte aber nichts mit meiner Glaubensrichtung zu tun, sondern eher damit, dass ich mich darin momentan einfach am wohlsten fühlte.

      Dazu kam wohl die Tatsache, dass mich hier sowieso schon jeder für verrückt hielt und man mir alles zutraute. Jedenfalls galt ich jetzt offiziell als Satanistin, weil irgendjemand Samstagnacht auf dem Friedhof gewesen war und dort ein Grablicht zertreten hatte.

      Aber wenn sie einen Grufti haben wollten, sollten sie auch einen bekommen. Vielleicht ließen mich die Leute dann wenigstens in Ruhe.

      Ich zog also auch an diesem Morgen wieder meine Kluft aus schwarzen Jeans und Kapuzenpullover an und legte ein bisschen mehr Kajal auf als sonst. Ich stellte überrascht fest, dass ich wie geschaffen dazu war, als Grufti herumzulaufen. Ich hatte nie besonders viel Farbe im Gesicht gehabt und die letzten Wochen hatten mich noch blasser werden lassen. Meine schwarzen Haare umrahmten mein bleiches Gesicht und schimmerten im Neonlicht des Badezimmers leicht bläulich, während sich die Ringe unter meinen Augen deutlich hervorhoben. Ich wirkte ohnehin schon wie ein Zombie.

      Vielleicht sollte ich mir ein Nietenhalsband kaufen. Aber dafür müsste ich vermutlich zum Einkaufen nach Hannover oder Bremen fahren. Hier gab es so etwas mit Sicherheit nicht.

      Seufzend zog ich mir den Schuh über den rechten Fuß und humpelte die Treppe hinunter, um mit meinem Vater zu frühstücken.

      Wir hatten relativ schnell eine gewisse Routine

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