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nicht dorthin. Nicht in dieses Haus, wo mich alles an sie erinnerte, wo alles wieder hochkam. Rüdiger war bereits mehrmals dort gewesen und ich hatte ihm aufgeschrieben, welche Sachen ich noch von dort brauchte, damit er sie mir mitbringen konnte. Aber ich wollte wirklich nicht dorthin.

      «Ich denke nicht», antwortete ich und stocherte in meinem Kartoffelpüree herum. Es schmeckte eigentlich ganz gut, ganz anders als das aus der Tüte. Aber mir fehlte dennoch der Appetit.

      Mein Vater seufzte leise. «Wir könnten dort beim Arzt vorbeisehen und der kann dir den Gips abnehmen.»

      «Das kann auch einer dieser Quacksalber hier im Dorf.»

      «Das sind alles sehr fähige, nette Menschen, Louise.»

      Ich wollte gerade etwas erwidern, als es an der Tür klingelte. Vermutlich die Post. Unser Postbote, Jens, klingelte nämlich ganz gerne mal, anstatt die Briefe einfach in den Kasten zu schmeißen, weil er offenbar ein sehr einsamer und mitteilungsbedürftiger Mensch war.

      Ich machte also erst gar keine Anstalten aufzustehen und schaufelte mir eine große Portion Kartoffelbrei in den Mund. Mein Vater ging zur Tür und öffnete. Ich nutzte die Gelegenheit, um den Rest von meinem Teller zurück in den Topf zu füllen. Schade, dass wir keinen Hund hatten, dem ich den Großteil meiner Frikadelle hätte überlassen können.

      «Louise?! Es ist für dich!», rief Rüdiger und kam zurück ins Wohnzimmer. Dann war es vermutlich Dora, die auf dem Rückweg nach der Schule noch schnell nach mir sehen wollte. Sie hatte die Woche über dreimal angerufen, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen und mir mitzuteilen, dass es ohne mich in der Schule ganz schrecklich war. Ich fragte mich wirklich, was das Kind vor meiner Rückkehr gemacht hatte.

      Seufzend biss ich von der Frikadelle ab, ehe ich aufstand und in den Flur schlurfte. Das Essen blieb mir im Halse stecken, als ich Lennard in der Tür stehen sah. Mein Herz blieb stehen, mein Magen fing an zu rebellieren und ich hustete fürchterlich los, weil ich mich verschluckte.

      «Alles klar?», fragte er und beäugte mich schräg mit seinen grasgrünen Augen. Ich würgte irgendwie den Fleischkloß hinunter und ging weiter bis zur Tür.

      «Klingt, als hättest du Tuberkulose, Kind!», rief der Maskaron über der Tür. «Tante Henriette klang genauso und einige Wochen später war sie tot. Damit ist nicht zu spaßen!»

      Ich stöhnte genervt auf und Lennard verzog das Gesicht. «Das ist ja ätzend.»

      Irritiert sah ich ihn an.

      «So ein freundlicher Empfang.» Er lächelte spöttisch. «Ich hab dir was mitgebracht.» Er hielt je einen Reifen in seinen Händen. «Ich dachte, die könntest du gebrauchen.»

      «Danke», murrte ich, weil ich wusste, dass mein Vater uns hören konnte.

      «Gern geschehen», grinste Lennard. «Wenn du willst, zieh ich sie dir gleich auf.»

      «Das ist wirklich nicht nötig», brachte ich zwischen zugekniffen Zähnen hervor.

      «Ich mache das gerne», nickte er. «Dauert nicht lange.»

      Ich hatte schon den Mund aufgemacht, um ihm zu sagen, dass er zur Hölle fahren solle, als mein Vater wieder in den Flur trat. «Das ist wirklich nett von dir, Lennard», sagte er lächelnd und schob sich an mir vorbei zur Tür. «Ich muss nämlich zu meiner eigenen Schande gestehen, dass ich handwerklich absolut unbegabt bin.»

      «Kein Problem, Herr Engel.» Lennard lächelte sein schönstes Schleimerlächeln und ich tat hinter dem Rücken meines Vaters so, als müsste ich mich übergeben. Lenny lachte bloß.

      «Ich muss wieder zurück in den Laden, Louise. Wieso bietest du Lennard nicht was zu trinken an? Bis später, Liebling.» Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn und ging an Lennard vorbei durch den kleinen Vorgarten und in Richtung Innenstadt.

      «Klar, gern!», rief ich, bis mein Vater um die nächste Ecke verschwand und außer Sichtweite war. «Wir haben bestimmt irgendwo noch ein bisschen Rattengift im Schrank.»

      «Unerhört unverschämt ist dieses Gör. Vielleicht geschieht es ihr Recht, an Tuberkulose zu verenden.» Gott, wie gerne ich dieses dämliche Fratzengesicht angeschrien hätte.

      Lennard lachte los. «Ich hab gehört, du warst krank. Dabei siehst du eigentlich ganz fit aus.» Er beäugte mich schräg. «Abgemagert und übermüdet, aber das scheint ja bei dir Dauerzustand zu sein.»

      «Ich hatte meine Tage», fauchte ich und kreuzte die Arme vor der Brust. Lennard zog fragend eine Augenbraue hoch. «Ich dachte, die habt ihr Mädels immer nur, wenn es ums Zirkeltraining beim Sportunterricht geht?»

      «Geht dich das irgendwas an, wieso ich zu Hause bleibe?!»

      «Wenn es wegen mir ist, dann schon», antwortete er kühl. Ich schnaubte laut auf. «Glaubst du wirklich, du hättest auch nur den geringsten Einfluss auf mich? Du bist mir scheißegal, Lenny!»

      «Sie redet, als würde sie aus der Gosse kommen», kommentierte der Maskaron unaufhörlich weiter. «So etwas Unerzogenes habe ich meine Lebtage noch nicht erlebt.»

      «Ska…» Lennard sah mich unentschlossen an und machte einen Schritt auf mich zu. Ich wich ganz automatisch zurück.

      «Nenn mich nicht so!»

      «So hab ich dich immer genannt», erwiderte er.

      «Weißt du, du kannst die Reifen einfach im Garten liegen lassen, ich hab noch eine Menge zu tun.» Ich griff nach der Türklinke, auch wenn ich ihm dafür beängstigend nah kommen musste, weil er sich so weit in den Eingang geschoben hatte. Er sah zu mir runter, öffnete den Mund, als würde er noch was sagen wollen, entschied sich dann aber doch noch um und ging zurück zur Tür.

      «Schicker Fratzenkopf, übrigens», spottete er mit einem Blick über den Türrahmen und zog die Tür hinter sich zu, sodass die lauten Proteste von dem Maskaron nur noch gedämpft zu mir durchdrangen.

      Ich stand reglos im Flur und lauschte meinem viel zu schnellen Herzschlag, während meine Beine allmählich zu Pudding mutierten, und ich unfähig war, auch nur einen Schritt zu gehen. Ich hörte, wie jemand draußen im Vorgarten rumwerkelte und ich war mir sicher, dass Lennard die dämlichen Reifen doch noch auf mein Fahrrad zog, einfach weil er nun mal so war.

      «Scheiße», flüsterte ich und drückte mir die Handballen auf die Augen. Irgendwie schaffte ich es wieder ins Wohnzimmer und dort auf die Couch, wo ich mich zusammenkrümelte und auf die Geräusche aus dem Vorgarten lauschte. Erst, als es still war, beruhigte ich mich langsam wieder.

      Als mein Vater nach Hause kam, saß ich immer noch dort. «Hallo!», rief er erstaunt, weil ich sonst meistens oben in meinem Zimmer war, wenn er heimkam. «Hast du einen schönen Nachmittag gehabt? Dein Fahrrad sieht ja wieder aus wie neu!»

      Ich nickte stumm, weil ich dazu einfach nichts sagen konnte. Meine Kehle fühlte sich rau und ausgetrocknet an und der Durst trieb mich irgendwie auf die Beine und in die Küche.

      «Ich glaub, ich komm morgen doch mit», sagte ich nach einigen großen Schlucken Wasser. Rüdiger starrte mich überrascht an. «Was?»

      «Ich komme mit. Nach Hannover», fügte ich also vorsichtshalber hinzu.

      «Wirklich?» Er schien sich darüber aufrichtig zu freuen. «Das ist gut. Wir müssen uns nämlich auch bald mal überlegen, ob wir das Haus verkaufen oder vermieten wollen und du willst es sicherlich nochmal sehen und alles mitnehmen, was du behalten willst.»

      „Verkauf es ruhig, ich will es nicht und das Geld können wir sicher gut gebrauchen.“ Mein Vater bedachte mich mit einem sorgenvollen Blick, offenbar war es ihm unangenehm, dass ich mittlerweile alt genug war, um zu begreifen, dass sein Laden nicht allzu viel abwarf. Für ihn alleine mochte das gerade reichen, aber da er mich jetzt auch noch mitfinanzieren musste, war das etwas andres.

      Ich rang mir ein lächeln ab. Die Wahrheit war, dass ich noch genauso wenig Lust hatte, unser altes Haus zu betreten, wie vorher. Aber meine Angst, den ganzen Tag hier alleine zu bleiben und einen erneuten

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