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dieser Nacht. Ich träumte unruhig von meiner Ma und von Lennard und ich wachte irgendwann um zwei Uhr schweißgebadet mit rasendem Herzen wieder auf. Meine Haare klebten mir überall im Gesicht und mein Gaumen fühlte sich trocken und taub an. Mit zittrigen Beinen stand ich auf und taumelte ins Bad, um mir etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen und davon zu trinken.

      Als ich wieder in mein Zimmer kam, saß der Engel auf meinem Kopfkissen und sah mich abwartend an. «Du hattest einen bösen Traum», hauchte sie leise. Ich nickte stumm und ließ mich wieder ins Bett fallen.

      «Ich werde für dich singen!», rief Ramona enthusiastisch und ich war zu erschöpft, um dagegen zu protestieren. Der kleine Engel hatte eine helle, glockenklare Stimme und sie sang eines der Lieder, die mir meine Mutter als Kind immer vorgesungen hatte. Ich erinnerte mich nur noch sehr vage an die Melodie, aber sie war wunderschön und sie machte mich schläfrig und beruhigte mich irgendwie.

      Kapitel 5

       «Das ist Bodo», stellte ich Lennard meinen neuen Freund vor. «Er war beim Zirkus und eine der angesehensten Attraktionen, aber dann haben sie ihn herzlos rausgeschmissen, weil sie einen Ersatz für ihn hatten, der weniger Geld verlangt hat. Deswegen war er ziemlich traurig, aber dann hat er seine Liebe zur Mathematik entdeckt und jetzt rechnet er den ganzen Tag.» Ich grinste breit und Lennard sah neugierig zu der Clownspuppe herüber. «Wirklich? Sie sind Mathematiker?! Ich kann Mathe nicht ausstehen! Mein Vater sagt, ich bräuchte dringend Nachhilfe.»

       «Das könnte ich doch übernehmen!», rief Bodo vergnügt.

       «Er würde dir helfen», erklärte ich Lennard und dieser lächelte. «Das wär ja supercool!»

       «Es wäre mir eine Ehre!» Bodo nickte und ich strahlte von einem zum anderen.

      Als ich das nächste Mal aufwachte, war es bereits hell draußen und man konnte das Zwitschern der Vögel hören und den Maskaron, der irgendwelche bissigen Kommentare zu vorübergehenden Passanten abgab.

      Ich schleppte mich ins Bad und duschte ausgiebig, ehe ich mir saubere, hellgraue Jeans und einen blauen Pullover überzog. Meine schwarzen Sachen waren allesamt aufgebraucht und ich nahm mir vor, nach unserer Rückkehr Wäsche zu waschen.

      Mein Vater saß bereits am Frühstückstisch und las Zeitung. Als ich runterkam, lächelte er gut gelaunt. «Ich hab uns Lunchpakete fertiggemacht, falls wir unterwegs Hunger bekommen.»

      «Das ist super, Paps», nickte ich und beschloss, optimistisch zu bleiben. Ich würde Lennard den ganzen Tag nicht sehen müssen. Das war etwas Gutes. Ein Grund, um fröhlich zu sein.

      Die Fahrt nach Hannover verging größtenteils schweigend. Mein Vater war nicht der große Redner und ich war froh, als er das Radio anstellte und ich meine Kopfhörer aus meiner Umhängetasche holen konnte.

      Wir tuckerten ewig hinter einem Lastwagen auf der Landstraße her, den mein Vater nicht überholen wollte, und brauchten insgesamt fast anderthalb Stunden bis nach Hannover.

      Dann endlich erreichten wir die Innenstadt. Es war seltsam, wieder hier zu sein. Obwohl mir die Straßen und die Gebäude alle vertraut waren, wirkte die Stadt kalt und fremd auf mich.

      Schließlich fuhren wir in die Auffahrt zu unserem alten Haus hoch. Es sah noch genauso aus, wie ich es damals verlassen hatte. Das alte Backsteinhaus mit den beiden kleinen Fenstern vorne und der angrenzenden Garage und dem sonst eigentlich eher verwilderten Vorgarten. Aber der Rasen schien gemäht worden zu sein.

      Seufzend schnallte ich mich ab und stieg unsicher aus dem Auto. Es war komisch, wieder hier zu sein. Mit Paps, aber ohne meine Ma.

      Mein Vater eilte voran zur Haustür und schloss sie auf, ehe ich ihm folgte.

      Es war kalt drinnen, man merkte, dass es seit einigen Wochen unbewohnt war. Mein Vater hatte offenbar schon einige Sachen zusammengeräumt, ein paar Kisten standen im Flur herum.

      Aber ihre Jacke hing noch an der Garderobe, direkt neben ihren zahlreichen Handtaschen, über die ich mich immer lustig gemacht hatte. Ihre Schuhe standen vor dem Schuhregal, weil sie sich nie die Mühe gemacht hatte, sie tatsächlich reinzustellen.

      Unsicher ging ich weiter durch die geräumige Küche, die wir so selten benutzt hatten, und weiter ins Wohnzimmer. Das Foto von uns beiden auf dem Sommerfest meiner Schule thronte auf der Anrichte und ich nahm es und steckte es in meine Tasche, ohne es genauer zu betrachten.

      Ich machte mir nicht die Mühe, ins Gästezimmer und ins Bad unten zu sehen, sondern ging direkt weiter nach oben und in mein altes Zimmer. Es sah komisch aus, ohne Bett und den Kleiderschrank und bis auf das Ecksofa, meinen riesigen Schreibtisch und ein paar Regalen war nichts mehr davon übrig. Nur die hellblaue Tapete mit den Delfinen drauf, die mir meine Mutter bei unserem Einzug hier ausgesucht hatte, war immer noch da.

      Wehmütig strich ich mit den Fingern über die Delfine und dachte daran zurück, wie sie im Zimmer umhergeschwommen waren. Ich zuckte zurück, als sich das aufgemalte Tier unter meinen Fingern bewegte und auf der Wand entlang bewegte. Ich lief drei Schritte rückwärts und starrte wie benommen auf die Wand, auf der sich die Delfine durchs Wasser bewegten.

      Ich sah zu, dass ich aus dem Zimmer kam, ging ins Bad und suchte noch ein paar meiner Sachen zusammen, die mein Vater vermutlich nicht mit denen meiner Mutter hatte auseinanderhalten können.

      Rüdiger wuselte irgendwo unten im Haus herum, also ging ich alleine weiter ins Fernsehzimmer und überlegte, wie ich meinen Vater davon überzeugen konnte, das Gerät einzupacken. Ab und zu sah ich ganz gern mal irgendeine Sendung. Es half einem, über nichts nachdenken zu müssen.

      Seufzend verwarf ich den Gedanken wieder und betrat den letzten Raum im Haus. Ihr Schlafzimmer war völlig unberührt, sogar ihr Bett war nicht gemacht worden. Es sah so aus, als wäre sie gerade erst aufgestanden. Überall roch es nach ihr und mein Magen zog sich zusammen, als ich den Raum betrat.

      Mir stoben die Tränen in die Augen, ohne dass ich es hätte verhindern können. Mit zittrigen Fingern griff ich nach ihrem Kopfkissen und vergrub mein Gesicht darin.

      Auf ihrer Kommode stand ein Foto von mir zwischen all ihren Parfümflaschen und Schmuckschatullen. Ich öffnete einige davon, ohne irgendetwas zu entdecken, das ich wiedererkannte.

      Erst in der letzten Schublade fand ich eine kleine, sehr fein gearbeitete Brosche, die ich als Kind immer bewundert hatte und bei der meiner Mutter mir jedes Mal wieder versprochen hatte, dass sie eines Tages mir gehören würde. Jetzt im Nachhinein kam mir das grausam vor und ich hätte alles dafür gegeben, diese dämliche Brosche gegen das Leben meiner Mutter einzutauschen. Aber ich wusste, dass das nicht gehen würde. Meine Ma war weg. Für immer.

      Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich musste dringend hier raus. Mit einem Satz war ich auf den Beinen, rannte die Treppe hinunter und stürmte aus der Haustür. Erst, als ich draußen an der frischen Luft war, schnappte ich mehrmals nach Luft und lehnte mich an die kalte Hauswand.

      «Alles okay, Louise?» Mein Vater sah besorgt aus, als er durch die Tür kam. Ich nickte stumm und schloss einen Moment die Augen. «Können wir wieder los, Pa?»

      «Natürlich, Liebes. Wenn du das willst.» Er verschwand wieder im Haus, um die Kiste mitzunehmen, die er zusammengeräumt hatte.

      «Ich habe noch einen Termin bei einer Maklerin, die mir helfen wird, das Haus zu verkaufen. Soll ich dich am Friedhof absetzen, damit du das Grab besuchen kannst?»

      «Nein. Bloß nicht.» Ich war kein Fan von Friedhöfen. Zum einen hielt ich nicht viel davon, Leute zu besuchen, die sowieso schon tot waren und davon nichts mehr mitbekamen. Auch wenn es meine Ma war. Ich verband mit ihr alles, aber keinen Friedhof und so sollte es auch bleiben. Und außerdem hatte ich mal eine furchtbare Halluzination von einer Leiche gehabt, die aus ihrem Grab gestiegen war und auf mich zugekommen

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