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verschont hatte. Er sprach nicht, aber seine Augen verrieten eine fanatische Entschlossenheit. Diese Szenen waren in sein Gedächtnis eingebrannt, und Arthur betrachtete sie mit wachsendem Entsetzen. Denn der brave Junge hatte einen Plan, und er sah ihn deutlich vor sich: So lange am Leben zu bleiben, bis das treibende Boot bemerkt wurde. Dazu gab es keine Alternative.

      Die Männer an Bord hatten den Wasservorrat fast aufgebraucht, als die nächste Nacht hereinbrach. Den harmlosen Jungen, der sich schlafend stellte, beachteten sie nicht weiter. Ein Fehler.

       Die Halsschlagader eines Menschen liegt nicht sehr tief, so dass er mit dem kurzen Messer gut zurecht kam, das er unter der Achsel versteckt gehalten hatte. Er postierte sich so über den Schlafenden, dass er sie mit schnell hintereinander ausgeführten Stichen allesamt ausschalten konnte. Niemand leistet mehr Widerstand, wenn seine Halsschlagader durchtrennt ist. Das Gehirn benötigt Blut, um einen Plan zu ersinnen und die nötigen Befehle an die Muskeln zu schicken. Nach kurzem Tumult war Ruhe, nur die Frauen begannen wieder zu wimmern, was ihn mehr und mehr irritierte.

       Der Medizinmann seines Dorfes hatte ihm einmal eine wichtige Lektion erteilt, wie man bei Wassermangel überleben konnte. Blut bestand zu einem Großteil aus Wasser. Und eine frische Leber war reich an allen Nährstoffen. Nach und nach hatte er seine Mitreisenden ausgeweidet und so überlebt. Es ging nur noch ums Überleben, kein anderer Gedanke wagte sich mehr in sein Bewusstsein. Arthur würgte erneut, aber es war nichts mehr drin, was hätte erbrochen werden können. Was nicht gut war, denn er hatte damit natürlich auch kostbare Flüssigkeit verloren. Endlich konnte er sich dazu durchringen, die Augen zu öffnen. Es war später Vormittag, das Boot schaukelte gemütlich auf den Wellen des weiten Mittelmeeres, der Horizont eine perfekte ununterbrochene Linie einmal um ihn herum. Ein Anblick, den man selten hatte. Man musste sich dazu auf einem kleinen Boot ohne Aufbauten mitten im Meer befinden. Irgendwo jenseits dieser imaginären Linie musste sie liegen, die Insel der Glückseligen.

      Wollte er noch dahin?

       Im Grunde wollte er nur seine Mama wieder in die Arme schließen, ihr zuflüstern, dass alles gut würde und er die besten Ärzte bezahlen konnte. Denn das war es ja, was ihn fort getrieben hatte – die böse Geschwulst in ihrer Achselhöhle, mittlerweile faustgroß, die dringend operiert werden musste. Doch das war teuer, und damit ein Todesurteil.

      Marlec wollte es nicht zulassen. Nichts würde ihn stoppen!

       Sein Blick richtete sich wieder auf das Boot und seine verbliebenen Passagiere. Er hatte sie tüchtig dezimiert, aber immer im Dienste der guten Sache, darauf bestand er. Man konnte ihm nichts vorwerfen, an seinem Überleben hing auch das seiner Mama. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase, als der Wind sich drehte. Von einer Plane beschattet begannen die Überreste seiner letzten Mahlzeit zu gären, man würde sich der Reste entledigen müssen. Er zog die blaue Plane zurück und betrachtete seinen Mitreisenden. Die Bauchdecke war komplett geöffnet und alle inneren Organe verschwunden. Der Rest war ohne Feuerstelle leider ungenießbar. Marlec, der Krieger, schleifte den ausgehöhlten Körper zur Bordwand und kippte ihn darüber, wo er bereits erwartet wurde. Denn sie hatten seit einiger Zeit ständiges Geleit, was an den „Essensresten“ liegen mochte, die in regelmäßigen Abständen über Bord gingen. Auch dieser Körper trieb nur etwa eine Minute ungestört auf dem Wasser, bevor er zu tanzen begann. Ein wahrhafter Totentanz, Arthur starrte wie gebannt zu dem makaberen Schauspiel hinüber, als aus der Tiefe hervorstoßende Schatten sich der menschlichen Hülle bemächtigten, und sie schließlich für immer zu sich hinab zogen. Dann war es wieder still an dieser Stelle des Ozeans. Vom Bug her war nur noch ein vereinzeltes Wimmern zu hören, unterbrochen von rasselnden Atemgeräuschen.

      Von den acht Frauen, die dort vorne zusammen gekauert hatten, schienen es sieben so gut wie hinter sich zu haben. Dass überhaupt noch eine wimmerte, war schon erstaunlich, denn es war doch viel Zeit vergangen, seitdem der traurige Haufen ausgemergelter Gestalten, dem auch er selbst angehörte, dieses bessere Schlauchboot bestiegen hatte. Arthur konnte es aus Marlecs Gedächtnis heraus nicht genau datieren, aber sie waren wohl bereits um die zehn Tage unterwegs. Auf hoher See eine Unendlichkeit.

      Geregnet hatte es nie, das Wasser war seit einer Woche aufgebraucht. Sein Blick heftete sich nun auf die letzte Quelle menschlicher Geräusche an Bord. Es handelte sich um ein junges, offensichtlich schwangeres Mädchen. Die sind wohl besonders zäh, war einer von mehreren Gedanken in seinem Kopf. Eine Welle des Mitleids durchflutete ihn, er wollte zu dem Mädchen gehen und ihren Kopf in seinen Armen wiegen, dabei eine Möglichkeit ersinnen, ihr Leben zu retten, irgendeinen Ausweg zu finden aus dieser Wasserhölle, die einer Trockenwüste gleichkam, und unglücklich Verirrte in ihrem tödlichen Schoß verdursten ließ. Und warum passierte das alles?

      Weil es illegal war, die Insel der Glückseligen zu betreten, dachte er bitter. Wobei sich eine Frage aufdrängte: Was, bitteschön, hatten die Bewohner jenes Paradieses dafür getan, um dort sein und bleiben zu dürfen?

      Die Antwort fiel kurz und knapp aus: Sie waren dort geboren worden!

       Das ist kein persönlicher Verdienst, sondern reiner Zufall. Sie hatten den Jackpot in der Geburtsortslotterie geknackt, nicht mehr und nicht weniger. Was zum Teufel gab ihnen also das Recht, anderen, die in jener Lotterie eine Niete gezogen hatten, den Zutritt zu diesem Wellnessbereich der Erdoberfläche zu verwehren?

      Woher nahmen die Erstweltler dieses Selbstverständnis, dieses Gefühl der Berechtigung? Wo sie doch selbst absolut nichts dafür getan hatten, außer, aus dem richtigen Bauch gezogen worden zu sein? Man stelle sich nur einmal die Absurdität dieser Situation vor! Arthur entsann sich einer Dokumentation über die Philippinische Hauptstadt Manila, in der auch die Müllmenschen thematisiert worden waren. Die Bewohner der städtischen Müllkippe, in schäbigen selbstgebauten Wellblechhütten am Rande des giftigen Unratgebirges lebend, ohne Schulbildung für die Kinder, ohne medizinische Versorgung. Eine kleine Infektion konnte bereits den Tod bedeuten. Nur mal angenommen, ein Familienvater vor Ort hätte nun den Entschluss gefasst entweder zu sterben oder ein neues Leben zu beginnen, hätte seine Wellblechhütte abgerissen und ein Boot daraus gebaut, mit Frau und Kindern selbiges bestiegen und wäre unter größtem Risiko auf das Festland übersetzt, um sich dann über tausende Kilometer Fußmarsch bis an die Grenze Europas durchzuschlagen. Mit Frau und Kindern. Eine heroische Leistung. Die Reaktion des christlichen Abendlandes würde nicht lange auf sich warten lassen. Da es sich bei ihm und seiner Familie eindeutig um sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ handelte (die Philippinen gelten als sicheres Herkunftsland, trotz unmenschlich geführtem Anti-Drogen-Krieges) hätten sie keinerlei Aussicht auf Asyl und würden abgeschoben. Mit anderen Worten, man würde sie in ein Flugzeug setzen und am Zielort über ihrer Müllhalde auskippen, mit dem nachdrücklichen Hinweis doch bitte dort zu bleiben, in Europa hätte man keinen Platz für Sozialschmarotzer. Das aus dem Munde von Menschen, die durch reinen Zufall an ihren privilegierten Wohnort gekommen sind. Diese Dreistigkeit und Selbstgefälligkeit der Ersten Welt wurde Arthur an diesem Tag, in diesem Boot, zum ersten Mal so richtig klar. Was bildeten sie sich eigentlich ein? Verschärfend kam noch hinzu, dass es ja die Industrieländer gewesen waren, die durch ihre maßlose Ausbeutung und Verschmutzung der Natur sowie durch ihre Handelspolitik die Lebensumstände der Flüchtenden soweit verschlechtert hatten, dass diese keinen anderen Ausweg mehr sahen. Kopfschüttelnd dachte er an den „weißen Abfall“, den die selbstherrlichen Erstweltler gönnerhaft hinaus in die Welt warfen. „Nehmt, ihr Armen dieser Welt, nehmt, wir geben euch gerne, und seht, was wir für gute Menschen sind!

      Marlec wusste nichts von den Müllmenschen Manilas, er hatte noch nie eine Fernsehdokumentation darüber gesehen oder gar über den globalen Handel reflektiert, alles was ihn trieb war die kalte Entschlossenheit seine Mutter zu retten.

      Vom Durst geplagt drängte er den Besucher in seinem Kopf zurück und Arthur ließ es geschehen, er hatte keine Wahl. Wenn die Instinkte das Ruder ergriffen war die Zeit der gepflegten Debatte vorüber.

      Nichts würde ihn stoppen! Nichts!!

      Und er war sehr durstig. Sehr, sehr durstig.

      Sein kleines Messerchen lag wie ein alter Freund in seiner Hand, als er mit glänzenden Augen auf das wimmernde, schwangere Mädchen zuging.

      Der Wanderer schloss die

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