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Wieder einer dieser Tage. Reiner Jansen
Читать онлайн.Название Wieder einer dieser Tage
Год выпуска 0
isbn 9783750219168
Автор произведения Reiner Jansen
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Und er sah viele dunkelhäutige Menschen in dieser erinnerten Szenerie herum wuseln, nicht wenige davon kleine Kinder. Wenn es auf diesem Planeten an irgendetwas keinen Mangel gab, dann waren es Kinder. Sie resultierten aus dem einzigen Vergnügen, das an manchen Orten der Welt möglich war, und fungierten zugleich als Stütze und Absicherung im Alter.
Ohne ein staatliches Rentensystem war zahlreicher Nachwuchs eine Art private Vorsorgeleistung, genau genommen die älteste Rentenversicherung der Welt. Dass ein gewisser Prozentsatz jener fröhlichen Kinderschar das vierten Lebensjahr nicht erreichte, sei es wegen fehlender Nahrung, verschmutztem Wasser oder ungenügender medizinischer Versorgung, förderte noch zusätzlich die Neuproduktion, um die zahlreichen Ausfälle auszugleichen. Im Rahmen einer Klima-Debatte hatte er einmal die These gehört, dass der effektivste Umweltschutz im Verzicht auf Kinder bestünde.
Sehr kontrovers, sicherlich, aber nicht ganz unwahr: Wer nur einen dieser außerordentlich Energie-intensiven Erstweltbewohner einsparte, indem er beispielsweise auf ein drittes Kind verzichtete, der konnte stattdessen für den Rest seines Lebens mit zwei SUVs gleichzeitig zum Kreuzfahrtschiff fahren, und hatte immer noch CO2 eingespart. Doch in der dritten Welt war das dritte Kind ein geringeres Problem. Ein Drittweltler verbrauchte nur einen Bruchteil an Energie, konnte aber in seinem relativ kurzen Leben viele schöne Dinge für die Erstweltler produzieren.
Die Würde des Menschen war nicht nur antastbar – sie wurde permanent angetastet, überall auf der Welt, millionenfach.
Arthur schauderte bei dieser Sichtweise, aber sie ließ sich schwer entkräften. Ein Menschenleben war eben immer nur so viel wert, wie die jeweilige Gesellschaft ihm beimaß – oder sich beizumessen leisten konnte. Augenscheinlich spielten die meisten seiner Kindheitserinnerungen in dieser charmanten Umgebung, die aus jeder Perspektive für das Plakat einer Hilfsorganisation hätte Modell stehen können. Es fehlten nur die nackten Kleinkinder mit den Wasserbäuchen, ansonsten stand einem reichlichen Spendenaufkommen nichts im Wege. Er sah seine eigene Hütte von außen und von innen, mit dem undichte Dach, und fühlte die brütende Hitze zur Mittagsstunde. Seine Geschwister und er schliefen auf dem Boden, verrichteten ihre Notdurft in selbst gegrabenen Löchern unweit der Hütte und holten Wasser aus einem entfernten Brunnen, der manchmal nur eine bräunliche Brühe zu Tage förderte. Oft war er krank gewesen, hatte Bauchschmerzen, Ausschlag und Fieber gehabt, ohne dass je eine medizinisch vorgebildete Person einen Blick auf ihn geworfen hätte. Einmal hatte er eine kleine Schwester begraben müssen, die Ursache ihres Todes war ihm unbekannt geblieben. Doch zur Verwunderung Arthurs waren viele fröhliche Erinnerungen in seinem Gedächtnis abgespeichert, es war alles relativ, so stellte er immer wieder fest. Der Mensch maß sein eigenes Glück stets am Glück, der unmittelbaren Nachbarn. Ging es denen ebenso dreckig, war alles in Ordnung. Doch was war der Grund für diese Armut, unter deren schäbiger Flagge er sein ganzes bisheriges Leben gesegelt war? Er erinnerte sich noch, dass seine Mutter früher in einer kleinen Näherei gearbeitet hatte, die Kleidung herstellte. Einige der Nachbarn hatten sich zusammengetan und eine Geflügelzucht betrieben, zumindest glaubte Arthur das aus Erinnerungsfetzen entnehmen zu können.
Verblasste Bilder, die er mit Mühe herauf zu beschwören vermochte, während er, immer noch mit geschlossenen Augen, in diesem Boot lag, dessen Ziel ihm noch schleierhaft war.
Zunächst war es mit dem Geflügel zu Ende gegangen, er war noch sehr klein gewesen und hatte nicht verstanden, was die Älteren beklagten. Nur das geflügelte Wort vom „weißen Abfall“ hatte sich in sein Gehirn eingebrannt. Denn es sollte ihm einige Jahre später ein weiteres Mal begegnen, der „weiße Abfall“, diesmal im Zusammenhang mit der Schließung der Näherei und damit einhergehend der Arbeitslosigkeit seiner Mutter. Danach waren es wirklich schwere Zeiten gewesen, zeitweilig hatten sie in der Stadt gebettelt, so sehr hatten die Mägen geknurrt. Erst als junger Mann hatte er verstanden, was mit „weißem Abfall“ gemeint war: Die billigen Importe von Fleischresten aus der Tiermast sowie Bergen von schäbigen Altkleidern aus den reichen Teilen der Welt, in denen jene weißhäutige Menschen lebten, die sich mit der Verschiffung ihres Unrats, des „weißen Abfalls“, ihr Gewissen zu erleichtern versuchten. Denn war es nicht ein Zeichen vorzüglicher Menschlichkeit, den Ärmsten dieser Welt Nahrung und Kleidung zukommen zu lassen?
Marlec, so war sein heutiger Name, konnte bei diesem Gedanken nur bitter grinsen und die Faust in der Tasche ballen. Diese scheinheiligen Bastarde! Man sollte ihnen ihren Abfall in die weißen Ärsche stecken!
Arthur war erschüttert von dem Effekt, den die „Hilfe“ aus Europa in seiner gegenwärtigen Heimat hatte. An diese Möglichkeit hatte er noch nie gedacht, angesichts der Bilder von hungrigen, zerlumpten, dunkelhäutigen Kindern, wie sie vor allem zur Weihnachtszeit in vielen Fernsehspots von wohltätigen Organisationen zu sehen waren. Selbstverständlich gab es wieder eine Kehrseite der Medaille, wie sollte es auch anders sein? Die daraus resultierende Not großer Teile der Bevölkerung war teils in Resignation, teils in Wut auf diese gönnerhaften weißen Herrenmenschen umgeschlagen, weshalb sich die lokalen Vertreter dieser Organisationen der Wohltätigkeit schon lange nicht mehr ohne bewaffnete Bodyguards außerhalb ihrer umzäunten Gebiete sehen ließen, - sie wussten schon warum. Auch wenn die Mitarbeiter und freiwilligen Helfer wirklich nur beste Absichten hatten, waren sie doch nur der verlängerte Arm jener zynischen Almosenindustrie.
Aber auch diese Entwicklung hatte die Menschenmassen noch nicht in Bewegung gesetzt. Wohin auch?
Es hatte zwar Gerüchte gegeben über diesen paradiesischen Kontinent, in dem Milch und Honig flossen und jeder in einer sauberen Wohnung mit fließendem Trinkwasser wohnte, aber diese muteten so fantastisch an wie die alten Mythen die von Riesen, Drachen und Seeungeheuern handelten. Niemand hatte sie wirklich geglaubt, die Erzähler waren belächelt worden. Dann war der Vorhang unvermittelt weggerissen worden und hatte den Blick freigegeben, in eine Welt wie aus einem Fantasy-Roman, bevölkert mit Menschen deren Lebenswirklichkeit so weit von der eigenen entfernt war, dass es geradezu absurd erschien.
Der Überbringer der frohen Botschaft trug den Namen Steve Jobs.
Das Smartphone war in Afrika und allen anderen „Problembezirken“ der Erdoberfläche angekommen. Es sollte die Welt verändern. Mehr als sein Erfinder gedacht hätte. Arthur sah sich fasziniert auf das Display eines solchen wundersamen Gerätes blicken, der Dorfälteste hatte eines organisiert, inklusive eines Internet-Zugangs, der zwar elend langsam, aber ausreichend war. Ausreichend, um die Insel der Glückseligen als realen Sehnsuchtsort in den Köpfen der ausgemergelten Menschen zu verankern, die einen Blick darauf erhaschen konnten.
„Dort gibt es Arbeit für alle“, hieß es schnell.
Man konnte dort zu Wohlstand gelangen und Geld in die Heimat schicken, somit zu einem Helden werden, einem hochgeachteten Mitglied der Dorfgemeinschaft. Welcher kleine Junge träumte nicht davon, seiner Mutti einmal schöne Dinge schenken zu können, über die sie sich freute und ihr Leben erleichterten. Denn ein Gefühl dafür, dass die Dinge hier wirklich schlecht liefen, trug jeder in seinem Unterbewusstsein mit sich herum. Das Überleben in der Armut war vor allem an Verdrängung geknüpft, und dieser Mechanismus wurde durch die bunten Bilder aus der sogenannten „Ersten Welt“ empfindlich gestört. Die unvermeidliche Folge: Scharen junger Männer, darunter halbe Kinder, verabschiedeten sich unter Tränen von ihren Müttern und machten sich auf den Weg. Einer von ihnen war er selbst gewesen. Arthur spürte die Tränen seiner Mom an seiner Wange, die Wärme ihrer letzten Umarmung, ihren schnellen Herzschlag und hörte ihre Abschiedsworte: „Pass auf dich auf, mein kleiner Krieger. Meine Liebe wird dich immer begleiten und beschützen.“
Er war losgelaufen ohne sich noch einmal umzudrehen, den Blick verschleiert von Tränen gen Norden gerichtet, sein kleines Bündel mit Reiseproviant über die Schulter baumelnd.
Er musste es schaffen, er war es ihr schuldig. Niemand würde ihn aufhalten können. Die Gier nach einem besseren Leben für seine Mutti hatte seine Sinne vernebelt, wie trunken schritt er aus um das Glück zu finden, nicht ahnend, dass Glück nicht für Alle bestimmt war, sondern das