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Die Nahrungsbrocken verschlang er geruhsam, ohne jede Hast oder Gier. Business as usual, auch wenn die Mahlzeit eine ungewöhnliche Herkunft hatte für einen Tiefsee-Hai. Menschen. Roh und am Stück.

      Nicht einmal Zeit für einen einzigen Schrei war ihnen geblieben.

      Die im roten Wasser herum wirbelnden abgetrennten Gliedmaßen ignorierend drehte der Fisch ab, weg vom Strand. Zurück zur Riffkante. Diese gespenstische Ruhe in der Lagune begann ihm ohnehin auf die Nerven zu gehen.

      Er fühlte sich von der Welt abgeschnitten.

      Er fühlte sich…einsam?

      Ein Einzelgänger, an dessen Schicksal ohnehin niemand Anteil nahm.

      War das nicht irgendwie traurig?

      Er war sich nicht sicher. Das Konzept der Trauer war ihm schleierhaft.

       Ein Oberschenkelknochen hatte sich zischen zwei der oberen Zahnreihen verhakt und störte seine trägen Gedanken. Der Fisch bewegte die Kiefer mehrmals auf und zu und löste den Knochen schließlich durch Scherbewegungen seines Maules. Von diesem kleinen Problem abgelenkt hatte er das Riff wieder überschwommen und bewegte sich nun wieder in tieferem Wasser. Ihm war auch leicht schwindelig, fast so als wäre er high, auch wenn dieses Konzept der Selbst-Intoxikation in seinem aktuellen Gehirn auf keinerlei Verständnis traf. Es fiel ihm aber zunehmend schwer, sich zu konzentrieren.

      Die Ankerkette, die wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte, hätte er sonst sicher nicht übersehen. Derartige Hindernisse hatte die Evolution nicht vorhergesehen, daher war sein Gehirn unvorbereitet.

      Im letzten Moment gelang es ihm noch, zumindest die empfindliche Nasenspitze wegzudrehen. Einen Sekundenbruchteil später rauschte er seitlich mit dem Kopf gegen den gegliederten Metallstrang, der sich in der Tiefe verlor. Diesmal spürte er Widerstand.

       Der Anker lag am Meeresgrund fest zwischen Felsen verspreizt und hielt die Kette straff, die wiederum das Segelboot über ihm in Position hielt.

      Die Wucht des Aufpralls ließ das Boot einen plötzlichen Satz zur Seite tun, während es von der getroffenen Ankerkette steuerbord tief ins Wasser herabgezogen wurde. Es kenterte nicht, doch die Schläfer in seinem Rumpf würden noch in ferner Zukunft von diesem denkwürdigen Ereignis erzählen, als eine Urgewalt das Schiff so in Schräglage brachte, dass es über die Steuerbordseite Wasser aufnahm, bevor es zurückschnellte.

      Der Körper des Fisches rutschte an der Kette entlang und löste sich schließlich mit einem weiteren energischen Schlag seiner Schwanzflosse, bei der er nochmals unsanft die Ankerkette traf.

      Zuvor hatte er sich nur leicht gestoßen.

      Diesmal spürte er echten Schmerz, der sein Gehirn durchflutete. Damit einher ging ein Schub geistiger Klarheit.

      „Autsch! Verdammter Scheißdreck!“, fluchte Arthur drauf los, wortlos, da heute ohne Stimmbänder unterwegs, während der Schiffsrumpf am Ende der Kette unter dem erneuten Schlag vibrierte und gedämpfte Schreie aus dem Inneren zu hören waren. Er spürte sogar diese feinen Druckwellen, die über die Luft geleitet von Innen gegen den Schiffskörper trafen und vom diesem an das Wasser übertragen wurden. Vor seinem geistigen Auge sah er die Besatzung mit vor Angst geweiteten Augen über den Boden ihrer Kajüte kullern, ohne jede Ahnung, was da gerade unter ihnen war. Sie wären sonst ein Leben lang von Albträumen geplagt gewesen.

       Die Ankerkette zitterte noch geraume Zeit nach, während sich der riesige Schatten in der Unendlichkeit des Ozeans verlor.

       „Pass doch auf, wo du hinschwimmst, du Trottel!

      Arthur war wütend auf sich selbst, auch wenn er zu seiner Entschuldigung vorbringen konnte, erst seit etwa drei Stunden dieser dämliche Hai zu sein.

      Genau konnte er es nicht sagen, da es keine Armbanduhr gab, die dem Druck des Ortes hätte standhalten können, von dem er kam.

      Zudem mangelte es ihm am erforderlichen Arm, um die Uhr tragen und bequem ablesen zu können. An den Seitenflossen würde sie keinen Halt finden. Nicht mal den Hintern abputzen konnte er sich!

      Eigentlich war alles großer Mist heute.

       Ohnehin hatte er kaum Platz gefunden im Gehirn dieses gruseligen Riesen aus der Tiefsee. Und das war erst der Anfang. Die mangelnde Kapazität engte ihn ein, wie eine Zwangsjacke. Für verschiedene Emotionen war zum Beispiel überhaupt kein Raum mehr gewesen. Es fühlte sich in etwa so an, als würde man jene Empfindungen zwar in einem Koffer mit sich führen, jedoch war das Zimmer zu klein, um alles auszupacken. Empathie und Mitleid fielen in diese Kategorie. Irgendwie dämmerte es Arthur zwar, dass die Sache mit den beiden Schwimmern keine Glanztat gewesen war, doch das war nur das Ergebnis einer rationalen Analyse. Zu echtem Bedauern war er im Moment nicht fähig. Dem Hai an sich war das Leid seiner Nahrung nun mal einerlei. Und geschmeckt hatten sie wirklich ganz vorzüglich, das ließ sich nicht von der Hand weisen.

       Die entblößten Zahnreihen schienen sich nun doch zu einem Grinsen zu formen, eine verstörend menschliche Regung, die einzig und allein der Anwesenheit des unerwarteten Tagesgastes zu verdanken war.

      Dieser Hai war heute definitiv nicht er selbst.

      Auch das kümmerte ihn nicht. Er würde deswegen nicht von Albträumen geplagt werden, wie Arthurs vorherige und spätere Gastgeber.

       Arthur hingegen hatte langsam die Schnauze voll und hoffte auf eine baldige Wachablösung. Dazu musste er einschlafen, so lief es immer.

      Dann erwachte er in einem anderen Körper.

      Wie jeden Tag, seit seinem kleinen, nun ja, Unfall.

      Idealerweise war es ein Körper mit Armen und Beinen, in dem er erwachte, denn diese Scheiße hier war ja wohl unzumutbar. Er schwamm jetzt wieder sehr energisch drauf los. Wenigstens das konnte er heute.

      Und wie!

       Beim Schwimmunterricht war er immer einer der Langsamsten gewesen.

      Die coolen Jungs aus seiner Klasse sprangen lässig vom Startblock, nur ein paar Dicke und die Nerds drückten sich vom Beckenrand ab.

      Der kleine Arthur hatte zu letzterer Gruppe gezählt. Er hätte seinem Sportlehrer, mit nichts außer einem Blatt Papier und Bleistift, problemlos die ideale Schwimmbewegung aus den Strömungsgleichungen herleiten können, doch die praktische Umsetzung lag außerhalb des Bereiches seiner Fähigkeiten. Oder seiner Interessen, was manchmal Hand in Hand ging.

      Heute war es genau umgekehrt. Wie das Leben so spielte.

       Leider war sein Sportlehrer gerade nicht zugegen, was Arthur sehr bedauerte. Er hätte ihn heute gerne, sehr gerne, im Wasser angetroffen.

      Ob er dann immer noch einen spöttischen Spruch über seine wulstigen Lippen gebracht haben würde?

      Das war zumindest fraglich.

       Fraglich war allerdings auch eine andere, im Moment viel wichtigere Sache: Konnten Haie überhaupt einschlafen?

      Schlagartig überkam ihn ein schrecklicher Gedanke: Nur Gevatter Schlaf konnte ihn aus diesem Vieh herausholen, so wie er ihn auch dort hineingebracht hatte. Wenn aber der feine Mister Seeungeheuer partout nicht einpennen wollte, würde er dann etwa für den Rest seines Lebens hier feststecken? In diesem finsteren Loch? Einen Tag lang mochte das ja ganz spannend sein, aber auf Dauer doch etwas eintönig. Hier unten gab es sicher kein WLAN oder gar Netflix. Und es roch irgendwie nach Fisch.

      Arthur hasste Fisch. In jeglicher Form. Ab heute sogar noch etwas mehr.

      Verfluchte Algengrütze!

       Missmutig lenkte er seinen massigen Körper zurück Richtung tiefere Gewässer. Der geringe Druck an der Oberfläche begann sich bemerkbar zu machen, er fühlte sich nun sehr schwindelig.

      Der Hai wäre aus eigenem Antrieb sicher nie soweit heraufgekommen, aber der neue Steuermann hatte leider die Betriebsanleitung nicht gelesen und einfach mal nach Gefühl losgelegt. Und jetzt hatten sie beide den Schlamassel.

       Beim Auftauchen war Arthur noch gar nichts aufgefallen.

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