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Invasion der schmutzigen Ausgebeuteten zu bewahren. Ein Gefühl der Übelkeit stieg in Arthur auf, als er mit dieser hohen Dosis Realität konfrontiert wurde. Gut, dass er bereits wach war, denn ein schlechtes Gewissen ist bekanntermaßen kein gutes Ruhekissen. Er atmete die salzige Meeresluft tief ein und ließ die frische Luft langsam aus seinen Lungen entweichen.

       Zusätzlich zum Salz lag noch ein weiterer Geruch in der Luft, bemerkte er nun. Was war das? Es kam ihm entfernt bekannt vor, aber er konnte es nicht festmachen. An seinen entbehrungsreichen Marsch durch eine wüstenähnliche Landschaft konnte er sich noch relativ gut erinnern, immer wieder hatten ihn Banditen angehalten und versucht ihn zu bestehlen, um ihn dann nach einer Tracht Prügel weiterziehen zu lassen, denn er besaß nichts an Wert, schon gar kein Bargeld. Seine Entschlossenheit konnte durch solche kleinen Zwischenfälle nicht erschüttert werden, wie es nur bei jungen Männern mit einem klaren Ziel vor Augen der Fall ist, das zu erreichen sie sich geschworen haben. Er lief meist nachts und schlief am Tage im Schatten eines Baumes, so denn Vegetation vorhanden war. Manchmal bot die Landschaft nur dürres Gestrüpp als Unterschlupf und Schutz vor der brennenden Sonne, und manchmal war der Abstand zwischen zwei Brunnen oder Flüssen so groß, dass er fürchten musste zu verdursten. Aber er hatte es geschafft, über Grenzlinien hinweg, die nur auf den Landkarten der ehemaligen Kolonialherren einen Sinn ergaben, mit einem Lineal gezogen, quer durch Stammesgebiete hindurch und damit erst einen guten Teil der Probleme schaffend, die sie heute so generös zu mildern versuchten.

      Herzlichen Dank auch, ihr Arschlöcher! dachten Marlec und Arthur unisono, denn es war wirklich zum Haare raufen. Die sogenannte „Erste Welt“ hatte geplündert, geraubt, gemordet und ausgebeutet, die Umwelt verdreckt und die Ressourcen aufgebraucht, um nun als Samariter aufzutreten!? Kein Wunder, dass diese großzügigen Gesten mehr und mehr auf Ablehnung stießen, je mehr die Opfer der Industrieländer die Fakten kennenlernten, und sich stattdessen lieber auf den Weg machten, um den feinen Herrschaften einmal persönlich in die Augen zu sehen – und sie idealerweise mit einem wohlverdienten Fußtritt aus ihrem SUV mit Allradantrieb zu befördern.

       Klopf, klopf! Wer ist da? Die Mehrheit der Weltbevölkerung, ihr Pisser! Die Party ist vorbei! Jetzt sind andere auch mal dran.

       Sicherlich ein unerwarteter Dank für die jährliche Spende an Misereor. Deshalb die frisch aufgerüsteten Grenztruppen. Man wusste sehr genau, warum. Die Erste Welt sah sich ertappt. Niemand lässt sich gerne ertappen. Arthur atmete jetzt schwer, er teilte die Wut seines kleinen Freundes, der ausgezogen war, das Glück zu suchen.

       An der Küste angelangt, gestoppt von den Fluten eines Meeres hinter dessen Horizont jene Insel der Glückseligen verborgen lag, hatte sich ein neues Problem für Marlec ergeben: Die Schlepper wollten Geld für die Überfahrt, viel Geld, und er hatte keines. Tagelang schlich er an der Küste entlang und in den Gassen der Stadt umher. Ein Gefühl der Verzweiflung wuchs in ihm, er war illegal hier, das war ihm klar, und so konnte er keine reguläre Arbeit annehmen. Nicht, dass es hier einen Mangel an billigen Arbeitskräften gegeben hätte, so dass dieses Unterfangen ohnehin aussichtslos erschien. Er sprach bei verschiedenen „Reiseunternehmen“ vor, die teilweise ganz offen ihre Geschäfte eröffnet und Preislisten ausgehängt hatten. Solange die Vertreter der Staatsgewalt ihren Anteil am Kuchen bekamen war das alles kein Problem. Es lief alles wie geschmiert, konnte man mit einiger Berechtigung sagen.

       Ob es denn irgendeine andere Möglichkeit gäbe auf ein Boot zu kommen, war seine Frage gewesen. Ob er es irgendwie abarbeiten könne? Die Bosse hatten ihn nur ausgelacht und gesagt er solle mit Bargeld wiederkommen, Schmarotzer hätte man hier bereits genug am Orte, vielen Dank. Nur einer hatte ihn lange angesehen und seinen drahtigen Körper gemustert. Komm heute Abend noch mal vorbei, hatte er gesagt, dann reden wir. Von Freude und Hoffnung überwältigt hatte er den Tag abgewartet und war in die nun verlassen liegende Hütte des Schleppers eingetreten. Auch dieses Geschäft hatte feste Öffnungszeiten, und jeder hart arbeitende Geschäftsmann freute sich auf sein Feierabendbier. Der Boss war bereits leicht angetrunken und winkte ihn heran. Als Marlec in Reichweite war, legte ihm der andere Mann seine Pranke in den Nacken und zog seinen Kopf zu sich heran, bis seine Lippen dicht an seinem Ohr flüsterten. Er unterbreitete dem Jungen sein Angebot, wie er es ohne Geld zu einer Überfahrt bringen könnte. Marlec wusste zunächst nicht, was gemeint war.

      Er hatte zwar schon eine Freundin gehabt, aber es war zu keinem Liebesakt gekommen. Mit seinen 16 Jahren war er immer noch Jungfrau, was in seinem Dorf nichts Ungewöhnliches war, da derartige Aktivitäten auf die Ehe beschränkt sein sollten, so hatten es die weißen Lehrerinnen immer wieder betont. Die Möglichkeit es mit einem Mann zu tun hatte er noch nie in Betracht gezogen, warum sollte man so etwas tun? Das war doch widersinnig und sicherlich sündhaft, und zudem ekelte er sich nicht wenig vor diesem Gedanken. Auf der anderen Seite wollte er seine Mutti glücklich sehen. Er würde alles tun, was nötig war. Alles. Was er dann tatsächlich tun musste, immer und immer wieder, über Wochen hinweg, bis die Überfahrt „abgearbeitet“ war, hatte sein Gedächtnis nur bruchstückhaft gespeichert, so als hätte es Sorge gehabt, mit diesen schmutzigen Erinnerungen alle anderen Inhalte zu kontaminieren. In einer dunklen Ecke, tief in einer Schublade versteckt, fand Arthur schließlich die Bilder und anderen Sinneseindrücke seiner Schändung. Mit einem Ruck fuhr er hoch, drehte sich zu Seite und kotzte sich die Seele aus dem Leib, immer weiter würgend, als schon lange nichts mehr zutage gefördert wurde. Wie betäubt verharrte er noch minutenlang in dieser Stellung, während das Boot weiter friedlich auf den Wellen des Mittelmeeres schaukelte. Denn um jenes Meer musste es sich handeln, soviel war ihm nun klar.

       Seine Gruppe hatte das Boot bestiegen, eine Art überdimensioniertes Schlauchboot, im hellen Mondenschein, fast eine romantisch anmutende Szene, die Körper dicht an dicht gedrängt, mit glänzenden Augen voller Hoffnung, jetzt sah er es wieder deutlich vor sich. Doch die zunächst gute Stimmung hatte nicht lange angehalten, der Wellengang auf offener See war doch stärker als gedacht, gerade wenn keiner der fröhlichen Seefahrer je zuvor auf einem Boot gewesen war. Der Reiseleiter hatte ihnen anhand eines Sternbildes die Richtung gewiesen, den Außenbordmotor gestartet und war von Bord gegangen. Er müsse noch eine weitere Gruppe auf große Fahrt schicken, sie würden unmittelbar hinterdrein fahren, was durchaus eine beruhigende Vorstellung war. Natürlich war es eine Lüge, was spätestens klar wurde als der Motor aus Benzinmangel erstarb und kein anderes Motorengeräusch in der Ferne zu hören war. Der Tank war wohl gerade so viel befüllt worden, dass eine Umkehr aufgrund der Strömungen unmöglich wurde, und das Schlauchboot bis in internationale Gewässer getrieben wurde. Wer weiß, vielleicht wurden sie ja aufgegriffen? Da draußen fuhren ja reichlich europäische Grenzschützer auf und ab.

       So konnten die „Reisevermittler“ ihr Gewissen beruhigen, so denn überhaupt eines vorhanden war. Man dümpelte also dahin, und war damit praktisch bereits tot, obwohl noch etwa 50 Herzen schlugen und ebenso viele Lungen atmeten. Nach der Ratlosigkeit kam die unvermeidliche Panik, und untrennbar mit ihr verknüpft, das Recht des Stärkeren, immer und überall auf der Welt gültig, auch in der schäbigsten Hütte – oder dem kleinsten Schlauchboot. Ein erstes Handgemenge entzündete sich über eine Trivialität, ein bloßer Vorwand, um endlich zur Tat schreiten zu können – der Dezimierung des Bestandes an Menschen an Bord. Denn dass hier nicht alle lebend rauskommen würden, war schnell klar, nur wagte es lange keiner auszusprechen. Die Wasservorräte wurden sofort von den Stärksten konfisziert, die schwächeren Beta-Männchen gingen über Bord, bewusstlos geschlagen ertranken sie, an der Oberfläche treibend, als sich der zweite wolkenlose Tag auf See zu Ende neigte. Und es war besser für sie ertrunken zu sein, denn ihre Körper trieben nicht lange auf dem Meer. Wie von unsichtbaren Klauen, die aus der schwarzen Tiefe nach ihnen griffen, wurde sie zunächst angestoßen, gedreht und gewendet, einmal hatte es so ausgesehen als würde ihnen ein Junge, vielleicht 17, aus dem Senegal, noch einmal zuwinken, da sich sein Arm auf unerklärliche Weise in die Höhe reckte. Marlec hatte dies ruhig und aufmerksam verfolgt, er spürte keine Angst mehr, dieser Punkt war lange überschritten und die Anzeige zerborsten, er hatte auf Überlebensmodus geschaltet, das Gesicht seiner Mutter immer vor Augen. Nichts würde ihn stoppen.

       Die um sie treibenden Körper verschwanden einer nach dem anderen mit einem brutalen Ruck, so als würden sie von gewaltigen Kiefern von unten gepackt und in die Tiefe gerissen. Was natürlich auch der Fall war.

      

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