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überraschend touristischen Kleinstadt, deren Name mir entfallen ist und aßen mein erstes Rodizio. Mein Vater hatte mir von dieser typisch brasilianischen Fleischzubereitung erzählt, dennoch übertraf auch diese Mahlzeit meine Vorstellungskraft. Dem an Eisenspießen über einem offenen Feuer gerösteten, mit grobem Meersalz gewürzten Rindfleisch schmeckte man seine Herkunft an. Als ich den ersten, wahrhaftigen Leckerbissen in meinen Mund geführt hatte, entluden sich ein paar Etagen darüber, in meinem Hirn also, zeitgleich circa 12 Milliarden Nervenzellen. Die frei gewordene Energie erzeugte Bilder gemächlich durch mannshohes Dickicht trabender Hornträger: ein schmutzig weißer, buckliger Zebubulle brach die Bresche für den Rest der Herde, bestehend aus etwa 30 schwarzäugigen, im direkten Vergleich mit ihrem langhörnigen Anführer geradezu grazil wirkende Rinderschönheiten. Ich kaute einen Bissen Rindfleisch, der so schmeckte, wie Rindfleisch schmecken sollte.

      Nach dem Mittagessen gingen Karl und Ralfii abermals ihre Vorträge durch, was mir eine halbe Stunde Freizeit bescherte. Auf meinem Stadtbummel stellte ich erfreut fest, dass es uns offenbar in die Welthauptstadt der Hängematten verschlagen hatte. Mein Neid würde hier und heute ein Ende finden: in diesem Ort würde ich absolut sicher fündig werden. Bereits im dritten Hängemattengeschäft konnte ich mich nicht länger beherrschen. Für etwas mehr als 20 Euro erwarb ich ein blau-weißes Stück mit grünen Fransen an den Seiten und ich war ausgesprochen stolz auf mein Geschäft. Immerhin hatte ich den Einstiegspreis um mehr als fünf Euro herunter gehandelt. Es war ein tolles Gefühl, von nun an über eine eigene Hängematte zu verfügen und nicht länger Karl oder Ralfii anbetteln zu müssen, damit ich auch einmal in den Genuss dieser zu wunderbarer Entspannung geeigneten Erfindung gelangte.

      Karl beglückwünschte mich zu meinem Kauf und ich merkte ihm an, dass er wirklich ein kleines bisschen stolz war. Der Rest des Tages verlief ereignislos bis wir am Abend in der Zehn-Millionen-Stadt eintrafen. Hatte ich mich in Rio noch einigermaßen heimisch gefühlt, kam in São Paulo doch ein gewisses Unbehagen auf. Man hatte uns davor gewarnt, in der Dunkelheit an roten Ampeln anzuhalten. Es käme nicht selten vor, dass an Ampeln haltende Autofahrer nachts überfallen und verschleppt wurden. Wir stellten dennoch ein wenig überrascht fest, dass sich die Autofahrer tatsächlich an diese Sicherheitsregel hielten und der Verkehr trotzdem nicht im Chaos endete.

      Die Stadt war wirklich, wirklich groß. Es kam mir so vor, als seien wir bereits seit Stunden durch verbautes Gelände gefahren, als wir endlich, gegen Mitternacht, am Haus eines brasilianischen Kollegen von Karl ankamen. Obwohl das kleine Anwesen in einer „besseren“ Gegend der Stadt lag, war es von einem drei Meter hohen Zaun umgeben. Zudem wurde das Gelände von mehreren Kameras überwacht und von zwei abgerichteten Dobermännern bewacht. Gustavo berichtete uns, er sei in diesem Jahr bereits zweimal überfallen worden. Einmal habe man ihn in seinem Auto entführt, sei mit ihm zu einem Geldautomaten gefahren und er habe alles Geld von seinem Konto abheben müssen. Die Räuber hätten ihn anschließend nach Hause gefahren und seien mit seinem Auto verschwunden. Er habe bisher jedoch immer Glück gehabt, da er von Profis überfallen worden war, die es nur auf Geld und Wertgegenstände abgesehen hätten. Einen Kollegen habe es schlimmer getroffen, der sei von einem Drogenabhängigen geköpft worden, weil dieser ihn während der Fahrt zur Bank plötzlich für einen wilden Ziegenbock gehalten hatte. Gustavo schloss mit der lakonischen Bemerkung, man brauche schon manchmal etwas Glück in dieser wunderschönen Stadt.

      Von jener nächtlichen Erzählung an verursachte die Stadt mir mulmiges Unbehagen. Echte Angst kroch mir unter die Shorts, als ich am folgenden Vormittag ein paar Wachmännern der Uni zuschaute, die sich bemühten, einen auf dem hellen Beton des Campus-Parkplatzes deutlich auszumachenden, dunkelroten Blutfleck wegzuscheuern. Von diesem Moment an lief ich mit geschlossenen Augen und Zeigefingern in den Ohren meinem Vater hinterher.

      Folglich bekam ich von den übrigen zwei Tagen in dem menschenverspeisenden Moloch nicht viel mit. Ralfii und Karl hielten ihre Vorträge, sie organisierten dies und das, stellten mich einer Menge Kollegen vor (was mich zwang, wenigstens einen Finger aus einem meiner Ohren zu nehmen) und ich erinnere mich dunkel, dass wir in irgendeinem Restaurant eine ausgesprochen leckere Pizza aßen. Karl gab mir einigen Anlass, stolz auf ihn zu sein. Ich hatte ihn bislang als leicht verwirrten, nicht besonders alltagstauglichen Wissenschaftler erlebt. Hier jedoch, als er auf mehreren Ebenen gleichzeitig gefordert wurde, erwies er sich als umsichtiges Organisationstalent, als mutig und klug zudem. Sein Vortrag tat ein Übriges. Der Kerl hatte schon wirklich etwas auf dem Kasten. Er hielt eine spannende und mitreißende Rede über die Höhlenfische, deren Ökologie und Verhalten er studierte.

      Als wir endlich abreisten, trauerte ich der Stadt keine Träne nach. Es war ein kühler, dunstiger Augustmorgen. Die Luft roch nach frisch gebackenen Waffeln und Alkohol. Im Nachbargarten tschirpte ein Dutzend dunkelgrüner Papageien. Ich stieg in Gustavos bis unter das Dach vollgestopften Passat. Der wurde von einem Benzinmotor angetrieben und roch für meine Nase normal. Die ethanolbetriebenen Autos, von denen es hier eine Menge gab, rochen ungefähr wie der Dunst aus einer Kneipe, die jeden Morgen gerade gelüftet wurde, wenn ich auf meinem Weg zur Schule an ihr vorbeifuhr. Eine dicke Apfelsine bemühte sich redlich, die schwer über der Stadt hängenden Dunstvorhänge beiseite zu schieben. Das gelang ihr mit jeder Minute des anbrechenden Reisetages besser. Die Schwere wich aus den Straßen, aus den Häusern, den Autos und Menschen und sie wurde ersetzt von einer beschwingten, klaren Vormittagswärme.

      Reisegedanken mischten sich mit Erinnerungen an Hamburg. Ich stellte mir vor, wie ich den Jungs im Baumhaus von meinen Abenteuern berichten würde. Bereits hier, Tausende Kilometer von ihnen entfernt und erst am Beginn des Ausfluges ans andere Ende der Welt war mir bewusst, dass ich niemals die richtigen Worte würde finden können, um ihnen das Gefühl begreiflich zu machen, das sich meiner bemächtigt hatte: Freiheit!

      Der Gedanke, niemandem in der Heimat klar machen zu können, was so eine Forschungsreise mit einem anstellte, tat richtig ein bisschen weh. Erst als ich beim Blättern in meinem inneren Fotoalbum auf Lu´s Seite stieß, beruhigte sich mein Zustand. Obwohl ich mich räumlich mit jedem Tag weiter von ihr entfernte, wurde sie mir dank ihrer dunkelgrünen Worte auf rosa Briefpapier gleichzeitig vertrauter. Bitte sagt es nicht weiter: auf der zweitägigen Autofahrt zur Feldstation begann ich, in Gedanken mit Lu zu reden. Ihr zu berichten, was ich sah, fühlte, roch, schmeckte. In irgendeinem Augenblick zwischen morgendlicher Schläfrigkeit und totalem Wachsein beschloss ich, Lu einen Brief zu schreiben. Nein, besser: ich würde ein Tagebuch schreiben und es ihr vorlesen, sobald ich wieder in Hamburg war. Für diese Gelegenheit stellte ich mir uns beide auf einer Parkbank oberhalb der abendlichen Elbe vor. Das Bild dieser Szene ließ mich dann aber doch ungläubig lächeln. Immerhin begann ich an diesem Tag, meine Geschichte aufzuschreiben.

      Auf der nicht enden wollenden Reise hinaus aus der Riesenstadt flatterten bald zwei brasilianische Studenten zu uns ins Auto. Zunächst stieg Rita, bald darauf auch Claudio zu Karl, Gustavo und mir in den Kombi. Inzwischen wunderte ich mich schon nicht mehr über die vielen so gar nicht brasilianisch klingenden Namen der Menschen, denen ich auf der anderen Atlantikseite begegnete.

      „Es schwappten seit der Entdeckung Südamerikas eine Menge Einwanderungswellen von Europa nach Brasilien. Die Portugiesen waren um 1500 zwar so ziemlich die ersten, aber es leben hier auch jede Menge deutsch- italienisch- und so weiter -stämmige Menschen. Daher kommen die vertrauten Namen und die vielen hellen Gesichter, besonders in den Großstädten.“ Karl war so etwas wie ein wandelndes Lexikon. „Die afrikanischen und indianischen Einflüsse werden stärker, je weiter wir aufs Land kommen.“

      Ich war froh, dass Ralfii sich dafür entschieden hatte, in Joanas und Pêros Auto mitzufahren. Joana war Pêros Doktorandin, beide kamen aus Rio. Welche Position Pêro an der Uni in Rio hatte, wusste ich nicht. Er war etwa mittelalt und Morphologe. Ralfii kannte ihn von einer Tagung in Hamburg und was seine Ambitionen mit Joana betraf…er war ja irgendwie immer auf der Suche…

      Die hübsche junge Studentin neben mir schnatterte die ganze Fahrt über auf den eher einsilbigen Indianer ein und fand darüber keine Gelegenheit, sich mit mir zu unterhalten. Mir behagte dieser Zustand, ich schaute beinahe ungestört durch sich allmählich mit einer feinen, rötlichen Staubschicht bedeckendes Sicherheitsglas in eine zunehmend fremder werdende Welt. Es war wie in einem Computerspiel: um

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