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überprüfte sie den Fleischgehalt meiner Oberarme. Ich lehnte meinen Kopf an ihre Schulter und gestand ihr, dass ich den Durchblick verloren hatte. Gestern erst hatte meine Welt noch aus Volleyball, Baumhaus und Spaß mit den Jungs bestanden. Ok, ein bisschen Schule kam auch darin vor. Aber plötzlich, mit einer kleinen Reise, sollte diese Beschaulichkeit von schwarzen Bohnen, männerfressenden Frauen und möglicherweise beängstigenden Höhlenlebewesen aus den Angeln gehoben werden. Ich bat Lu, mir das alles zu erklären. Doch Lu antwortete mir nicht, sie war offenbar zu sehr in ein Kochbuch mit Bratenrezepten vertieft. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie froh ich war, als am Morgen Karls Handy klingelte.

      Wir verabredeten uns mit Ralfii zu einer Sight-Seeing-Tour nach dem Frühstück. Die übrigen Wissenschaftler waren an Bord des Schiffes geblieben, leider. „Warum ist denn Ralfii in einem anderen Hotel abgestiegen?“ Hoppla, nun war mir sein Spitzname doch rausgeflutscht. „Ralfii?“ Karls knapp formulierte Frage bestand zu ungefähr gleichen Teilen aus Neugier und Vorwurf. „Ist Ralf eigentlich ein guter Kollege von dir? Ich meine seid ihr so ein bisschen befreundet?“ „Du magst ihn nicht, oder? Um es mal freundlich zu formulieren: ich bin froh, dass jemand von der Uni mitgekommen ist. Fachlich wie menschlich hätte ich mir eine andere Begleitung gewünscht. Ralf stapft auf beiden Ebenen gern in das eine oder andere Fettnäpfchen. Aber ich möchte, dass ihr beide miteinander auskommt. Spätestens in den Höhlen werden wir alle vollkommen aufeinander angewiesen sein.“

      War es wirklich so offensichtlich, dass mir Ralfii auf den Senkel ging? Oder hatte Karl feinere Antennen für Zwischenmenschliches als ich es diesem manchmal leicht verpeilten Vollblutwissenschaftler zugetraut hatte? Mir gefielen seine Loyalität und Ehrlichkeit. Bei Karl wusste ich immer, woran ich war. „Erinnerst du dich daran, dass Ralf sich auf dem Schiff gewünscht hat, eine der neuen Welsarten würde nach ihm benannt? Irgendetwas mit A... ralfii. Und da Ralf ja eher klein und unscheinbar geraten ist, dachte ich, diese dolle verniedlichende Form seines Namens passte ganz gut als Spitzname. Seitdem heißt er für mich Ralfii.“

      „Das ist wirklich gut.“ Zu meiner großen Erleichterung musste Karl herzhaft lachen. Wie Verschwörer kamen wir überein, den Namen unter uns beiden zu verwenden. Wer von uns ihn – auch aus Versehen – ausplauderte, musste zehn Euro in die Reisekasse einzahlen. Wir besiegelten unseren Deal mit einem männlichen Handschlag inklusive Augenzwinkern und schlurften einem ausgesprochen leckeren Frühstück entgegen. Inmitten der üblichen Frühstücksbuffetverdächtigen thronte eine gigantische Obstplatte, die von einer in mundgerechte Stücke zerteilten und anschließend akribisch rekonstruierten Ananas gekrönt wurde. Karl organisierte uns zwei nicht zu toppende Obstsalatmitjoghurtundmüsliteller und ich entdeckte ein zufriedenes Funkeln in seinen Augen. Nach seinem ersten Schluck des gleichzeitig sehr vertraut und doch fremdartig duftenden Kaffees entschlüpfte seinem Mund ein deutlich anerkennendes „Wow!“. Spätestens in diesem Moment war ich sicher, dass Karl und mir ein toller Tag und weit darüber hinaus sehr wahrscheinlich vier legendäre Wochen bevorstanden.

      Der Tag in Rio brachte uns einen Besuch auf dem Zuckerhut mit dem Ausblick auf alle Strände, die Stadt und ihre zum Teil an steile Berghänge geklebten Slums mittendrin. Man hatte uns davor gewarnt, die Slums zu besuchen und es fiel uns nicht schwer, diesem Rat zu folgen. Stattdessen besichtigten wir den gigantischen Christus, verdösten die heiße Mittagszeit in irgendeinem klimatisierten Museum und schlenderten gegen Abend die belebten Strände entlang. Ich schaute den ziemlich gut Fußball und Volleyball spielenden Leuten zu, während neben Karl nun auch Ralfii den eulenartigen Höhlentourvorbereitungen nachging. Ich hoffte sehr, dass nicht mindestens einer der beiden mit verrenktem Hals im Krankenhaus landen würde, bevor die Reise eigentlich los ging. Vor dem Abendessen gingen wir zurück ins Hotel, um zu duschen. Während Karl unter dem dampfenden Wasserstrahl fröhlich trällerte, schaute ich hinaus auf den noch immer belebten Marktplatz.

      Die Buden waren verschwunden, dafür bot sich meinen staunenden Augen eine fremdländische, ja exotische Szenerie dar. Um eine Art Arena hatten sich kreisförmig Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in weißen Baumwollanzügen auf den Boden gesetzt. Manche von ihnen hielten Stöcke in den Händen, einige standen um den Kreis der Sitzenden herum. Bei genauerem Hinsehen fiel mir auf, dass die freie Fläche in der Mitte eher oval als kreisförmig war. An einer Stirnseite des Ovals geschah, was meine Aufmerksamkeit überhaupt auf den Marktplatz gelenkt hatte: ein paar der jungen Leute trommelten. Wenn ich die Augen schloss und nur dem hypnotisierenden Rhythmus lauschte, sah ich einige um ein Lagerfeuer tanzende Buschleute inmitten der Kalahari.

      Alsbald beschleunigte sich der Rhythmus der Trommeln. Ein junges Mädchen und ein etwa gleichaltriger Junge traten in den Ring. Sie führten erst langsame, mit dem Beat der Trommeln schneller und akrobatischer werdende Kampfbewegungen gegeneinander aus. Dabei waren die Schläge und Tritte jedoch nur angedeutet, keiner der beiden traf seinen Gegner tatsächlich. Vielmehr wirkten ihre anmutigen Bewegungen, die Kreisel und Drehungen, wie ein aggressiver und doch harmonischer Tanz zweier grundsätzlich übereinstimmender Kinder. Es schien, als hätten die Gegner verabredet, sich nicht zu verletzen. Der sich stetig wiederholende und dabei immer weiter beschleunigende Klang der Trommeln und die Harmonie des kampfartigen Tanzes verzauberten mich. Ich hatte das Gefühl, wie ein deutscher Adler über jenem Marktplatz in Ipanema zu kreisen.

      So unvermittelt wie der Tanz begonnen hatte, endete er. Beide Akteure sprangen aus der Arena. Zwei ältere Mädchen mit etwa zwei Meter langen Bambusrohren in den Händen ersetzten sie sogleich. Sie nahmen den bereits wilden Rhythmus in ihre drahtigen Körper auf und übertrugen ihn auf ihre Füße, auf den staubigen Boden. Wilde Drehungen, Angriffe, eingesprungene Seitenwechsel, angedeutete Bambushiebe, spektakuläre Ausweichmanöver und Angriffsfinten folgten. Beinahe unvorstellbar aber Tatsache, dass der Trommelschlag sich immer noch weiter beschleunigte. Die Hände mussten den Trommlern bereits glühen, doch sie wurden schneller, immer schneller. Und mit ihnen beschleunigte sich der Tanz, der Kampf, das wilde Leben in den Körpern der jungen Menschen auf einem staubigen Marktplatz hinter unserem Hotel an einer kleinen Gasse mitten in Rio de Janeiro.

      Der Anblick meines denkerstirnigen, ansatzweise bierbäuchigen Vaters riss mich schlagartig aus meiner Verzauberungsstarre. „Was schaust du dir da an?“ Karl richtete das um seine Hüften geschlungene Handtuch und trat ans Fenster. „Oh, Capoeira. Das ist so eine Art Kampftanz und stammt ursprünglich aus Angola oder so. Nennt sich dort Zebratanz. Der wurde mit den afrikanischen Sklaven nach Brasilien eingeführt. Das ist krass, oder?“ Wieder so ein Wort, das, aus dem Mund meines Vaters perlend, jegliche Jugendlichkeit verlor. „Komm, wir haben noch Zeit bis zum Abendessen, das sehen wir uns draußen weiter an.“ Ich verzichtete auf meine Dusche und wir beide beeilten uns trotz der noch immer zwischen den Häusern hängenden Tageshitze, auf den Marktplatz zu gelangen. In sicherer Entfernung (Karl hatte panische Angst davor, bei irgendwelchen Veranstaltungen mitmachen zu müssen) setzten wir uns auf die Lehne einer Parkbank.

      Mittlerweile kampftanzten zwei junge Männer; die Geschwindigkeit des Trommelrhythmus wie die Bewegungen der Kontrahenten waren für meine Begriffe nicht mehr steigerbar. Als die inzwischen sämtlich stehenden Zuschauer ganz unvermittelt in einen dröhnenden, die Musik begleitenden Singsang ausbrachen, vereinigten sich die zahllosen, seit dem Beginn der Veranstaltung auf meinem Körper umherkriechenden Gänsehäute zu einem kompletten Federkleid. Kein Zweifel: Rio de Janeiro ähnelte Hamburg entgegen meiner anfänglichen Vermutung doch nur sehr oberflächlich.

      Auf dem Mond

      Am nächsten Morgen brachen wir nach einem erneut alle meine Erwartungen übertreffenden Frühstück nach São Paulo auf. Ralfii hatte uns einen Mietwagen organisiert, einen VW Gol. An dieser Stelle muss ich euch enttäuschen, solltet ihr gedacht haben, es sei mir ein Rechtschreibfehler unterlaufen. Bei unserem kleinen, ethanolangetriebenen Fahrzeug handelte es sich tatsächlich um den nur in Brasilien produzierten, kleinen Bruder des VW Golf. Das Gefährt war etwas klapprig, es roch jedoch aufreizend nach Neuwagen und brachte uns sicher in die zweitgrößte Metropole des Kontinentes. In einen Moloch, in dem sogar die Flussläufe unter Beton versteckt wurden und in der Lichtlosigkeit schmutzig dahin dümpelten, weil bebaubares Land Mangelware war.

      Unsere Fahrt folgte größtenteils einer regenwaldartig bewaldeten

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