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flüsternd hinzu: „Wir werden in der alles verschlingenden Finsternis auf ein paar Lebensformen stoßen, die sich darum reißen werden, eine halbe Portion wie dich als Vorspeise zu verdrücken.“

      Ich hatte diesen Ralf noch nie wirklich gemocht, doch so langsam wurde er mir echt unsympathisch. Mit welcher Begründung blies der sich eigentlich so auf? Mal abgesehen davon, dass dies erst seine zweite Forschungsreise war und er bei jeder Kullerwelle seekrank unter Deck verschwand, behandelte er mich andauernd wie ein kleines Kind. Man musste kein psychologisch geschulter Erwachsener sein um zu begreifen, dass er damit seine eigene Unsicherheit überspielen wollte. Erwähnte ich schon, dass Ralfii (so würde ich ihn von diesem Tage an nennen und ich würde dabei stets an die rosigen Höhlenwelse mit kleinen, schwarzen Schweineäuglein denken) nur unwesentlich größer war als ich? Ich stand an der Reling, der Ozean verhielt sich sanft und schillerte in diesem Moment dunkelblaugrün. Er wechselte seine Farbe alle paar Minuten, die Form der Wellen änderte sich in längeren Intervallen. Ich fragte mich, ob es an genau dieser Stelle wohl in zwei Augenblicken seit dem Beginn der Welt jemals eine identische Konstellation von Farbe und Form der Ozeanoberfläche gegeben haben mochte.

      Ralfii versuchte ständig, mir Angst zu machen. Während der Reise erfand er tausend Geschichten über versunkene oder in irgendwelchen ominösen Dreiecken oder Zeitreisenebeln verschollene Forschungsschiffe. Seine einfallslosen Storys gruselten mich nicht, sie langweilten mich geradezu. Aber ich hatte Blut geleckt, was die Sache mit dem „Bauch der Erde“ betraf. Die Vorstellung, von der Erde verschluckt und womöglich verdaut zu werden, fand ich in höchstem Maße gänsehautverdächtig. Also fragte ich ihn, ein wenig widerwillig: „Und, was hat es nun auf sich, mit deinem Bauch?“

      „Wie, das weißt du nicht?“ Ralfii richtete sich in seiner Hängematte auf und bemühte sich um ein dämonisches Grinsen. Es geriet eher ein wenig dämlich, diesen Eindruck jedoch behielt ich für mich. Immerhin lag Karl nur wenige Meter entfernt in seiner Hängematte. Ein geradezu melodisches Schnarchen aus seiner Richtung musste nicht zwangsläufig seine völlige geistige Abwesenheit bedeuten.

      „In der Sprache der Einheimischen, ähhh, also der heutigen Einheimischen, die seinerzeit aus Portugiesen, Indianern und afrikanischen Sklaven entstanden; die sprechen übrigens heute noch Portugiesisch, oder jedenfalls so etwas ähnliches wie Portugiesisch, ein brasilianisches Portugiesisch, das weitaus melodischer klingt...“ „Sag mal Ralf, wird aus dem Gestammel noch irgendwann eine brauchbare Geschichte?“

      Ich hätte Karl knutschen können. Unter Ralfiis dünnen Armen breiteten sich dunkelblaue Flecken auf einem mittelblauen T-Shirt aus. Seine leicht angegrauten, grundsätzlich bräunlichen Locken wackelten in einer wohltemperierten Brise. Wir näherten uns dem Äquator. Karl lugte über den Rand seiner schwarzen Sonnenbrille, die er einfach über seine übliche Nickelbrille gezogen hatte. Die wiederum trug er wegen eines Typs namens Lennon oder so, habe ich nie so ganz begriffen. Aber ich schweife ab. Mein Vater war in der Lage, einen Blick von sich zu geben, den man getrost als „stechend“ oder gar „durchbohrend“ bezeichnen könnte. Man merkte Ralfii das Unbehagen angesichts dieses auf ihn gerichteten Pfeilblickes deutlich an. Er sah sich in einer Zwickmühle. Einerseits wollte er mich gern ordentlich foppen und das Fürchten lehren. Andererseits fürchtete er als nahezu rückgratloser Mensch den tatsächlich nicht immer nur schönen Zorn meines Vaters für den Fall, dass er es mit der Gruselei übertriebe.

      „Naja, die Brasileiros kennen eine ganze Menge unterschiedlicher Bezeichnungen für das, was wir im Deutschen Höhle nennen. Zum Eingang sagen sie meist „boca da caverna“. Das bedeutet so viel wie Mund der Höhle. Hat der einen erst einmal verschluckt, gelangt man nach dem Verständnis der Einheimischen in den „barriga da terra“, den Bauch der Erde. Die Leute da auf dem Land sind zwar eigentlich überwiegend Christen, sie verehren jedoch ihre eigenen Heiligen und es existieren eine ganze Reihe nicht wirklich christlicher Bräuche und Vorstellungen. Wenn du dich freiwillig ins Innere der Erde begibst, lieferst du dich damit einer Horde von unterirdisch lebenden Fabelwesen aus. Die meisten von denen sind der Sage nach freundlich und hilfsbereit wie die Landbevölkerung selbst. Es soll angeblich aber auch ein paar fiese Typen unter ihnen geben, die Besucher in die Irre führen, sie berauben und mitunter sogar aufessen.“

      Mit einem absichernden Blick auf Karl fügte er hinzu: „Keine Angst, kleiner Mann, das sind natürlich alles nur Gerüchte und Spukgeschichten der naiven Brasilianer. Bisher hat noch niemand einen von den kleinen Höhlenwichteln gefangen oder fotografiert. Vielleicht sind wir ja die ersten Entdecker, die ihnen begegnen und einen von ihnen fangen können. Wenn du möchtest, erzähle ich dir heute abend ein paar der Geschichten, die uns Professor Gonçalves auf das letzte Höhlenmeeting mitgebracht hat. Jetzt ist es aber erst einmal Zeit für Heinz´ asiatisches Hühnchenrisotto. Das zu verpassen wäre eine unverzeihliche Sünde.“

      Nach einem an Leckerness kaum zu überbietenden Mittagessen legte ich mich auf meine Koje, um zu dösen. An Deck wurde es am frühen Nachmittag inzwischen beinahe unangenehm warm. Als ich mich ausstreckte, berührte mein linker Fuß Lu´s Brief, den ich vor meinem Vater unter dem Bettlaken versteckt hatte. Ich pulte ihn hervor und öffnete ihn vorsichtig. Mir war, als müsse ich mich vor Skorpionen oder giftigen Tausendfüßern in Acht nehmen, während mein Finger, von einem zerfetzenden Geräusch begleitet, einen blass rosafarbenen Zettel freilegte. Der Brief bestand aus einer einzigen Seite, sie war zu zwei Dritteln mit dunkelgrüner Tinte beschrieben. Das alles sah aus, als hätte jemand mit Gallenflüssigkeit auf Klopapier gekleckert. Dennoch las ich Lu´s Zeilen.

      Ich möchte den genauen Inhalt des Briefes an dieser Stelle nicht wiedergeben. Was ich euch immerhin sagen kann: Lu hatte mich wirklich gern und keine Angst davor, es mir zu schreiben. Sie schrieb, sie habe sich in der Woche vor den Ferien sehr über meine Reaktion geärgert und sei darüber krank geworden. Vielleicht habe Ihre Krankheit auch nichts damit zu tun gehabt. Jedenfalls könne sie mich schon irgendwie verstehen und freue sich für mich, dass ich eine so aufregende Reise unternehmen dürfe. Der Brief endete mit ihrem Wunsch, nach den Ferien einmal mit mir ins Kino zu gehen oder gemeinsam Musik zu hören. Daran könne ja eigentlich nichts verwerfliches sein!? Es folgte zum Glück kein Herzchen oder so, sondern eine hübsch gezeichnete Blume.

      Ich war ganz schön von den Socken. Das waren nette Zeilen, von einem sehr netten Mädchen. Ich legte mich auf den Rücken, den Brief auf meinem Bauch, meine rechte Hand ruhte auf ihm. Mein Blick wurde von einem winzigen schwarzen Fleck an der Kajütendecke gefangengenommen. Vielleicht ein Fliegenschiss? Ungewohnte Gedanken kamen mir in den Sinn. Wieso mochte mich Lu eigentlich? Warum ausgerechnet mich? Sie kannte mich doch gar nicht. Oder etwa doch? Ich sprang aus dem Bett, stieg in die Sandalen und machte mich auf den Weg zu Heinz. Er verstand das Leben besser als jeder Vater und konnte mir sicher einen Rat geben, was nun zu tun sei. Ob überhaupt etwas zu tun sei. Und vielleicht konnte er mir sogar erklären, warum ich auf einmal so verwirrt war. Ich hatte da zwar so eine Ahnung, mit Frauen aber bisher natürlich keinerlei Erfahrung.

      Heinz freute sich über meinen Besuch. Ich zeigte ihm Lu´s Brief. Er riet mir, ihn oft und mit Freude zu lesen. Der erste Liebesbrief im Leben eines Mannes (auch wenn dieser hier noch recht zahm war, ich hätte mal seinen ersten Liebesbrief lesen sollen, da würde ich aber sowas von Rotebeete-rot anlaufen!) konnte entscheidenden Einfluss auf seinen späteren Werdegang haben. „Nu fängt das Leben richtig an, Kerl. Es liegt an dir, was du draus machst. Du willst einen Rat? Kannste haben: lass niemals etwas anbrennen! Das gilt fürs Essen wie für die Frauen.“ Womit alles gesagt war. Grund genug für Heinz, zwischen den weichen Kissen einer Couch in der Messe zu versinken und sein wohlverdientes Nachmittagsnickerchen abzuhalten.

      Während des Abendessens und leider noch deutlich darüber hinaus gab Ralfii ein paar seiner brasilianischen Höhlenwichtelgruselgeschichten zum Besten. Langweilig, echt. Es gab Menschen, die sogar lahme Geschichten spannend erzählen konnten. Und es gab Ralfii. Als ich die Augen partout nicht mehr offen halten konnte, zog ich mich in meine Gemächer zurück. In meiner Koje langsam hin und her rollend, kramte ich bei Funzelleselicht den rosigen Zettel aus seiner bleichen Hülle und las mehrfach die hoffnungsgrünen Zeilen. Ich roch sogar an dem Papier, konnte aber außer dem typischen Briefpapiergeruch keinen weiteren Duft feststellen. Ich sah Lu´s längliches Zahnspangengesicht

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