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Als ich etwa in deinem Alter war, bekam ich das alte, klapprige Fahrrad meines Vaters zur Konfirmation geschenkt. Vorher hatte ich gar keinen Drahtesel.“ Woher nahm er nur immer diese altmodischen Wörter? In meiner Vorstellung hockte er abends in seiner vor Büchern und Zeitschriftenartikeln überquellenden Butze und studierte historische Bezeichnungen für die Dinge des täglichen Gebrauchs aus riesigen, in seinen Händen zu Staub zerfallenden Lexika.

      „Es hatte gleich einen Platten, den ich gemeinsam mit Opa Werner reparieren musste.“ Oh nein, bitte nicht schon wieder und so früh morgens diese alte Geschichte! Ich hörte sie seit Jahren ohne jede Abweichung im Text und hätte sie rückwärts mitbeten können. „Du machst dir kein Bild davon, was es bedeutete, die Bastelei mit solch einem durchgeknallten Typen von Vater über sich ergehen lassen zu müssen. Er war die Ungeduld in Person. Und dann diese Pranken. Da wollte man ganz sicher keine Schraube sein. Naja, er war halt Schlosser, kein Feinmechaniker. Wirklich, du ahnst gar nicht, wie gut du es mit mir hast, mein Mati.“ „…ahnst gar nicht, wie gut du es mit mir hast…“ schallte das Echo durch die Morgenluft.

      Ich schwang mich mit zusammengekniffenen Lippen auf mein schwarz lackiertes Mountainbike und bedauerte, dass ich nicht auch meine Ohren verschließen konnte. Karl bestieg umständlich, wie ein älterer Herr eben, seinen Drahtesel. Ich hatte mir angewöhnt, ihn mit Karl und nicht etwa mit Papa oder so anzusprechen. Dafür fühlte ich mich längst zu erwachsen. Während der schleichenden Fahrt blickte ich mich um. Am rechten Rand des Radweges welkte ein herabgefallenes Blatt vor sich hin. Links wurden wir von einer Schnirkelschnecke überholt, ihr Fahrtwind traf mich hart. Erste Zweifel türmten sich hinter meiner Stirn. Würde ich jemals in der Schule ankommen?

      Irgendwann fiel mein inzwischen hoffnungsloser Blick auf das klappernde, silbern funkelnde Schutzblech meines vor mir her wackelnden Vaters. Oder besser seines Fahrrades, obwohl mir der andere Gedanke gut gefiel. Karls Schutzblech klapperte. Das Bild heiterte mich kurz mal auf. „Alles klar da hinten, bin ich zu schnell?“

      Meine Fresse! „Noch ´nen Tick langsamer und ich verliere das Gleichgewicht!“

      Na, jedenfalls entdeckte ich auf dem Schutzblech einen Aufkleber von 1986. Etwas mit Schülerlotsen oder so, was immer das auch sein mochte. Zufällig wusste ich, dass Karl ´86 sein Abi gemacht hatte. Das Datum lag deutlich vor meiner Zeitrechnung. Für mich war das etwa genausolange her, wie Adam und Eva. Wie mochte die Welt damals gewesen sein? Gab es schon Farbfernsehen? Besaßen die Menschen selbst überhaupt schon Farben?

      Während ich mich bemühte, auf der schleichenden Fahrt hinter dem Fossil her nicht doch noch umzukippen, erschienen schwarz-weiße, aber bereits bewegte Bilder vor meinem geistigen Auge: ein bulliger Typ in einem Blaumann überreicht dem jugendlichen Vater im Konfirmationsanzug ein klappriges Herrenrad. Ich wunderte mich noch über den schwarz-weißen Blaumann, da wurde der Vater vor mir plötzlich laut quietschend noch langsamer. Kein Zweifel: bei dem akribisch geputzten und tausendfach ungeschickt reparierten Gefährt handelte es sich um genau jenes uralte Fahrrad!

      ...“und dann ist er immer ganz unruhig und wütend geworden, wenn beim Reparieren etwas nicht gleich geklappt hat. Ich habe jede Menge Backpfeifen kassiert, weil ich mich angeblich ungeschickt angestellt habe. Kannst du dir das vorstellen? Ich und ungeschickt!“ Was zum Henker waren nun wieder Backpfeifen? Erst jetzt wurde mir bewusst, dass Karl den größten Teil der Fahrt über seine alten Geschichten vor sich hin erzählt haben musste. Sollte ich mir Sorgen machen? Aber verhielten sich nicht alle älteren Männer so oder so ähnlich? Würde ich etwa selbst meinem Sohn eines Tages mit meinen alten Storys den letzten Nerv rauben?

      Kaum zu glauben, aber wie aus dem Nichts tauchte plötzlich meine Schule vor uns auf. Ich winkte kurz einem mir über seine Schulter zuzwinkernden Karl hinterher und schaute mich um – uff, uns hatte niemand aus der Klasse gesehen.

      Ich freute mich geradezu auf meine letzte Schulwoche in der siebten Klasse. Während ich Herrn Meißner wie so häufig zu spät aus seinem alten Volvo krabbeln sah, stopfte ich mir die Kopfhörer meines MP3-Players in die Ohren. Nochmal Schwein gehabt! Es versprach ein guter Tag zu werden. Auf dem Weg durch die dunklen, nach zu vielen Schülern mit schmutzigen Schuhen riechenden Gänge lächelte ich. Meine Gedanken kreisten um den kleinen gelben Zettel, den Lu mir vor dem Wochenende zugesteckt hatte. So ´ne Art Liebesbrief eher. Sie habe mich beobachtet und fände mich süß. Logisch, dass ich die Zeilen auch den Jungs gezeigt hatte. Sollte sich inzwischen ordentlich herumgesprochen haben, die Geschichte. Ich war sehr gespannt auf Lu´s Gesicht und die geballte Rache der 7b-Mädchenfront. Klar, ich mochte Lu. Ganz schön doll sogar. Aber das muss unter uns bleiben, verstanden?

      Nach dem allgemeinen Abklatschen mit den Jungs und ein paar Funken versprühenden Blicken der Mädchen kehrte wieder Ruhe in der 7b ein. Lu erschien nicht zum Unterricht, sie hatte sich krank gemeldet. Das verabreichte mir ein leicht mulmiges Bauchgefühl, welches sich jedoch mithilfe von ein paar Schokoriegeln vorerst beheben ließ. Später sah ich aus dem Fenster und gleichzeitig die Schlagzeile

      „Aus Liebeskummer: von Mati verschmähte Gymnasiastin stürzt sich in den Abgrund!“

      auf meinem internen Monitor.

      Menno, Gewissensbissen brauchte ich jetzt wirklich nicht. Mir fielen zwei Möglichkeiten ein, mich von Lu´s Schicksal abzulenken: dem Unterricht folgen und mich sogar daran beteiligen oder an etwas Aufregendes wie die bevorstehende Brasilienreise mit meinem Vater denken. Ich entschied mich dafür, bereits vor dem eigentlichen Termin die Tropfsteinhöhlen Zentralbrasiliens zu bereisen. Ich erinnerte mich an die Dias, die Karl auf seinen vorangegangenen Reisen geschossen hatte. Etwas ähnlich Schönes hatte ich mit meinen eigenen Augen bisher nicht zu sehen bekommen. Wieder lächelte ich. Ich freute mich wie ein kleines Kind auf das größte Abenteuer meines noch jungen aber umso abenteuergierigeren Lebens. An Lu dachte ich vorerst nicht mehr.

      Am Abend war Karl ungewöhnlich aufgeregt, Während er meine Lieblings-Spaghetti zubereitete, berichtete er mir vom aktuellen Stand seiner Reisevorbereitungen. Er hatte seinen Vortrag für die Tagung in São Paulo beinahe fertig vorbereitet. Seine Kollegen an der Uni dort hatten ihm eine Liste von Ausrüstungsgegenständen gemailt, die wir mitbringen sollten. Darunter befanden sich so abenteuerliche Dinge wie Karbidlampen, Strickleitern und Höhlenhelme. Ganz unten auf der Liste entdeckte ich das Wort „Notproviant“!

      Karls Mund formte derweil Worte, deren Bedeutung ich nicht verstand. Er sprach über seinen Vortrag, den zu halten ihn seine Kollegen an der Uni in São Paulo eingeladen hatten. Mein Vater war, so viel hatte ich inzwischen begriffen, eine Koryphäe unter den Speläologen. Was das bedeutet? Karl war ein international bekannter und angesehener Spezialist auf dem Gebiet der Höhlenforschung. Besonders so krasse Höhlentiere wie Grottenolme, blinde rosa Fische, weiße Krebse und Geißelspinnen hatten es ihm angetan. Gerade redete er mal wieder sein Fachchinesisch. Doch auch wenn er in meiner trivialen Alltagssprache gesprochen hätte, wären Karls Worte belanglos wie Seifenblasen an meiner Tagtraumkapsel zerplatzt.

      Ich steckte bis zur Hüfte in einer Felsspalte. Die gelb-orange, aus Karbidfelsbrocken und Wasser gezeugte Flamme meines Helmes zeichnete qualmend sich mit jeder meiner Bewegungen verändernde Schatten an feucht glitzernde Höhlenfelswände. Diese Technik faszinierte mich. Man füllte einige nach Knoblauch riechende Felsstücke in einen Plastikbehälter, gab etwas Wasser darauf und schraubte alles mit einem Deckel zu. Ein Schlauch verband die am Gürtel zu tragende, etwa thermoskannengroße Gaskapsel mit einer Art Feuerzeug an der Stirnseite des Höhlenhelmes. Ein Metallspiegel reflektierte das Licht der orangefarbenen Flamme zusätzlich in Blickrichtung des Höhlenforschers. Die chemische Reaktion der Kalziumkarbidbrocken mit dem Wasser erzeugte neben dem brennbaren Gas Acetylen auch ordentlich Wärme. Sollte es einem dort unten in den Höhlen einmal zu kalt werden, konnte man sich an der Plastikflasche die Hände oder den Hintern wärmen.

      Das alles änderte nichts an meiner misslichen Lage. Ich steckte fest und je wütender ich mich in meinem steinernen Gefängnis wand, umso kräftiger spürte ich die kalten Felsklauen sich in meinen Rücken und die Hüften krallen. Hätte ich also doch auf die Worte meines Vaters hören sollen? Hätte ich auf dieses kleine Extra-Abenteuer verzichten und

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