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womit die Angelegenheit für mich erledigt war. Ich hatte also alles erledigt und war bereit, in den berauschenden Strom unzähliger Abenteuer einzutauchen.

      Die Abreise

      Am Montagmorgen fuhren wir gemeinsam mit Ralf, einem Kollegen meines Vaters, nach Bremerhaven. Dort lag ein deutsches Forschungsschiff vor Anker, das uns nach Rio de Janeiro bringen sollte. Als ich meinen rechten Fuß auf die stählernen Planken des Schiffes setzte, pochte mein Herz direkt in meiner Halsschlagader. Das Abenteuer begann, es gab nun kein Zurück mehr. In diesem Augenblick wuchs ich um mindestens 15 Zentimeter und alterte um fünf Jahre. Ich glaube ihr wisst, was ich meine. Ich wuchs über mich hinaus, wurde erwachsen, groß, ein vollständiger Mensch in der Welt der Erwachsenen.

      Karl und ich richteten uns in unserer Kajüte ein. Wie Männer das eben tun: wir stellten unsere Taschen in eine Ecke und verteilten irgendwelche Sachen über die im Raum stehenden Möbel. Ob ich wohl seetüchtig sein würde? Die Frage schoss mir durch den Kopf, als ich die kuschelig-engen Kojen sah. Mein Vater überflog die Post des Tages und legte einen an mich adressierten Umschlag auf mein Bett. Es war ein Brief von Lu. Damit hatte ich nicht gerechnet. Er bescherte mir einen letzten Gruß aus der Heimat auf meinem Weg in die große weite Welt. Was sie wohl von mir wollte? Hatte sie meine Entschuldigung erhalten? Ich war viel zu aufgeregt, um den Brief sofort und vor allem im Beisein meines Vaters zu öffnen. Zunächst einmal würde ich das nach Diesel und Bratfisch riechende Schiff gründlichst untersuchen.

      Ein großer Teil der Besatzung unseres Forschungsschiffes bestand aus ganz normalen Seeleuten. Ich war davon ausgegangen, dass ich es bereits auf der Überfahrt allein mit Forschern zu tun haben würde. Karl hätte jetzt sicher „Pustekuchen“ oder so etwas gesagt. Auf dem Hauptdeck angelangt, stand ich einem mit Ausnahme des Kopfes offenbar am ganzen Körper tätowierten, kleinen Muskelprotz im Weg. Sein Hemd baumelte nutzlos im Bund seiner ausgefransten Shorts. „Hey, kleiner Mann, wer bist du denn?“ „Ich bin Mati, mein Vater ist einer der Wissenschaftler.“ „Mati also. Und sein Papa ist ein Eierkopf. Na, dann pass´ man gut auf dich auf, hier an Bord. Wenn du weiter so im Weg ´rumstehst, werden wir dich unter Deck einsperren müssen. Und da haben wir Ratten herumlaufen, die sind doppelt so groß wie du.“

      Werner stellte sich wenig später doch noch als freundlicher Mensch heraus. Er zeigte mir den dröhnenden Maschinenraum, die nach Käsemauken und Schlimmerem miefenden Mannschaftsquartiere, die wissenschaftlichen Labore, die Fischfangnetze, den Stauraum und die Tiefkühlkammern für den unterwegs gefangenen Fisch. Der Seemann erklärte mir, dass eine der Strafen für im-Weg-herumstehen ein einstündiger Aufenthalt in der minus 20 Grad kalten Kühlkammer sei. An Bord gehe übrigens das Gerücht, dass ein so bestrafter Seejunge einst vergessen wurde und seitdem in der hintersten Ecke der Kammer stehe. Sein Geist spuke angeblich in Vollmondnächten durch die Kajüten. Werner zeigte mir auch ein langes Tau, mit dem in früheren Jahren der Meuterei bezichtigte Matrosen kielgeholt worden waren. Dieser schöne Brauch, so Werner, sei heutzutage mangels Meuterern leider in Vergessenheit geraten.

      Unser Rundgang endete vor der Kombüse, in der Heinz gerade wie ein in weiße Tücher gepresster Dirigent damit beschäftigt war, Fische zu filieren, die Filets sorgfältig in Teigmäntel einzuhüllen und das Ganze in einem reichlich bemessenen Ölbad goldbraun auszubacken. Nebenbei schmeckte er den am Morgen frisch zubereiteten Kartoffelsalat ab. Und bereitete einen bunten Salat vor. All dies erledigte der füllige Koch anscheinend allein. Ich stand mit offenem Mund am Tresen der Essensausgabe und folgte dem Schauspiel begeistert. Heinz´ Frage nach der von mir gewünschten Anzahl knusprig ausgebackener Dorschfilets beantwortete ich mit einem langgezogenen Ähhhhh, in das hinein der Smutje mir unüberschaubare Fisch- und Salatmengen auf einen Teller häufte. „Hier, mien Jung, hau´ dir man erst mal ordentlich den Bauch voll. Oh, hast ja gar keinen. Na, keine Bange, mien Jung. Das kriegen wir schon geändert. So wahr ich Heinz heiße und der beste Smut auf allen Weltmeeren bin. Oder stimmt´s etwa nicht, Werner?“

      Karl begegnete ich erst wieder am Nachmittag. Das Schiff war inzwischen fertig beladen, die Labore eingerichtet und die Mannschaft dabei, Lebensmittel und allerhand Kisten auf die Lagerräume zu verteilen. Ein paar Wissenschaftler saßen unter Deck in der Messe und besprachen die Route entlang der brasilianischen Südküste. Karl, Ralf und ich hatten mit dieser Forschungsfahrt eigentlich nichts zu tun, wir waren so eine Art blinde Passagiere. Wir würden vor der eigentlichen Mission des Schiffes von Bord gehen. Ich fand die beiden auf dem Sonnendeck, wo sie sich in ihre Hängematten gelegt hatten und lasen. Ich hockte mich auf das von einer beinahe senkrecht stehenden Julisonne erhitzte Deck und beobachtete die Seevögel am Horizont. Gab es eigentlich Vögel in den Höhlen? Fledermäuse ganz sicher, darunter auch Vampire, das hatte ich selbst einmal gelesen. Sie verließen im Schutze der Nacht die Höhlen und bissen kleine Wunden in die Haut von Säugetieren. Das austretende Blut leckten sie auf. Ob sie wohl auch Menschen anfielen? Die Biester waren die schlimmsten Überträger der Tollwut in Südamerika, aber zum Glück hatten wir uns dagegen impfen lassen.

      Noch an unserem ersten Abend an Bord schloss ich Freundschaft mit dem Schiffskoch. Heinz war deutlich älter und dicker als mein Vater. Er war geradezu rührend besorgt um meine für seine Begriffe nicht vorhandene Figur. Dank der Vergesslichkeit meines Vaters und des Volleyballtrainings an drei Tagen in der Woche glich meine Erscheinung eher der einer Spargelstange. Heinz stolzierte in seinem hellblauen Nicki-Schlafanzug durch die feierabendliche Messe und philosophierte über Frauen und das Leben im Allgemeinen. Während die übrigen Mitreisenden sich auf die laufende DVD zu konzentrieren versuchten, fand ich es großartig, Heinz´ Ausführungen zu lauschen. Er vereinte eine große Lebenserfahrung mit angeborener Klugheit. Heinz durchschaute das Männerleben und er reduzierte es auf das Wesentliche: Essen und Frauen. Wenn ich mich eines Tages traute, würde ich Heinz fragen, warum er sein Geld nicht als Guru verdiente. Das Zeug dazu hatte er jedenfalls.

      An meinem ersten Morgen an Bord überredete mich Heinz, es der Nachtwache gleich zu tun und eine Currywurst mit Pommes zum Frühstück zu verdrücken. Er hatte sich tatsächlich vorgenommen, aus dem Spargel eine ordentliche Futterrübe zu machen. Entgegen meiner anfänglichen Bedenken und dank eines enormen, frischluftbedingten Kohldampfes gelang es mir, die komplette Wurst samt Beilage zu verdrücken. Heinz strahlte im wahrsten Sinne des Wortes. Sein von Schweiß und Fettdämpfen glänzendes, rosiges Gesicht reflektierte das weiße Neonlicht der Kombüsendecke. Der so entstandene Lichtschein bündelte sich in seiner Mundpartie, in der ein Honigkuchenpferdegrinsen beinahe aus dem Ruder lief. Wie ein Bannstrahl traf mich der Scheinwerfer seines Lächelns mitten zwischen den Augen und spätestens in diesem Moment war es um mich geschehen: Heinz wurde mein bester Freund auf der zwölftägigen Überfahrt von Bremerhaven nach Rio de Janeiro.

      Meine anfängliche Reiseeuphorie ließ im Laufe der folgenden Tage kontinuierlich nach. Ich las ein paar Abenteuergeschichten in einem alten Buch, das Karl mir gegeben hatte. Es war nicht übel, handelte immerhin zum Beispiel von Amazonasreisenden, die von Wanderameisen oder Piranhas gefressen wurden. Den größten Spaß allerdings hatte ich, wenn ich, in die Ferne schauend, an Deck saß oder wenn Heinz Zeit fand, mich über das Leben aufzuklären. Obwohl Karl nicht an der Forschungsfahrt beteiligt war, fand er kaum Gelegenheit, sich mit mir zu beschäftigen. Er schrieb beinahe täglich seinen Vortrag neu oder besprach mit Ralf, was sie in den drei zu untersuchenden Tropfsteinhöhlen erwarten würde. Manchmal lauschte ich einer Unterhaltung wie dieser auf dem Sonnendeck:

      „Ich schätze, die Höhle in Goiás bringt uns mindestens eine bisher unbeschriebene Ancistrus- Art. Wir müssen nur dem Bachlauf weit genug folgen. Der einheimische Führer hat Professor Gonçalves von vollkommen augenlosen Exemplaren berichtet, die auch viel größer sein sollen als die Tiere am Eingang der Höhle. Und aus den beiden Cavernas in Minas Gerais ist noch so gut wie gar kein Tier beschrieben. Außer dem Jaguar, der sich in der Gegend herumtreiben und auf gut genährte Europäer warten soll.“

      „Ich bin ziemlich sicher, dass wir weit mehr als nur eine neue Art entdecken werden. Meinst du, wir können eine davon nach mir benennen? Ancistrus ralfii! Klingt doch gut, oder? Und falls wir eine neue Vampirfledermausart finden, heißt sie irgendetwas mit Mati. Sag mal, kleiner Mann, fürchtest du dich gar

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