ТОП просматриваемых книг сайта:
Kartell Compliance. Max Schwerdtfeger
Читать онлайн.Название Kartell Compliance
Год выпуска 0
isbn 9783811453098
Автор произведения Max Schwerdtfeger
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
a) Gruppenfreistellungsverordnungen
31
GVO sind Verordnungen der Europäischen Kommission, in denen die Voraussetzungen formuliert werden, unter denen wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen in typischen Vertragskonstellationen automatisch vom Kartellverbot freigestellt werden, weil bei Erfüllung dieser Voraussetzungen grundsätzlich vom Vorliegen der Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV auszugehen ist. GVO gelten in der gesamten Union und sind von den Gerichten der Mitgliedstaaten anzuwenden. Im Wege einer dynamischen Verweisung sind die GVO nach § 2 Abs. 2 GWB unmittelbar Bestandteil des deutschen Kartellrechts und dies selbst dann, wenn die Verhaltensweise nicht geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.
32
Alle GVO gehen von der gleichen Regelungs- und Freistellungstechnik aus (sog. „Schirmtechnik“). Die GVO enthält einen Freistellungstatbestand, in dem die Vereinbarungen einer bestimmten Art („Gruppe“) abstrakt beschrieben und abgegrenzt werden, die freigestellt sein sollen. Durch eine Marktanteilsschwelle wird die Anwendung der GVO auf Unternehmen beschränkt, welche nicht über allzu große Marktmacht verfügen. Hierfür ist die Vornahme einer Marktabgrenzung im Einzelfall erforderlich. In einer Liste werden besonders schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkungen, sog. Kernbeschränkungen, aufgeführt, deren Verwendung die Freistellungsfähigkeit der gesamten Vereinbarung entfallen lassen („Alles-oder-nichts-Prinzip“). Auch diejenigen wettbewerbsbeschränkenden Klauseln, die an sich die Voraussetzungen der GVO erfüllen, sind dann nicht mehr gruppenweise freigestellt. Kernbeschränkungen schließen regelmäßig auch die Freistellung der beschränkenden Vereinbarung auf Grundlage der Legalausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 Abs. 1 GWB aus.[60] Hierzu gehören vor allem Beschränkungen des Preises, der Produktion und des Absatzes sowie die Aufteilung von Märkten und Kunden. In einer weiteren Liste werden nicht freigestellte, weniger schwerwiegende, Beschränkungen aufgeführt, die zwar nicht mehr von der GVO erfasst und damit nicht „automatisch“ freigestellt sind, für die aber möglicherweise eine Einzelfreistellung nach der Legalausnahme in Betracht kommt. Ihre Verwendung lässt die Anwendbarkeit der GVO im Übrigen unberührt. Schließlich enthalten alle GVO eine Ermächtigung für die Kommission bzw. die nationale Wettbewerbsbehörde, mittels einer Einzelentscheidung die Freistellung wieder zu entziehen, sollte sich zeigen, dass die freigestellte Vereinbarung Wirkungen hat, die mit den Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV unvereinbar sind.
33
Die in der Praxis wichtigsten GVO sind:
– | die VO (EU) Nr. 330/2010 der Kommission über die Anwendung von Art. 101 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen (Vertikal-GVO),[61] |
– | die VO (EU) Nr. 1217/2010 der Kommission über die Anwendung von Art. 101 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung (F&E-GVO),[62] |
– | die VO (EU) Nr. 1218/2010 der Kommission über die Anwendung von Art. 101 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Spezialisierungsvereinbarungen (Spezialisierungs-GVO),[63] |
– | die VO (EU) Nr. 316/2014 der Kommission über die Anwendung von Art. 101 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen (TT-GVO).[64] |
Die Kommission hat zu diesen GVO jeweils Leitlinien erlassen, die sich sowohl mit der Frage befassen, wann eine Vereinbarung unter die GVO fällt, als auch praktische Hilfe bei der Beurteilung von Vereinbarungen geben, die nicht in den Anwendungsbereich der jeweiligen GVO fallen.[65]
b) Einzelfreistellung (Legalausnahme)
34
Fällt eine Verhaltensweise nicht in den Anwendungsbereich einer GVO bzw. sind deren Voraussetzungen nicht erfüllt, so ist eine Freistellung nach der Legalausnahme des Art. 101 Abs. 3 bzw. § 2 Abs. 1 GWB zu prüfen. Danach müssen für eine Einzelfreistellung vier Voraussetzungen erfüllt sein:
– | die Wettbewerbsbeschränkung dient der Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder der Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts; |
– | die Verbraucher werden am Gewinn angemessen beteiligt; |
– | die Wettbewerbsbeschränkung ist für die Verwirklichung dieser Ziele unerlässlich; |
– | die Vereinbarung eröffnet den Parteien nicht die Möglichkeit, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten. |
Kurz gefasst bedeute dies, dass wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen ausnahmsweise dann nicht verboten sind, wenn sie einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen herbeiführen, der auch der Markteggenseite zugutekommt und dieser die negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb überwiegt. Die vier Voraussetzungen müssen gleichzeitig erfüllt sein und zwar während des gesamten Zeitraums, in dem der Tatbestand des Kartellverbots erfüllt ist. Die Beweislast hierfür obliegt den betroffenen Unternehmen, die sich auf die Freistellung berufen.[66] Es empfiehlt sich, die der Bewertung zugrunde gelegten Materialien und Analysen möglichst umfassend zu dokumentieren, da der Sachverhalt regelmäßig erst mit zeitlicher Verzögerung von einem Gericht oder einer Kartellbehörde überprüft wird. Die Kommission hat zur Anwendung des Art. 101 Abs. 3 AEUV und zur Auslegung der darin enthaltenen zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffe Leitlinien erlassen.[67]
aa) Verbesserung der Warenerzeugung oder Verteilung – Effizienzgewinne
35
Für eine Freistellung muss die Verhaltensweise zunächst zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen. Zwar bezieht sich die Bestimmung des Art. 101 Abs. 3 AEUV ausdrücklich nur auf Waren, gilt aber analog auch für Dienstleistungen. Erforderlich ist, dass die Verhaltensweise im Einzelfall tatsächlich spürbare objektive Vorteile, sog. Effizienzgewinne, mit sich bringt, die sich objektiv prognostizieren lassen und die Nachteile der Wettbewerbsbeschränkung überwiegen.[68] Beispiele für derartige Effizienzgewinne sind Kosteneinsparungen bei der Produktion, etwa aufgrund besserer Auslastung oder Erhöhung der Kapazität, die Ausweitung des Angebots oder die Verbesserung der Qualität der produzierten Erzeugnisse und die Erschließung neuer Märkte. Die Kommission verlangt in ihren Leitlinien, dass die zu erzielenden Effizienzgewinne von den Unternehmen möglichst genau begründet und quantifiziert werden; bloße Theorien genügen nicht. So sind etwa die durch eine Kooperationsvereinbarung erzielbaren Kosteneinsparungen so genau wie möglich und in nachvollziehbarer Weise zu berechnen und die Unternehmen müssen angeben, wann und wie diese erreicht werden sollen und inwieweit ein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen diesen und der Wettbewerbsbeschränkung besteht.[69] Effizienzgewinne in Form neuer oder verbesserter Produkte erkennt die Kommission nur an, wenn das Unternehmen in nachvollziehbarer Weise erklären kann, warum diese neuen oder verbesserten Produkte einen objektiven wirtschaftlichen Vorteil darstellen.
bb)