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Wird uns diese genommen, fühlen wir den eigentlichen Motor für unser Verlangen, den Widerstand.

      Mit dem Widerstand zu sein ist eine hohe Kunst. Wer Kinder hat, weiß das. Der Widerstand ist manchmal massiv und wird sich zeitweise gegen uns Eltern wenden. Wenn wir versuchen, den Widerstand zu brechen, wird das Drama noch größer, da wir dem Kind dann die Botschaft vermitteln, dass der Widerstand nicht in Ordnung ist. Aber der Widerstand ist ein natürlicher Prozess und zutiefst richtig, und alles, was es in diesem Moment braucht, ist, dass wir dem Widerstand Raum geben und das Kind darin „halten“. Dann wird es zunächst den Widerstand ganz fühlen und dann den eigentlichen Schmerz, der im Widerstand abgewehrt wird.

      Wenn wir den Widerstand als natürliche Phase des Loslassens begreifen, wird es uns leichter fallen, unsere Kinder und uns selbst mit unseren Widerständen „halten“ zu können. Wir werden dann nicht „vernünftig“ auf uns einreden, dass wir jetzt annehmen sollen, sondern werden uns erlauben, die Phase des Widerstandes ganz zu fühlen. Das wird uns von selbst ruhiger machen und uns mit dem darunterliegenden Schmerz oder Mangel in Kontakt bringen.

      Reflektiere:

      Wie bist du als Kind von deinen Eltern „gehalten“ worden?

      Wie kannst du dich selbst „halten“ in Momenten der Unzufriedenheit?

      Experimentiere:

      Achte auf typische Momente von Unruhe und Unzufriedenheit.

      Gib den Gefühlen dabei ganz Raum und bleib dabei. Umfasse sie mit deiner Präsenz.

       Unser Urbedürfnis

      Betrachten wir diesen Prozess, „uns zu halten“, genauer, werden wir erkennen, dass die transformatorische Kraft das SEIN – die Präsenz – ist. Wir sind zunächst präsent mit der Unzufriedenheit und agieren sie nicht aus. Dann sind wir präsent mit dem Widerstand und schließlich mit dem darunterliegenden Mangel oder Schmerz. In jeder Phase braucht es lediglich unsere Präsenz, kein Tun, keine Vorschläge und keine Veränderungsversuche, damit sich der Prozess in seiner natürlichen Weise entfalten kann.

      Schließlich wird der eigentliche Mangel an SEIN für uns sicht- und fühlbar. Und auch hier braucht es nur unsere Präsenz, unsere Fähigkeit, mit dem Mangel ganz zu sein, damit sich mit der Zeit mehr SEIN und damit mehr innere Verbindung einstellt. Der Mangel füllt sich von innen her auf, durchs SEIN, und wir sind wieder friedlich. Kinder zum Beispiel, die auf diese Weise „gehalten“ werden, finden oft bereits nach kurzer Zeit des Dramas wieder zu sich und spielen friedlich. Sie ruhen in sich und folgen ihren natürlichen Bedürfnissen.

      So ist es auch mit uns Erwachsenen. Ruhen wir im SEIN, werden wir unsere natürlichen Bedürfnisse erkennen und ihnen Raum geben. Wir sorgen für uns und leben unser Leben von einem „Ort“ der Ruhe und des Erfülltseins aus. Dadurch entfaltet sich eine völlig andere Wirkung auf uns und unser Leben, als wenn wir von Unzufriedenheit und Unruhe getrieben sind. Im einen Fall jagen wir der Erfüllung unserer Bedürfnisse nach und finden selbst dann keine wirkliche Ruhe, wenn sie erfüllt werden. Im anderen Fall sind wir bereits erfüllt von SEIN und unsere Bedürfnisse werden unser Leben zusätzlich bereichern. Wenn sie einmal nicht erfüllt werden, können wir uns sehr leicht dem augenblicklichen Lebensfluss hingeben, da etwas anderes in uns trägt – das SEIN.

      Was erfüllt, ist das SEIN. SEIN trägt und nährt uns auf geheimnisvolle Weise. Oft sind wir uns dessen nicht bewusst und glauben, dass die Erfüllung eines Wunsches uns nährt. Aber wenn wir es genauer betrachten, werden wir sehen, dass in einem Moment der Erfüllung eines natürlichen Bedürfnisses ein Loslassen stattfindet, eine Entspannung und damit ein Einsinken – ein mehr SEIN können. Auch hier erfüllt das SEIN, nicht das Stillen eines Bedürfnisses. Wie wäre es sonst erklärbar, dass es viele arme Kulturen auf dieser Erde gibt, deren Menschen oft größere Zufriedenheit ausstrahlen als die Menschen in den reichen westlichen Industrienationen?

      Sind wir im SEIN gegründet, werden Bedürfnisse auftreten und Handlungen geschehen wie die Bewegung der Blätter im Wind, aber das, was trägt, ist viel grundlegender und umfassender. Wie bei einem Baum, dessen Saft aus den Wurzeln aufsteigt, um jedes Blatt zu nähren, werden auch wir genährt aus dem SEIN und nicht aus dem Tun oder der Erfüllung unserer Bedürfnisse. Das können wir auch daran sehen, wie wichtig für uns Menschen der Schlaf ist. Er nährt uns auf eine geheimnisvolle Weise. Haben wir gut geschlafen, sind wir entspannt, zufrieden und voller Energie. Schlafen ist unsere natürlichste Meditation als Mensch. Schlafen verbindet uns mit SEIN und lässt uns auftanken.

      Insofern ist das grundlegendste aller Bedürfnisse – unser Urbedürfnis – das Bedürfnis nach SEIN, und jeder Moment von Präsenz, in dem wir uns des SEINS bewusst sind, verbindet uns mit unseren Wurzeln und nährt uns. Gelingt es uns, das SEIN in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen, werden wir unabhängig von den äußeren Lebensumständen ein erfülltes und friedliches Leben führen.

      Reflektiere:

      Erinnere dich an intensive Momente von SEIN?

      Was erfüllt dich in einem solchen Moment?

      Wie erlebst du in diesen Momenten deine Bedürfnisse?

      1.3 Präsenz im Alltag

      Je tiefer wir begreifen, wie wesentlich das SEIN für unsere Erfüllung und unseren inneren Frieden ist, desto mehr werden wir unsere Sehnsucht und unsere Aufmerksamkeit auf das SEIN ausrichten. Das gilt nicht nur für die Meditation, sondern ebenso für unseren Alltag, fürs Gemüseschälen, fürs Arbeiten, für das Gespräch mit einem Freund. Das bedeutet nicht, dass wir ständig in stiller Versenkung sind, was im Alltag gar nicht möglich und nicht angemessen wäre, sondern dass wir zuerst darauf achten, zu SEIN, bevor wir handeln oder sprechen. Unser Ausgangs- und Ankerpunkt ist die Präsenz – das bewusste SEIN.

      Stellen wir uns vor, wir besuchen einen Freund und freuen uns darauf. Wir kommen in seiner Wohnung an und sofort reden wir aufgeregt aufeinander ein und teilen uns unsere Erlebnisse mit. Doch sind wir schon seelisch an diesem neuen Platz angekommen? Nehmen wir uns die Zeit, auch in der vertrauten Beziehung wieder neu anzukommen? Sind wir schon wirklich da? Wie anders würden doch der Kontakt und das Gespräch verlaufen, wenn wir uns die Zeit ließen, erst anzukommen.

      Dabei sollten wir uns bewusst machen, dass unser Leben immer aus Übergängen besteht. Nicht das Gleichbleibende ist das Natürliche, sondern der ewige Wandel der Situationen, auch wenn wir manchmal denken und hoffen, dass es andersherum ist. So wie die Jahreszeiten kommen und gehen, besteht auch unser Leben aus ständigen Übergängen. Nicht nur große Lebensabschnittsübergänge wie der Übertritt ins Berufsleben, Mutter oder Vater zu werden oder der Verlust einer Beziehung fordern von uns eine seelische Verdauungs- und Reifungsphase. Auch die vielen kleinen Übergänge des Tages, vom Frühstück in die Arbeitssituation und wieder zurück, vom Alleinsein zum In-Beziehung-Sein und zurück, erfordern ein ständiges seelisches Ankommen und sich neu Einstellen.

      Reflektiere:

      Betrachte einen einzigen Tagesablauf. Wie viele kleine und große Übergänge finden darin statt?

      Wie viel Zeit zum Ankommen nimmst du dir bei den Übergängen?

      Ankommen bedeutet, als Erstes zu spüren, wie wir uns gerade seelisch in einer neuen Situation fühlen und dieses innere Erleben bewusst zuzulassen. Wenn wir uns erlauben zu fühlen, dass wir zum Beispiel noch nicht da sind oder uns fremd fühlen, und diese Empfindungen ganz zulassen, werden wir mehr und mehr ankommen. Wir können dann mit dem, wie es ist, sein und darin ankommen. In dem Moment, in dem es uns möglich ist, wirklich da zu sein, können wir auch die Aufmerksamkeit auf das SEIN selbst richten und Präsenz erfahren.

      Ist Präsenz erlebbar, sind wir da. Wir sind innerlich im Kontakt und ruhig. Ein inneres Erfülltsein breitet sich aus. Von diesem „Ort“ aus gestaltet sich die Beziehung zu einem Freund anders, entspannter und offener. Von hier aus haben wir die Freiheit, jenseits von Gewohnheiten und Vorstellungen zu schauen, welche Art von Kontakt zwischen uns und unserem Freund tatsächlich gerade wirkt und können dem augenblicklichen Beziehungspotenzial Ausdruck verleihen.

      Das

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