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tägliches Leben zu bringen.

      LIENHARD VALENTIN

       Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,

       du mein tieftiefes Leben;

       dass du weißt, was der Wind dir will,

       eh noch die Birken beben.

       Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,

       lass deine Sinne besiegen.

       Jedem Hauche gib dich, gib nach,

       er wird dich lieben und wiegen.

       Und dann meine Seele sei weit, sei weit,

       dass dir das Leben gelinge,

       breite dich wie ein Feierkleid

       über die sinnenden Dinge.

      RAINER MARIA RILKE

      Einleitung

      Viele Menschen bewegt die Sehnsucht nach Stille. Es zieht sie in die Einsamkeit der Wälder, in die Ursprünglichkeit der Berge oder ans Meer mit seiner unendlichen Weite. In der Natur finden sich immer wieder Momente von innerem Frieden. Augenblicke, in denen sich unsere Seele weitet und uns eine Freiheit durchweht, die wir in den alltäglichen Sorgen und Pflichten häufig vermissen.

      Nicht selten entsteht hier der Wunsch, den inneren Frieden und die innere Freiheit noch tiefer kennenzulernen, und wir begeben uns auf den spirituellen Weg. Meditation, achtsame Selbsterforschung und Räume der Innerlichkeit gewinnen an großer Attraktivität. Die äußere Welt mit ihren gesellschaftlichen Verlockungen verliert an Bedeutung und wir tauchen tiefer und tiefer in die innere Welt unserer Seele ein.

      Mit der Zeit entdecken wir am Grund unserer Seele einen grenzenlosen und zeitlosen Bewusstseinsraum, den Raum der Stille. Dieser innere Raum der Bewusstheit wird das Gewahrsein genannt. Hier erfahren wir einen unbedingten Frieden, eine tiefe Verbundenheit mit allem und eine vollkommene Freiheit. Allmählich kann uns bewusst werden, dass dieser weite und offene Bewusstseinsraum keine angenehme Erfahrung ist, sondern unsere innerste Identität, die Quelle allen Seins. Die Verwirklichung der Dimension der Stille mit all ihren Facetten und Stationen war das Thema meines ersten Buches „Kein Pfad – aus der Stille leben“.

      Doch so nährend und intensiv ein Weg der Innerlichkeit und Erfahrungen von Stille auch sein mögen, sie sind nicht das Ziel eines spirituellen Lebens. Unweigerlich wird das äußere, alltägliche Leben unsere Aufmerksamkeit wieder einfordern. Menschliches Leben kann nicht bedeuten, sich in einen inneren Raum der Stille zurückzuziehen, sondern will, dass wir uns auf die äußeren Anforderungen beziehen. Auch Gefühle und seelische Regungen kehren nach einem Moment der Stille zurück und brauchen unsere Aufmerksamkeit und einen bewussten Umgang. Selbst wenn wir so tief in die Stille eingetaucht sind, dass die materielle Welt sich kurzzeitig auflöst oder traumgleich erscheint, kehrt sie unweigerlich in unser Bewusstsein zurück, solange wir in einem Körper leben.

      Spätestens hier wird uns bewusst, dass es auf dem spirituellen Weg nicht nur darum gehen kann, die inneren Räume der Stille zu verwirklichen, sondern dass wir einen Weg finden müssen, aus der Erfahrung der Stille im Alltag zu leben. Der innere Weg führt uns aus der Innerlichkeit wieder ins normale alltägliche Leben zurück. Die Fragen, die sich hier stellen, sind: Wie kann es geschehen, dass unser ganzes Leben Ausdruck von Stille wird? Wie können wir im Einklang mit den alltäglichen Herausforderungen leben? Oder wie Rilke es fast beschwörend formuliert: „Und dann meine Seele sei weit, sei weit, dass dir das Leben gelinge.“

      Genau von dieser Herausforderung eines spirituellen Lebens im Alltag handelt das vorliegende Buch. Ausgehend von der Einsicht in die Natur von Stille, werde ich die Grundeigenschaften des Gewahrseins aufzeigen und deutlich machen, was es bedeutet, wenn diese Eigenschaften unser inneres und äußeres Leben durchdringen und zu Grundhaltungen unseres Lebens werden. In fünf Kapiteln werden die zentralen spirituellen Grundhaltungen – Präsenz, Annahme, Offensein, Einssein und innere Führung – beschrieben, die ein Leben aus einer inneren Weite heraus möglich machen. So ist mit diesem Buch ein Leitfaden für ein spirituelles Leben in all unseren menschlichen Lebensbezügen entstanden.

      Die große Veränderung auf dem spirituellen Pfad ist nicht die Einsicht in die spirituelle Dimension, sondern das vollständige Aufgehen darin, das Durchdrungenwerden von ihr und damit eine Metamorphose unserer gesamten Persönlichkeit. Erst wenn wir die spirituellen Grundhaltungen verinnerlichen und damit gleichsam verkörpern, werden sich unsere Egostrukturen mit der Zeit verwandeln. Erst dann wird unser menschliches Leben auf eine natürliche Weise und ohne Anstrengung ein Ausdruck des inneren Friedens, der Verbundenheit und der inneren Freiheit sein und entsprechend in die Welt und in unsere Beziehungen hineinstrahlen.

      Wenn ich im vorliegenden Buch fünf spirituelle Grundhaltungen und ihre Relevanz für unseren Alltag beschreibe, geht es mir nicht darum, ein neues Ideal zu beschwören. Wie schnell geschieht es, dass wir uns mit einem Ideal identifizieren und entsprechend damit vergleichen? Die Folge ist, dass wir uns oder andere Menschen verurteilen, wenn wir oder andere diesem Ideal nicht entsprechen. Das ist es aber genau nicht, was dieses Buch will. Abgesehen davon würde es sowohl der Grundhaltung der Annahme als auch der Grundhaltung einer Herzensperspektive (Einssein) widersprechen.

      Dieses Buch will vielmehr einen Bewusstheitsprozess anstoßen, der unser Leben tiefgreifend durchdringen und verändern kann. Bewusstheit ist ein Raum jenseits von Wertung und Vergleich. Bewusstheit sieht einfach, wie es ist. Im Spiegel unserer Bewusstheit darf alles erscheinen, das Angenehme wie das Unangenehme, das Weite wie das Enge. Erst durch diese annehmende Form der Bewusstheit entsteht die Möglichkeit, dass aus einer inneren Freiheit heraus spontane Entwicklungen geschehen. Solange der Versuch einer Entwicklung oder Veränderung an unser Wertesystem geknüpft ist, führt er nicht wirklich in die Freiheit.

      Daher ist es von Bedeutung, dass wir beim Lesen dieses Buches wachsam sind, ob sich neue Ideale oder Werte ausbilden. Sobald sich ein neues spirituelles Über-Ich bildet, verlassen wir die Grundhaltung der Annahme und können nicht mehr unsere Ganzheit als Mensch umfassen. Wenn wir uns jedoch dieser Gefahr bewusst sind, können wir uns jedes Mal wieder an die bedingungslose Annahme der Bewusstheit erinnern und die scheinbar unperfekten Anteile unseres Menschseins liebend umfassen. Nur dann kann ein Bewusstheitsprozess in Gang gesetzt werden, der eine natürliche Entfaltung in Freiheit bewirkt und unser ganzes Menschsein durchdringt.

      Vielleicht ist es auch hilfreich, sich daran zu erinnern, dass die beschriebenen Grundhaltungen selbst nicht einer persönlichen Vorstellung oder einer Moral entsprechen, sondern sich unmittelbar aus der Einsicht in die Dimension des Gewahrseins ergeben. Sie sind damit ein folgerichtiger Ausdruck der innersten Natur von Gewahrsein und dienen der Bewusstheit, dem Frieden, der Verbundenheit und der Freiheit – aber keiner wie auch immer gearteten Moral.

      Mit jeder Moral wird einer unmittelbaren Einsicht, die aus der Bewusstheit geboren ist, eine Wertung aufgestülpt. Wir koppeln uns von der bedingungslosen Offenheit des Gewahrseins ab und es entsteht eine Trennung in unserem Geist zwischen dem, was „gut“ und „erwünscht“ ist und dem, was „böse“ oder „unerwünscht“ ist. Spätestens hier hat sich unser Ego, das immer in den Kategorien von Gut und Böse denkt, unserer Einsicht bemächtigt und bestimmt uns wieder. Offenheit kennt jedoch kein „Gut“ und „Böse“ und keine Trennung.

      Immer wieder lassen sich einzelne Menschen und spirituelle Gemeinschaften dazu verführen, eine neue Moral zu erschaffen, die sich dann letztlich gegen das Menschliche in ihnen und anderen wendet. Wenn uns der eigene Frieden und der Frieden zwischen Menschen am Herzen liegt, braucht es hier eine besondere Wachsamkeit.

      Zur Orientierung sei noch vorangeschickt, dass die Anordnung der fünf Grundhaltungen im Buch keiner Hierarchie entspricht. Die Grundhaltungen sind zwar mit einer gewissen Folgerichtigkeit im Buch dargestellt, aber keine ist wesentlicher als eine andere. Letztlich bedingen sie sich alle wechselseitig.

      Als

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