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ist weiterhin da. Auch sein männlicher Körper ist noch da. Alles, was menschliches Leben ausmacht, kann auch Buddha in seinem erwachten Zustand erfahren. Aber er identifiziert sich damit nicht. Er hat erkannt, dass das, was er ist, also seine grundlegende Identität, viel grundlegender ist als alle Erscheinungen dieser Welt. Und diese Identität ist Wachheit.

      Wach zu sein, verbinden wir normalerweise damit, mit klaren Sinnen denken, hören oder sprechen zu können. Wenn wir wach sind, sind wir uns der augenblicklichen Situation bewusst. Wachheit braucht Bewusstheit. Genauer: Wachheit ist nichts anderes als Bewusstheit. Wenn sich beim Lesen des Buches jetzt eine Wachheit einstellt, dann ist sich der Lesende des Lesens bewusst. Das ist bereits ein kleines Aufwachen. Nicht unbewusst zu lesen, zu atmen und zu denken, sondern sich des Lesens und Atmens und Denkens bewusst zu sein. Dieses Aufwachen nennt man Achtsamkeit und wird in den meisten spirituellen Schulen als Grundlage des Weges in der Meditation eingeübt.

      Doch Buddha spricht hier nicht von Achtsamkeit. Er meint nicht, dass er sich gerade der augenblicklichen Erfahrung bewusst ist, sondern er spricht über seine Identität. Er sagt: „Ich bin wach.“ Oder anders ausgedrückt: „Ich bin Bewusstsein.“

      Was ist die Grundlage dafür, achtsam sein zu können? Die Grundlage dafür, sich jetzt des Atmens bewusst zu sein? Es ist das Bewusstsein selbst. Auch diese Fähigkeit des Bewusstseins kann uns bewusst werden. Das ist keine Frage von Reflexion oder von Schlussfolgerung, sondern von unmittelbarer Aufmerksamkeit. Wir können uns des Bewusstseins unmittelbar bewusst werden als die innerste Dimension unserer menschlichen Wirklichkeit.

      Am leichtesten ist dies möglich in Situationen, in denen wir völlig unabgelenkt von unseren Sinnen und Gedanken aufmerksam sind. Stellen wir uns vor, wir sitzen alleine in einer stillen, großen Kirche. Die Atmosphäre von Stille und einem sakralen weiten Raum umfängt uns. Wir werden innerlich ganz ruhig und schließen die Augen. Wir lauschen der Stille. Wir hören nichts, lauschen mit einer immer feiner werdenden Aufmerksamkeit. Wir sind nur noch Lauschen. Wir sind Aufmerksamkeit. Kein Geräusch, kein Gedanke, kein Gefühl. Nur reines Aufmerksamsein.

      In einem solchen Moment verdichtet sich unser Erleben. Wir erfahren eine reine, intensive Form des Aufmerksamseins, des Lauschens. Und wir werden uns unseres Seins bewusst. Eines Seins, das noch unbedingt ist, frei von Gedanken und Gefühlen, frei von dem, was wir normalerweise sind und womit wir uns immer beschäftigen. Hier herrscht ein klares Erleben von SEIN, von „Ich bin“, ungeformt und ungerichtet.

      Das ist ein Erwachen in die Lebenswirklichkeit von SEIN. Eine Wirklichkeit, die unserem In-der-Welt-Sein zugrunde liegt. Eine reine ungeformte Wirklichkeit, aus der alle menschlichen Erfahrungen und Formen erst entstehen. Es ist die Urerfahrung, frei von Konditionierung und Konzepten die Urerfahrung „zu sein“, oder anders ausgedrückt, die unmittelbare Erfahrung von „Ich bin“, von Existenz.

      Auch in der Bibel wird auf diese Urerfahrung hingewiesen, als Gott Moses im Alten Testament seinen geheimnisvollen Namen offenbart: „JAHWE“. Übersetzt bedeutet dies: „Ich bin der Ich-bin.“ Die Mystikerinnen aller Zeiten suchten die Verwirklichung dieser direkten Erfahrung von Gott oder SEIN. Der Schlüssel zu diesem unbedingten SEIN ist reines Aufmerksamsein.

      Aufmerksamkeit ist der Schlüssel zum SEIN. Aber nicht fokussierte Aufmerksamkeit, sondern reines, ungerichtetes Aufmerksamsein. Je unmittelbarer wir in dieses unfokussierte Aufmerksamsein – wir könnten es auch Lauschen nennen – eintauchen, desto klarer entsteht die Erfahrung von Existenz, von „Ich bin“. Diese Erfahrung von SEIN wird Präsenz genannt. Es ist ein klares, intensives Erleben einer dichten immateriellen Substanz – ein Feld von SEIN.

      Je deutlicher diese Präsenz, dieses Bewusstseinsfeld auftaucht, umso klarer erkennen wir, dass dieses Feld die Grundlage allen Seins ist. Sie ist die Grundlage unseres Seins als Mensch, unseres Körpers und unseres gesamten Erlebens. Ganz allmählich, je öfter wir die Erfahrung von Präsenz machen, fängt unsere Sichtweise von uns selbst an, sich zu ändern. Wir erkennen immer mehr, dass wir nicht ein Mensch mit bestimmten Eigenschaften sind, der die Erfahrung von Präsenz macht, sondern dass unsere innerste Natur SEIN ist, die die Erfahrung eines Menschen mit bestimmten Eigenschaften hervorbringt.

      Plötzlich geht es uns wie der Nonne, die davon träumte, ein Schmetterling zu sein und beim Aufwachen nicht mehr wusste, ob sie, die Nonne, geträumt hatte, oder ob sie nicht in Wirklichkeit der Schmetterling ist, der gerade von einer Nonne träumt. Unsere Welt steht kopf und für eine gewisse Zeit kann dies sehr verwirrend sein. Doch letztlich wird sich immer mehr im Erleben von Präsenz das Erkennen durchsetzen, dass unsere grundlegende Identität das SEIN ist und nicht unsere begrenzte vorübergehende Form als Mensch. Jetzt verstehen wir auch die Aussage Buddhas: „Ich bin wach.“ Er hat seine wahre Identität erkannt: ungeformtes SEIN, das erfahren wird durch reines, ungerichtetes Aufmerksamsein.

      Experimentiere:

      Erinnere dich in Alltagbezügen immer wieder an das Aufwachen. Wache dabei immer wieder aus der Automatik und Unbewusstheit einer alltäglichen Verrichtung auf und sei dir des Vorgangs bewusst. Wie verändert sich dabei dein Erleben?

      1.1 Zugänge zu Präsenz

      Präsenz ist die Urerfahrung unserer Existenz, unseres Seins, und insofern eine andere Art von Erfahrung als unsere üblichen Alltagserfahrungen. Normalerweise nehmen wir immer innere und äußere Objekte wahr, Gedanken, Empfindungen oder Geräusche und visuelle Eindrücke. Aber in der Erfahrung der Präsenz richtet sich der Fokus unserer Aufmerksamkeit auf das Aufmerksamsein selbst. Hier gibt es kein Objekt, sondern nur SEIN, ungeformt und ungerichtet.

      Obwohl dieses SEIN uns immer begleitet – es ist schließlich die Grundlage unseres Daseins –, braucht es dennoch unsere Aufmerksamkeit, dass es als Präsenz erfahrbar und dadurch für uns zur unmittelbaren Wirklichkeit werden kann. Es gilt zu lernen, unsere Aufmerksamkeit auf das SEIN auszurichten. Das ist kein Tun und braucht keine Anstrengung. Wir müssen dazu kein anderer werden, als wir sind, und es braucht keinerlei Entwicklung.

      Der Zugang zu Präsenz ist mehr ein Sich-Erinnern als ein Tun. Wir erinnern uns ans SEIN und richten den Fokus unserer Aufmerksamkeit auf das Aufmerksamsein selbst und nicht auf den Inhalt unserer Erfahrung. Je ausschließlicher das geschieht, desto intensiver tauchen wir in die Erfahrung von Präsenz ein.

      Da es für uns Menschen aber eine ungewöhnliche Perspektive ist, nicht auf die konkreten Erfahrungen zu schauen, sondern ungerichtet zu lauschen, erscheint es zunächst gar nicht leicht, das zu vollziehen. Doch so schwer es im ersten Moment erscheinen mag, so selbstverständlich und leicht kann diese Perspektive mit der Zeit werden. Um sich auf diese Art des ungerichteten Lauschens einzustimmen, ist es hilfreich, wenn wir zwei Grundübungen machen: „Das Schauen ins Nichts“ und „das Schauen auf die Totalität der Erfahrung“.

      Beim Schauen ins Nichts wenden wir ein sehr einfaches Prinzip an, das für viele Menschen sofort umzusetzen ist. Wir richten unsere ganze Aufmerksamkeit und unser Interesse auf die Leere. Das ist leichter, als wir zunächst denken. Wir nutzen dazu die Zwischenräume zwischen den Erfahrungsobjekten: Wir lauschen zum Beispiel auf die Pausen der Lautlosigkeit zwischen den Geräuschen. Wir schauen auf die Räume zwischen den tanzenden Schneeflocken oder zwischen den Blättern am Baum. Wir achten auf die Räume der Stille zwischen den Gedanken oder konzentrieren uns auf den Moment der Bewegungslosigkeit in der Atempause zwischen Ausatmen und Einatmen.

      In all diesen Fällen richten wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf das Nichts aus. Unsere Sinne können in der Leere nichts Greifbares wahrnehmen, doch wenn wir vollständig aufmerksam sind ohne eine Wahrnehmung, dann bleibt eine intensive reine Form des Aufmerksamseins. Hier stellt sich die Erfahrung des SEINS ein. Denn Aufmerksamsein ohne etwas wahrzunehmen ist nicht nichts oder etwas Totes, sondern lebendige Präsenz, ungerichtet und formlos. Aus diesem Grund nennt man diesen Zugang in manchen Traditionen „Schauen ins nackte Sein“.

      Allerdings ist es notwendig, um diese Erfahrung zu machen, dass wir ein wirkliches Interesse für das Nichts, das SEIN selbst entwickeln. Ohne Interesse wird unser Geist sich nicht auf das Nichts konzentrieren können. Und erst in Momenten von vollständiger Konzentration erfahren wir im Nichts eine intensive Präsenz

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