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das SEIN wirkt nicht nur in Visionen und Projekten, die aus Momenten von Präsenz entstehen. SEIN hat eine unmittelbare Mächtigkeit, die gespürt wird. Da betritt ein spirituelle Lehrerin die Bühne zu einem Vortrag und es entfaltet sich eine Präsenz im Raum, bevor die Person noch ein Wort gesagt hat. Viele der Zuhörerinnen tauchen in eine Stille ein und empfinden eine Intensität, ohne dass noch etwas geschehen ist oder gesagt wurde.

      Hier spüren wir die Mächtigkeit von Präsenz. Tatsächlich wirkt häufig die Präsenz der Vortragenden stärker als der Inhalt, um den es geht. Ich habe schon oft in Vorträgen Menschen beobachtet, wie sie berührt und mit glänzenden Augen zuhören, ohne dass etwas Wesentliches oder Neues gesagt wurde. Sie waren gefesselt von der Präsenz der Vortragenden und nährten sich daran. Der Inhalt des Vortrags war nebensächlich.

      Diese Erfahrung machen wir auch beim Hören eines Konzertes. Während manches schwierige und vielleicht sogar virtuos gespielte Solo uns nicht berührt, kann umgekehrt ein einfaches Lied, wenn es nur mit großer Präsenz gespielt oder gesungen wird, uns in seinen Bann ziehen. Was uns berührt und eintauchen lässt, ist nur bedingt die Musik selbst oder ihre technische Schwierigkeit. Ergriffen werden wir von der besonderen Präsenz, mit der ein Musiker diese Musik beseelt.

      Besonders deutlich können wir dieses Phänomen bei Ritualen erkennen. Ein Ritual hat eine klare Form, die allen bekannt ist. Trotzdem kann sich auch hier in der gemeinsamen Konzentration auf den Vorgang eine Präsenz entfalten, die intensiv und nährend sein kann. Aber nicht der Inhalt des Rituals wirkt, der ist immer gleich, sondern eine lebendige Präsenz, die sich durch das Ritual entfalten kann.

      Es gibt Ereignisse und rituelle Räume, die das Eintauchen in eine gemeinsam erfahrene Präsenz fördern. Große Events zum Beispiel entfalten oft diese Wirkung. Aus diesem Grund lieben es viele Menschen, in die Intensität von Großereignissen einzutauchen. Oft werden sogar Menschen, die an der Sache selbst nicht interessiert sind, in deren Bann gezogen und sind danach begeistert. Während der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland hat sich in den Straßen eine friedliche Präsenz entfaltet, die viele Nicht-Fußballfans dazu gebracht hat, sich für Fußball zu interessieren.

      In all diesen Fällen spüren wir die Mächtigkeit der Präsenz. Doch häufig sind wir uns dieses Vorgangs nicht bewusst. Wir denken, der Vortrag, die Musik, das Ritual oder das Fußballturnier hat uns erfüllt und merken nicht, dass all diese vordergründigen Geschehnisse Beiwerk für eine größere hintergründige Wirkkraft waren – für das SEIN selbst.

      Spirituelle Lehrerinnen sind sich dieser Wirkkraft bewusst und lehren ihre Schülerinnen immer vom Ort der Präsenz aus, manchmal ohne Worte, nur durch „ihr“ SEIN. Dabei kann sich bei einer gewissen Reife der Schülerinnen die Präsenz der Lehrerin auf die Schülerinnen übertragen und sie taucht selbst in eine tiefe klare Erfahrung von Präsenz ein. Es wird ein dichtes nichtstoffliches Feld von SEIN erfahren, das jenseits aller Dinge existiert und doch alle Dinge umfasst. Dieser Vorgang wird als „direkte Übertragung“ zwischen Lehrerin und Schülerin bezeichnet und findet jenseits von Worten statt. Was hier wirkt, ist einzig und allein die Mächtigkeit des SEINS und die Fähigkeit der Lehrerin, sich an diese Macht anzubinden.

      Die Kunst dabei ist, dass die Lehrerin mehr auf das SEIN schaut und lauscht, und nur sekundär sich auf das Tun des Lehrens oder auf die Schülerinnen konzentriert. Eine reife Lehrerin ist zuallererst da – vollständig. Sie lässt die Aufmerksamkeit weit werden und dehnt die Präsenz, ihr Dasein, ganz aus. In diesem Zustand nimmt die Person ihren Platz mit ihrer Aufmerksamkeit vollständig ein, nicht nur ein bisschen, vorsichtig oder zaghaft, sondern ganz.

      Das bewirkt eine Ruhe und Selbstsicherheit, die nicht in ihrer Kompetenz, ihrem Tun oder in alten Überzeugungen („Ich kann oder weiß das“) wurzelt, sondern in der Kraft des SEINS. Sie ist zuallererst da, ganz da. Sie spürt das Feld des SEINS und fühlt sich dadurch getragen. Daher entfaltet sich ein Selbstvertrauen, das unabhängig ist von ihrem Tun und äußeren Reaktionen darauf. Dieses Selbstvertrauen ist unbeirrbar und unerschütterlich. Das hat Macht, die auch andere Menschen spüren und die entsprechend anzieht.

      Wenn es uns gelingt, wie eine spirituelle Lehrerin unseren Fokus tief im SEIN verankert zu lassen und nicht immer wieder auf unser Tun oder auf unsere Wirkung auf andere zu schauen, fühlen wir die Kraft des SEINS als Macht, die uns trägt und daher eine unerschütterliche Sicherheit und ein Selbstvertrauen verleiht, von dem unser Ego sonst nur träumen kann. Dieses Selbstvertrauen ist bei genauerem Betrachten nicht persönlich. Es entsteht nicht aus dem Wissen um persönliche Fähigkeiten oder Eigenschaften, also „weil wir so gut, so klug oder so schön sind“. Wir sind wie immer, in aller Unvollkommenheit, und doch haben wir in diesen Momenten Zugang zu einem SEIN jenseits all dieser Fähigkeiten und Eigenschaften.

      Dieses Selbstvertrauen kommt daher nicht aus uns, sondern aus dem SEIN selbst. Wir dürfen nur nicht den Fehler machen, diese Kraft als persönliche Fähigkeit oder als unser Verdienst zu betrachten, sonst führt dies zu einer persönlichen Überhöhung. Das kann schnell dazu führen, dass wir diese Kraft für unsere narzisstische Sehnsucht nach Bestätigung missbrauchen. Über kurz oder lang wird uns jede Egoaktivität, wie zum Beispiel das Sich-Erhöhen über andere, von Präsenz trennen.

      Aus diesem Grund gilt im Buddhismus Stolz als eines der klassischen Hindernisse in der Meditation. Stolz ist nichts anderes als eine illusionäre Selbstüberschätzung. Meist ist mit Stolz viel Gedankenaktivität verbunden, in der wir um uns selbst und unseren Wert kreisen. An diesen Gedankenvorgängen können wir erkennen, wenn wir mit Stolz identifiziert sind. Denn das Selbstvertrauen, das aus dem SEIN kommt, kennt kein Gedankenkreisen um sich selbst. Im Gegenteil, wir sind eher im Nicht-Denken, in der Präsenz, zentriert.

      Experimentiere:

      Achte bei Konzerten oder Vorträgen, die dich sehr ergreifen, bewusst auf die Präsenz der Musiker oder Vortragenden und versuche diese von innen her zu spüren.

      Nimm dir die Zeit, dich bei eigenen öffentlichen Aktivitäten tiefer an Präsenz anzubinden, bis du ganz „da“ bist. Fokussiere auf das SEIN und lass die Aktivität entstehen.

      1.5 Präsenz in Beziehungen

      Präsenz ist eine Kraft. Das können wir nirgends besser beobachten als in Beziehungen. Dort erleben wir die unmittelbare Wirkung dieser Kraft. In der Liebesbegegnung oder in der Fußballarena suchen wir unbewusst die Kraft der Präsenz und nähren uns daran.

      Begegnen wir einer Person, die eine starke Präsenz ausstrahlt, fühlen wir uns hingezogen und suchen ihre Nähe. Das ist nur natürlich, da auch unsere Präsenz – das Empfinden für unser Dasein, für Intensität und Wesentlichsein – im Feld der Präsenz einer anderen Person zunimmt. Wenn wir dagegen über längere Zeit nur Kontakte ohne Frische und Präsenz haben, fühlen wir uns nicht genährt und verlieren das Empfinden für unser grundlegendes Dasein. Wir erleben uns selbst gleichsam als Schatten, grau und ungreifbar.

      Wo wir diesen Vorgang besonders deutlich beobachten können, ist bei Kindern. Kinder brauchen die Präsenz der Eltern für ihr seelisches Wachstum. Präsenz ist die grundlegendste seelische Nahrung für Menschen. Ohne diese verkümmert das Empfinden für das eigene Dasein und für den eigenen Wert.

      Stellen wir uns vor, eine Mutter begegnet ihrem Kind aus der Präsenz heraus. Was geschieht bei diesem Vorgang genau? Die Mutter bindet sich ans SEIN an, vielleicht indem sie tiefer ins Lauschen geht. Sie ist. Sie spürt ihr eigenes Dasein. In diesem Zustand ist sie ohne Wollen und ohne Vorstellung, einfach offen. Daher kann sie auch dem Kind ohne Wollen und ohne Vorstellung begegnen. In einem solchen Moment sieht sie das Wesen ihres Kindes. Sie schaut darauf, wie es ist, und nicht darauf, wie sie es gerne hätte.

      Die Folge ist, dass sich das Kind gesehen und geliebt fühlt. Wenn uns jemand ohne Vorstellungen sieht und nimmt, fühlen wir uns geliebt und frei, zu sein, wer wir natürlicherweise sind. Wir können unser Wesen entfalten, ohne die üblichen Anpassungs- oder Schutzmechanismen unseres Egos. Wir haben das Gefühl, dass unser natürliches Sein von Interesse und damit wertvoll ist. So gewinnen wir ein gesundes Selbstvertrauen und werden unser Leben aus unserer inneren Wahrheit heraus gestalten können.

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