Скачать книгу

bevor wir reden, handeln, versorgen, loben oder maßregeln.

      Die Grundübung im Kontakt mit unseren Kindern ist immer wieder, unsere Aufmerksamkeit weiter zu machen, mit unseren Kindern zu sein und sie in ihrem Sosein zu sehen. Mit den gleichen Augen, mit denen wir sie als Babys angeschaut haben, unvoreingenommen und ohne Wollen und Vorstellungen uns von ihrer Vollkommenheit berühren zu lassen. Wie können wir unsere Kinder sehen, wenn wir nur durch die Brille unserer Vorstellungen schauen? Wie können wir ihr Wesen begreifen und bestätigen, wenn wir sie in eine bestimmte Richtung erziehen wollen? Wie sollen sich unsere Kinder verstanden und geliebt fühlen, wenn wir sie nicht wirklich sehen und nur immer wieder an ihnen herummachen, sei es durch Lob oder Kritik?

      Experimentiere:

      Erinnere dich in vielen alltäglichen Situationen mit deinen Kindern ans SEIN: Halte einen Moment inne und lass deine Aufmerksamkeit weiter werden… Geh ins Lauschen…

      Lass alle Vorstellungen los und schau mit neuen Augen auf das Sein deines Kindes.

      Mit Kindern auf diese grundlegende Art zu sein ist auch der Schlüssel dazu, sie in schwierigen Situationen zu begleiten. Wenn Kinder weinen oder schreien oder vielleicht sogar toben, dann brauchen sie in erster Linie von uns Eltern unsere Präsenz, nicht unser Eingreifen, unser Trösten, unser ärgerlich werden oder sonstige Reaktionen auf ihr Verhalten.

      Natürlich ist ein Moment, in denen es unseren Kindern nicht gutgeht, zuerst unangenehm für uns Eltern. Sie sind laut und brüllen. Oder sie sind quengelig und lassen uns keine Ruhe. Wir fühlen uns in unserer Alltagsroutine gestört. Daher reagieren die meisten Eltern in solchen Situationen in einer Weise darauf, dass sie versuchen, durch alle möglichen Strategien das Kind wieder möglichst schnell aus diesem schwierigen Zustand der Unausgeglichenheit herauszubringen.

      Doch egal, ob wir das Kind trösten oder ablenken, einsperren oder anbrüllen, immer versuchen wir nur die Situation möglichst schnell abzustellen, weil wir unsere eigenen unangenehmen Gefühle dabei nicht aushalten. Das bedeutet, all diese Handlungsweisen sind Abwehr- und Fluchtreaktionen, mit denen wir das Kind in Wirklichkeit allein lassen und in seiner Not weder sehen noch annehmen. Die Folge ist, dass das Kind die Überzeugung gewinnt, nur geliebt zu sein, wenn es ausgeglichen ist. Im Innersten entwickelt sich ein Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit.

      Die meisten Menschen tragen in sich einen Ort von Einsamkeit, der hin und wieder aufscheint. Es ist das Gefühl, gerade in der Not, in der Schwäche und Ohnmacht, in den schmerzlichsten Situationen verlassen und unverstanden zu sein. Eine Folge immer wiederkehrender Erfahrungen von Alleingelassenwerden im Schmerz als Kind. Wie sehr sehnen wir uns doch alle zutiefst, dass uns Menschen in unserer Not aushalten und sich ganz für uns öffnen? Daher erleben wir meist die Rettungsversuche unserer Freunde, wenn wir in Not sind, nicht als Unterstützung, sondern nur als ein erneutes Verlassenwerden.

      Reflektiere:

      Wie sind deine Eltern mit dir umgegangen, wenn du unausgeglichen oder in Not warst?

      Geh in diese Situationen hinein und spüre, wie du das erlebt hast. Was hast du daraus für Grundüberzeugungen und Grundgefühle entwickelt?

      Menschen in Not, ob Kinder oder Erwachsene, brauchen unser Dasein, unser Einlassen auf den Moment der Ohnmacht. Sie sehnen sich nach unserer Präsenz, unserem „Damit-sein-Können“. Erst dann fühlen sie sich darin angenommen und müssen sich selbst nicht mehr so gegen den Schmerz, die Schwäche oder die Ohnmacht wehren. Sie können sich in diesen schwierigen Gefühlen niederlassen und mit der Zeit darin ihren Frieden und ihre Mitte wieder finden.

      Ich kann immer wieder beobachten, wie sich Kinder relativ schnell beruhigen, wenn wir sie wirklich in einer Notsituation mit Präsenz begleiten. Präsenz ist eine ruhige Kraft, wo die Not sein darf und sich nicht ändern muss. Präsenz ist verbunden, da wir ganz mit der Person in ihrer Ohnmacht im Kontakt bleiben können. Präsenz beinhaltet eine tiefe Annahme, da wir der Person in Not durch unser Dasein vermitteln, dass sie in ihrer Ohnmacht in Ordnung ist. Präsenz hat aber auch eine große Klarheit, da wir nicht nach schnellen Lösungen suchen, sondern dem Prozess des „Sich-Versöhnens“ mit der Ohnmacht, so wie er abläuft, Raum geben können.

      Dabei sollten wir uns klarmachen, dass eine Person in Not typischerweise an einer inneren oder äußeren Grenze steht, die sie noch nicht annehmen kann. Hier geht es um einen Versöhnungsprozess, bei dem sie verschiedene Phasen durchschreitet, bis sie irgendwann innerlich zustimmen kann und sich an der Grenze entspannt. Zunächst wehrt sie sich dagegen. Sie sucht nach Lösungen, aus der Ohnmacht herauszukommen oder die Grenze zu überwinden. Sie kämpft gegen die Grenze an. Sie ist vielleicht unruhig oder wütend. Dann kommt eine Phase, in der sie realisiert, dass sie in diesem Kampf keine Chance hat, und sie fühlt den Schmerz darüber. Sie fühlt, dass sie (von ihrer Vorstellung) loslassen muss und erlebt dieses Loslassen als Verlust und Trauer. Schließlich aber kann sie sich immer mehr auf das, was ist, einlassen und entspannen und findet zu ihrer Überraschung dort einen inneren Frieden.

      Diese Phasen des Sich-Versöhnens sind bei allen Grenzen, die uns mit Frustration, Enttäuschung und Ohnmacht konfrontieren, gleich und am Ende wartet immer ein undramatischer Friede auf uns. Das liegt daran, dass das eigentliche Leiden niemals aus der für uns schwierigen Grenze entsteht, sondern aus einer festgefügten Vorstellung, die der Situation widerspricht und an die wir uns klammern. Jede erlebte Grenze, ob innerlich oder äußerlich, zwingt uns also letztlich dazu, eine Vorstellung loszulassen und uns mit dem Verlust dieser Vorstellung zu versöhnen.

      Genau dazu ist nichts hilfreicher als die Klarheit einer Begleiterin in Präsenz. Sie ist mit uns und gibt dem Prozess des Sich-Versöhnens Raum. Durch ihre absichtslose Präsenz kann sie einem Menschen auf eine Weise beistehen, dass der Verdauungsprozess ablaufen kann und es wieder zu einer inneren Versöhnung mit dem Augenblick kommt.

      Experimentiere:

      Wenn ein Kind einen schwierigen Moment hat, begegne ihm mit Präsenz: Stimme den eigenen schwierigen Gefühlen und denen des Kindes ganz zu und sei damit. Mach dir bewusst, dass jede Grenze und jedes „Nein“ nicht das Ende eines Prozesses, sondern den Beginn eines seelischen Verdauungsprozesses darstellt.

      Natürlich ist Präsenz nicht nur grundlegend in der Beziehung zu Kindern, sondern in jeder Beziehung. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit weiten und nicht mehr auf den Inhalt des Gesprächs, auf innere Vorstellungen und Werturteile fokussiert sind, haben wir die Offenheit, den anderen Menschen in seinem Wesen zu sehen. Dieses Sehen ist frei, unvoreingenommen und annehmend. Es ist nichts anderes als Liebe.

      Natürlich ist dies keine Liebe in einem romantischen Sinne. Wir empfinden keine Schmetterlinge im Bauch und müssen nicht ständig an die andere Person denken. Es ist auch keine bedürftige Liebe, die die andere Person braucht und ihr nahe sein will. Wir können sehr gut ohne die andere Person weiterleben. Es ist vielmehr eine Liebe im existenziellen Sinne. „Ich liebe dich, da ich dich tief sehe und annehme.“ Wir können die andere Person in ihrem Wesen erkennen und ihr dort begegnen.

      Wenn wir einer Person mit unvoreingenommenen Augen begegnen, werden wir sie in ihrer Vollkommenheit sehen können und in ihrer Schönheit. Vollkommenheit und Schönheit sind keine äußeren Maßstäbe und keine fixen Größen, sondern innere Dimensionen als Folge von Präsenz und Liebe. Vollkommenheit sehen wir, wenn wir frei von Vorstellung und Wertung auf das Sosein im Gegenüber schauen. Und dessen Schönheit erkennen wir, wenn wir mit Liebe schauen.

      Mit Liebe zu schauen ist mehr als Präsenz. Präsenz öffnet unseren Geist. Wir sind ganz da. Wir spüren das SEIN. Wir sind Offenheit – unfokussiert, absichtslos, unvoreingenommen und weit. Liebe jedoch geht noch über diese Öffnung hinaus. Sie ist eine Herzensöffnung. Wir schauen durch unser Herz, mit Wärme. Wir lassen uns berühren und empfinden die Schönheit des SEINS.

      Wenn wir daher längere Zeit die Vollkommenheit und Schönheit des Lebens und der Menschen nicht mehr empfinden können, liegt das nicht daran, dass Menschen so wenig perfekt sind und keinem Schönheitsideal entsprechen, sondern lediglich an unserer mangelnden Offenheit. Vielleicht

Скачать книгу