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oberste, rosafarbene Eisbällchen ab.

      Bea wäre beinahe ihr Hörnchen aus der Hand gefallen. „Was hast du gesagt?“

      „Chaya.“ Erdbeergeschmack zauberte einen überraschten Gesichtsausdruck in das ansonsten so leblose Gesicht des Mädchens.

      „Schaia?“, fragte Bea nach. Langsam dämmerte es ihr.

      „Dann brauchst du mich nicht mehr Das zu nennen. Chaya bedeutet unter anderem lebendig.“ Chaya fand ganz offensichtlich Gefallen an dieser speziellen Bedeutung. Sie nickte sich selbst zu, als sie ihr Spiegelbild in einem Schaufenster erkannte. „Chaya!“ Es klang geradezu wie ein Schlachtruf. In einem Anflug von Übermut nahm sie daraufhin das gesamte Erdbeereisbällchen mit einem Happen in den Mund. Die nächste Reaktion war ein schmerzerfülltes Zusammenzucken, weil sie feststellte, dass das Schlucken zu großer Mengen kalter Lebensmittel recht unangenehm sein kann.

      „Mädchen, hast du noch nie Eis gegessen?“, fragte Bea erstaunt.

      „Chaya“, wiederholte Chaya keuchend, „das Mädchen heißt Chaya.“

      Als sie den Kuriositätenladen am unteren Ende der Straße erreichten, versuchte Bea mit einem Taschentuch und mäßigem Erfolg, das Gesicht der Kleinen vom Eis zu befreien. „Chaya, ich denke, dass das mit dem Eis vielleicht keine so gute Idee gewesen ist. Dein … Quirinus … wird nicht begeistert sein, dich so verklebt zu sehen.“

      Etwas bang betrachtete sie das Geschäft, mit der rot-weiß gestreiften Markise. In dem eigenwillig dekorierten Schaufenster fanden sich Baseballkarten, Blechspielzeuge und Dampfmaschinen neben einer alten Wurlitzer und einigen vergilbten Briefmarkenalben, in deren aufgeschlagenen Seiten ebenso vergilbte Briefmarken eingesteckt waren. Zylinder und Zauberstäbe, ein Strauß mit ziemlich lädierten Strohblumen und Uhren. Unzählige Uhren! Taschenuhren, Armbanduhren, Wecker, Tischuhren und, und, und.

      Das Innere des Ladens präsentierte sich wie erwartet: Muffig und schlecht beleuchtet. Bea fragte sich, wie es möglich war, dass bereits über allen Exponaten eine dünne Staubschicht lag, obwohl die Sachen erst seit zwei Tagen in den Regalen liegen konnten.

      „Kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Ein Verkäufer – nicht Quirinus – trat ihnen entgegen. Seine Erscheinung passte nicht ganz in das Gesamtbild. Er war jung, freundlich und gut gekleidet. Bea hätte als Einstellungsbedingung eigentlich das absolute Gegenteil erwartet. Zwischen ausgestopften Eberköpfen, etwas, das nach einem ausrangierten Blasebalg für eine gigantische Mundharmonika aussah, einem Hochrad und zahlreichen anderen Exponaten wirkte der Mann so deplatziert wie Kaviar auf Sauerkraut mit Schokoladensoße. „Schauen Sie nach etwas Speziellem oder stöbern Sie nur? Ich könnte Ihnen ein paar Raritäten aus dem Ersten Weltkrieg zeigen. Oder lieber Antiquitäten aus der Renaissance?“

      „Chaya“, sagte Bea etwas überrumpelt.

      Der Verkäufer blinzelte verwirrt. „Wie bitte?“

      Bea schob das Mädchen sachte vor sich. „Ich bringe Chaya heim. Herr Quirinus hat vergessen, sie bei mir abzuholen.“

      Der Verkäufer nickte wie ein Butler, warf die Hände hinter den Rücken und eilte durch eine Seitentür davon. Irgendwo rumpelte es laut, stampften schwere Schritte eine Metalltreppe hinab. Um einiges leichtfüßiger erstiegen Schritte wieder jene Treppe zurück nach oben. Kurz darauf öffnete sich die Tür und Quirinus stand vor ihnen.

      Nein, er stand nicht wirklich. Er tänzelte auf der Stelle. Irgendwie war immer mindestens ein Bein oder ein Fuß in Bewegung. Sein Körper vibrierte förmlich zu den Melodien einer unhörbaren Musik. Es wirkte auf groteske Art elegant und verspielt zugleich. Doch schließlich pendelte das Bewegungsmoment in ihm aus und sein Körper kam zur Ruhe.

      „Cousinchen!“, rief er und breitete dann wie ein schlechter Theaterdarsteller die Arme aus um eine andere Schauspielerin, die er vermutlich nur von der Bühne her kannte, gespielt herzlich in die Arme zu nehmen. „Chaya hat noch ein Eis mit mir gegessen“, sagte Bea.

      „Chaya?“

      „Chaya.“

      „Ach. Chaya!“ Er legte den Kopf schief und betrachtete das Kind eingehend von oben bis unten. „Ein schöner Name, nicht wahr? Es ist ein indischer Name, oder?“

      Für Beas Geschmack waren in den letzten Aussagen ihres Gegenübers eindeutig zu viele Fragezeichen. Ihr Misstrauen bezüglich dieses seltsamen Kauzes wuchs von Minute zu Minute. Vielleicht würde es nicht schaden, mal die tatsächliche Bedeutung des Namens Chaya zu recherchieren.

      Quirinus schien in ihren Augen zu lesen und beschloss daraufhin eilig das Thema zu wechseln. „Wo Sie gerade hier sind: Möchten Sie sich mal in meinem Reich umsehen? Es gibt hier bestimmt einige spezielle Schaustücke, die auch Ihr Interesse wecken könnten.“

      Bea bedachte den ausgestopften Eberkopf mit ungeschminkter Geringschätzung. Ihre Ironie konnte sie auch kaum verbergen. „Ich bin schon ganz neugierig. Aber …“ Sie schob demonstrativ den Ärmel hoch und deutete auf ihre Armbanduhr. „Ich muss zurück in meinen Laden.“

      „Ach, kommen Sie!“ Quirinus drückte Chaya zur Seite und packte Bea bei der Hand. Wie ein Verliebter, der mit seiner Angebeteten in den Siebten Himmel flüchten wollte, zog er sie durch eine Tür in einen angrenzenden Raum. „Photos“, rief er. Bea hatte keine Ahnung, wie er es schaffte, dass man das „Ph“ so deutlich hören konnte. Doch der Unterschied zum folgenden Satz war eindeutig. „Und Fotos gibt es hier auch. Zusätzlich gibt es hier auch noch Fotografien.“ Er lachte.

      Das Licht war um ein Vielfaches trüber. Die Luft selbst atmete einen Hauch von Sepia. Aber Quirinus hatte nicht übertrieben: Beas Interesse war geweckt. Dieser Raum präsentierte sich als eine Hommage an die Ikonographie. Die Regale, die sich wie in ihrem Bücher-Antiquariat bis unter die Decke hoben, waren überfüllt mit Rahmen und kartonierten Bildern. Alben und Kartons drängten sich dazwischen. Außerdem gab es allerhand Tische, auf denen Kameras, Projektoren und Entwickler mehr oder minder dekorativ angeordnet waren. Die Geräte stammten aus allen möglichen und unmöglichen Epochen. Ein Fotoapparat schien Herrn Feuerstein gestohlen worden zu sein.

      „Ich finde, dass Fotos etwas ganz Besonderes sind. Diese alten Papierzeugen sind ebenso kostbar wie Ihre alten Bücher. Sie sind nicht zu vergleichen mit der digitalen Welt, die heutzutage von jedem Billighandy abgelichtet wird.“

      Bea bewies sich als gehorsamer Stichwortgeber. „Warum?“

      Quirinus lächelte. „Schauen Sie sich dieses alte Foto an. Es ist ungefähr 100 Jahre alt. Schwarz und weiß. Von dieser Familie mit dem gestrengen Patriarchen gibt es nur noch diese eine Abbildung. Ich möchte wetten: Jeder Angehörige der Sippe hat weit mehr als nur einmal einen Blick darauf geworfen. Unzählige Male hat es sich in die Gedächtnisse eingebrannt. Es ist zu einem Stück Familiengeschichte geworden. Wenn heute jemand ein entsprechendes Foto macht und es im Internet teilt, wird es für den Augenblick vielleicht tausendfach wahrgenommen. Aber in einer Stunde haben es bereits alle wieder vergessen. Was ist schon ein Foto, wenn jeder Depp täglich zwanzig Bilder macht? Mancher teilt sogar seine Portion Pommes mit Majo im Web.“

      „Sie erinnern mich an einen alten Herrn, den ich mal kannte“, merkte Bea an. „Er hatte eine sehr ähnliche Meinung. Jedoch in Bezug auf Bücher.“

      Quirinus lächelte hinterlistig. Wie dieser Ausdruck zu deuten war, verriet er allerdings nicht. Stattdessen dozierte er weiter. „Bücher! Ja. Ich habe auch einen Verkaufsraum für Bücher.“ Er stellte das Foto halbwegs sorgsam zurück an seinen Platz im Regal. „Kommen Sie!“ Er führte Bea in den benachbarten Raum. Der war ebenso groß, ebenso angeordnet und ebenso chaotisch bestückt. Doch die Thematik der Ausstellungsstücke hatte nichts mehr mit Fotografie zu tun. Es waren ausnahmslos …

      „… Bücher!“, rief Quirinus. „Ich habe zwar noch lange kein lückenloses Sortiment, so wie Sie. Aber das gedruckte Wort wird bestimmt irgendwann zu einem Kuriosum. Dann gehört es gänzlich in meine Lokalität. Alles, was mit Kultur zu tun hat, erlebt in diesen Tagen eine wahre Inflation, denke ich.“ Eine kurze Pause folgte. „Wie hieß denn der weise Mann, den Sie vorhin

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