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die du schon immer wolltest. Du hast Erfolg mit deinem Laden und auch mit diesem Buch. Nur unser Keller … Er ist wie ein blinder Fleck. Wir müssen endlich mit der Vergangenheit abschließen.“

      Selbstverständlich hatte Ingo recht, Bea wusste das. Es war ganz leicht zu erkennen, denn sie beide sprachen nur von dem Wort „Keller“. Aber was da im Keller war, blieb unaussprechlich.

      Bea ging zu Ingo, griff nach seinen Händen, umfasste sie ganz zart. Dabei vermied sie es, in seine Augen zu schauen. „Also, nach der Arbeit, ja? … Bitte.“

      Ingo gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Es ist nur eine Galgenfrist. Wir müssen das irgendwie hinter uns bringen.“

      Bea nickte. „Eine Galgenfrist“, wiederholte sie, kämpfte dabei tapfer gegen ihre Tränen an und versuchte verzweifelt, diesen Kloß im Hals herunterzuschlucken.

      Bea erreichte das Antiquariat pünktlich um neun Uhr. Es war ein wundervoller Morgen. Die Sonne schien durch die Blätter der neu gepflanzten Bäume, Vögel zwitscherten verliebt und auf der Straße flanierten Leute aller Couleur. Die Szenerie verlangte mit aller Macht nach der Bezeichnung „idyllisch“. Hier, rund um Beas Laden, zeigte sich ein Stückchen heile Welt. Nicht nur für Bea. Alle, die hier lebten und arbeiteten, spürten es in gewisser Weise: Diesem Ort wohnte ein besonderer Zauber inne. In jeder Hinsicht. Außerdem waren die Geschäfte zu einer Art Touristenattraktion geworden. Nirgendwo sonst gab es so viel Kunst und Kunst handwerk auf einem Fleck. Hier fand man Geigenbauer, Glasbläser und Porzellanmaler neben Korbflechtern und Goldschmieden. Straßenmusiker und Pantomime unterhielten die Passanten und in der Galerie rechts vom Antiquariat standen manchmal die Leute Schlange bis hinaus auf die Straße, nur um die Werke junger, bis dato unbekannter Künstler zu entdecken. Auch all die anderen Geschäfte, sei es Friseur, Florist, der Spielzeughändler mit selbstgemachten Teddys oder der Töpfer mit seinen extravaganten Vasen, konnten sich vor Kunden kaum retten.

      Sogar das neue kleine Kino hatte sich zu einem Publikumsmagneten gemausert, obwohl dort nur selten aktuelle Filme gezeigt wurden. Die Besucher schätzten das nostalgische Flair mit Vorhang und Barockdekor.

      Das Lichtspieltheater war schräg gegenüber vom Antiquariat, und als Bea die Markise vor dem Schaufenster herauskurbelte, winkte ihr Arno Davids, der Eigentümer, freundlich zu.

      „Guten Morgen, Arno“, rief Bea. „So früh schon bei der Arbeit?“

      „Natürlich! Es ist Donnerstag. Ich häng’ die neuen Plakate in die Kästen.“

      Der Begriff „neu“ war in Bezug auf die Plakate eine herzliche Übertreibung, stellte Bea amüsiert fest, als sie beobachtete, dass er die Plakate von Charlie Chaplin sorgsam einrollte und gegen Werbung für Schwarzeneggers Last Action Hero austauschte. Um das zu bewerkstelligen, musste Arno mehrmals auf einer zweistufigen Trittleiter auf und ab klettern, denn der ältere Mann mit dem grauen Haarkranz kam wegen seiner geringen Statur nicht mal ansatzweise an den oberen Rand des Rahmens.

      Bea hing die Kurbel ab und lehnte sie an die Ladentür. Dann eilte sie über die Straße zu Arno. Kurzentschlossen nahm sie ihm die Stecknadeln aus der Hand und befestigte das letzte Plakat für ihn. „Denken Sie, dass sich das noch jemand anschauen will? Der Streifen lief doch bereits zig Mal im Fernsehen.“

      „Ach, ich glaub’ schon, dass er sein Publikum finden wird. Ich habe eine Schwäche für diesen Film. Es ist lustig, wenn Klischees so schön durch den Kakao gezogen werden, nicht wahr? Die besten Geschichten sind doch immer noch die, die sich selbst nicht zu ernst nehmen, nicht wahr?“ Arno klappte den Schaukasten zu und schloss ihn sorgsam ab. „Charlie war letzte Woche auch ausverkauft. Ich präsentiere nur Filme, die ich mag. Und was ich mag, scheint auch anderen zu gefallen, nicht wahr? Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich hier aufführen kann, was ich will: Die Leute mögen es … es ist eine Art Magie.“

      „Wollen Sie in nächster Zeit Highlander zeigen?“

      Arno zog erstaunt eine seiner grauen, buschigen Augenbrauen hoch. „Woher wissen Sie?“

      Bea lachte. „Ach, nur so eine Ahnung.“

      Ein Blick über die Schulter verriet Bea, dass die ersten Kunden das Antiquariat betraten. Also verabschiedete sie sich von Arno und eilte dahin, wo sie für den Augenblick hingehörte: hinter die Verkaufstheke. Der Morgen verlief im Großen und Ganzen ereignislos. Es wurden einige Bestellungen abgeholt und einige Bestellungen aufgegeben. Es waren keine besonders anspruchsvollen Titel. Nichts davon musste aufwendig recherchiert werden. Da blieb mehr Gelegenheit für die Nachmittagsvorbereitungen.

      Seit kurzem veranstaltete sie einmal die Woche einen Lesenachmittag für Kinder und Jugendliche. Meistens kamen bis zu zehn junge Zuhörer, die es sich auf weichen Sitzkissen auf dem Boden hinter dem Schaufenster bequem machten.

      „In welche Geschichte wollen wir denn heute tauchen?“, fragte Bea in den Raum, nachdem ihr Besuch gegen drei Uhr nach und nach eingetrudelt war. Dabei strich sie sanft mit den Fingerspitzen über die Buchrücken, die sich in überfüllten Regalen aneinander drängten. Einer stand etwas hervor und Bea nahm dies zum Anlass, ihn herauszuziehen. Sie las den Titel und nickte zufrieden, als habe sie eine Abmachung mit jemandem getroffen, den nur sie sehen konnte. Die Kinder kannten jenes spezielle Gehabe ihrer Gastgeberin. Trotzdem stupsten sie einander unauffällig an, tuschelten ein wenig und unterdrückten ein Kichern.

      „Was haltet ihr davon, wenn wir mal in Die Geschichte von Peter Hase reinlesen? Das wurde von Beatrix Potter geschrieben.“

      „Von dir, Bea!“ Das war die jüngste in der Runde: Anne. Sie lächelte wissend und drückte stolz ihren schmächtigen Oberkörper vor.

      „Nein“, lachte Bea. „Ich heiße zwar auch Beatrice, aber mein Name schreibt sich anders. Außerdem lautet mein Nachname Liber. Frau Potter hat dieses Büchlein hier schon vor langer, langer Zeit geschrieben.“

      „Potter? Ist das die mit den Hexen und Zauberern?“ Diese Frage stammte von Ronald, dem zwei Jahre älteren Bruder von Anne.

      Kevin, einer der Älteren, stöhnte entnervt und knuffte Ronald in die Seite. „Mann, Ron. Wo bist du die letzten Jahre gewesen? Frag mal deine Eltern, wie sie auf deinen Namen gekommen sind. Dann stellst du auch nicht mehr so dumme Fragen.“

      Ronald verstand zwar nicht, was Kevin meinte, trotzdem konterte er trotzig auf die einzig richtige Weise: „Ich kann mir denken, wie deine Eltern auf deinen Namen gekommen sind. Sie mussten dafür nich’ lange überlegen und waren dabei allein zu Haus.“

      Es war das übliche Geplänkel von Kindern, die sich gegenseitig zeigen wollten, wer der Reifere oder Klügere war. Bea kannte dieses Vorspiel zu Genüge und meisterte es für gewöhnlich, indem sie nicht darauf ein- sondern lieber in medias res ging. Sie schlug vorsichtig das sehr alte, dünne, braune Büchlein auf und las laut vor. Obwohl es eigentlich kaum den Geschmack der Älteren traf – immerhin war die Geschichte für Kinder im Vorschulalter gedacht –, bekam Bea ziemlich schnell auch deren volle Aufmerksamkeit.

      Als sie fertig gelesen hatte, saßen die Großen noch immer andächtig auf ihren Kissen, während Anne und Georgina sich irgendwann auf Beas Schoß platziert hatten, um besser die liebevoll gestalteten Bilder betrachten zu können.

      „Lesen wir jetzt noch im Kompass weiter?“, schlug Philip, ein hochgeschossener, blonder Teenager mit Streberbrille vor. Der Goldene Kompass war sein absolutes Lieblingsbuch. Obwohl er es inzwischen, nach eigenen Angaben, schon vier Mal gelesen hatte, mochte er es ganz besonders, wenn Bea ihm daraus einzelne Szenen vorlas.

      „Na, wie gut, dass ich das Buch eben schon bereitgelegt habe“, sagte Bea. Ohne aufzustehen, ohne sich auch nur umzudrehen, griff sie blind in das Regal hinter sich.

      „Wow“, entfuhr es Kevin, der kurz den Eindruck hatte, dass sich die Bücher im Regal bewegten. Die Buchrücken schienen kurz zu flimmern und im nächsten Moment hatte Bea den Kompass zwischen den Fingern. „Habt ihr das gesehen?“

      „Was?“, fragte Bea scheinheilig, zwinkerte ihm aber verschwörerisch

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