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… meine Cousine bei Ihnen unterbringen?“

      „Cousine“, wiederholte Bea und zog unmissverständlich eine Augenbraue hoch. „Sie sind also hier, um Ihre Cousine für die Leserunde bei mir anzumelden. Wollten Sie sich nicht eben erst nur als neuer Nachbar vorstellen?“

      „Scharfsinnig beobachtet! Die Idee mit meiner … Cousine kam mir gerade. Vielleicht darf ich sie Ihnen kurz vorstellen?“

      Beas Augenbraue wanderte wieder nach unten, weil sie die Stirn krauszog. „Sie haben Ihre Cousine mit dabei?“

      In Quirinus’ Körper zeigte sich erneut Leben. Allerdings ohne die für andere unhörbare Musik in den Knochen. Er schlurfte zur Tür, ließ den Hals dabei nach vorne wippen und parodierte auf diese Weise perfekt eine Comicfigur. ‚Goofy geht nach Entenhausen‘, durchfuhr es Bea bei diesem Anblick.

      Die Ladentür öffnete sich. Die Ladentür schloss sich. Dann war Bea mit den Kindern wieder allein.

      „Was war das denn für ein Affe?“, fragte Kevin.

      „Affe?“ Anne reckte ihren Hals, um den Fremden durch das Schaufenster zu beobachten. „Mir kam er mehr wie eine Ziege vor. Er springt und hüpft die ganze Zeit über.“

      Ronald schüttelte den Kopf. „Er hat doch nicht gemeckert.“

      „Hab’ ich ja auch nicht behauptet.“ Anne knuffte Ronald in den Oberarm. „Aber er bewegt sich so.“

      „Wo ist er hin?“, fragte Kevin. Er war inzwischen aufgestanden und blickte über die Auslage hinweg auf die Straße. Weder zur einen noch zur anderen Seite konnte er Quirinus entdecken. „Wie vom Erdboden verschluckt“, stellte der Junge verblüfft fest. Jedoch just in dem Augenblick, als er sich zu Bea umwandte, öffnete sich die Tür und Quirinus war wieder da.

      Neben ihm stand unscheinbar ein Menschlein. Anders hätte es auf den ersten Blick niemand bezeichnen können. Bei genauerer Betrachtung erkannte man, dass es sich um ein kleines, unproportioniertes Mädchen handelte. Die winzig kleinen Füße steckten in schwarzen Ballerinas. Darüber streckten sich spindeldürre Beinchen in die Höhe. Doch sie endeten viel zu früh in einem knabenhaften Leib, der von einem schlichten, an einen grauen Sack erinnerndes Kleidchen bedeckt wurde. Der etwas zu große Kopf, getragen von einem dünnen, kurzen Hals, war bewachsen von schwarzem Gestrüpp, das mehr einem Reisighaufen ähnelte als Haaren. Riesige Augen, so blau wie der Himmel, schauten in einer beinahe ausdruckslosen Melancholie aus dem Gesicht. Nur die überaus süße Stupsnase verdiente irgendwie das Wort hübsch.

      Da niemand ein Wort sprach, entstand eine peinliche Stille. Bea beschloss, dass sie diese Lücke schließen musste. Sie ging behutsam in die Hocke und fragte das Kleine: „Na, wie heißt du denn?“

      Das Mädchen antwortete nicht, wich aber einen Schritt zurück. Bea fiel allerdings sofort auf, dass das Mädchen keinen Schutz hinter Quirinus suchte. Ganz im Gegenteil: Es hielt reichlich Abstand.

      „Fremdelt ein wenig“, erläuterte Quirinus fröhlich und zog das Kind zu sich heran. Väterlich legte er die Hand auf dessen Schulter. Diese Geste wirkte ziemlich aufgesetzt. Ohne Gegenwehr, aber auch ohne jegliche Emotion, ließ sich das Kleine an sein Bein heranziehen, schmiegte nun sogar seinen Kopf an Quirinus’ Oberschenkel. „Aber vermutlich wird sie nach der ersten Lesestunde auftauen.“ Quirinus strich etwas unbeholfen über ihre Haare. Dann, fast wie zufällig, schaute er auf seine Armbanduhr und rief: „Ach, schon so spät? Ich muss doch ins Geschäft. Ich erwarte eine wichtige Lieferung. Hermeias – äh – Herr Meier bringt mir heute einige Kisten Rucksackgrammophone. Sehr nützlich! Sie sollten sich unbedingt auch eins zulegen, Frau Liber! Immerhin kann man damit, egal wo man gerade ist, die eigene Musiksammlung anhören. Jedem Käufer spendiere ich gratis ein paar weiße Lautsprecher dazu. Ein Angebot, das man kaum ausschlagen kann. Schauen Sie mal vorbei.“

      Während er sprach, hatte er bereits den Rückwärtsgang eingelegt. Mit dem letzten Wort hatte er die Tür erreicht und mit dem Punkt am Ende des Satzes war er schon auf die Straße entschwunden. Einsam zurückgelassen stand einzig noch das Mädchen.

      „Herr Quirinus! Die Leserunde ist doch …“, rief Bea ihm nach. Als ihr bewusst wurde, dass der Mann schon außer Hörweite war, brachte sie ihre Rede leiser zu einem Ende: „… fast vorbei.“

      Es blieb nur eine Viertelstunde, die sie gemeinsam mit Lyra und Pantalaimon im Oxford einer fremden Welt verbrachten. Während Bea vorlas, schaute sie manchmal verstohlen über den Rand der aufgeschlagenen Seiten. Das Kind, das Quirinus bei ihr buchstäblich geparkt hatte, saß still und stumm zwischen den anderen im Schneidersitz. Vollkommen reglos, die Hände im Schoß gebettet, ließ sie sich von der Geschichte berieseln.

      Sie schafften ein Kapitel, dann kamen die Eltern, um ihre Kinder abzuholen. Dabei schwatzten sie ein oder zwei Sätze mit Bea und kauften sogar ein paar Bücher. Das geschah mehr aus Höflichkeit, denn Bea nahm nichts fürs Vorlesen. Es war so eine Art indirekte Bezahlung für ihre Mühen.

      Schließlich blieben nur das Mädchen und Bea zurück. „Tja, Liebes. Jetzt wüsste ich schon gerne, wann dein … Cousin …“ Mann, was hörte sich das falsch an! „… vorhat, dich abzuholen. Ich weiß nicht mal, wie du heißt.“

      Rachel, durchfuhr es Bea. Rachel wäre jetzt ungefähr im Alter von diesem Kind. Wie kam sie denn jetzt da drauf? Dieser Gedanke war wie eingepflanzt. Ein fremdes, namenloses Mädchen würde sie bestimmt nicht automatisch wie ihre verstorbene Tochter nennen. „Wie heißt du?“

      Eine Antwort blieb das Mädchen schuldig. Es schaute an Bea vorbei in den benachbarten Raum.

      „Das ist das Arbeitszimmer“, erklärte Bea.

      Das Mädchen ging nach nebenan, ohne um Erlaubnis zu fragen, und Bea blieb keine andere Wahl, als ihr zu folgen. „Das ist das Arbeitszimmer“, sagte Bea noch einmal. Sie kam sich etwas hilflos vor. Was sollte sie mit einem Kind reden, das ihr nicht antworten wollte?

      Das Arbeitszimmer war das Herzstück des Antiquariats und Beas Allerheiligstes. Nie ließ sie Kundschaft in diesen Raum kommen. Na ja, eigentlich auch sonst niemanden. Der Einzige, der hier vielleicht hineingedurft hätte, wäre Ingo gewesen. Doch ihr Mann mied das Antiquariat. Er überquerte nicht mal die Türschwelle des Ladens. Irgendwie konnte sie es ihm nicht verübeln. Denn die vergangenen Ereignisse in diesen Räumen waren für ihn in einen Nebel des Unbegreiflichen gehüllt. Was damals mit ihm, mit ihr, mit Herrn Plana und dem Buchland geschehen war, war für ihn vermutlich am leichtesten zu ertragen, indem er es ignorierte oder sogar vergaß. Fakt war, dass sie nun wieder mit beiden Beinen fest auf dem Boden standen. Fakt war allerdings auch, dass sie dies diesem besonderen Antiquariat zu verdanken hatten.

      Seit Herrn Planas Tod war hier fast alles unverändert geblieben. Links von Bea stand der Ohrensessel. Geradeaus von ihr war eine Tür, die zum Keller führte, daneben die Tür, die die Stiege ins Obergeschoss verbarg. Überdies gab es einen Sekretär, dazu einen Bürostuhl und ansonsten nur Bücher. Übervolle Regale verbargen alle Wände und erhoben sich bis unter die Decke. Und zwischen den beiden Türen befand sich ein großer runder Drehschalter, der verblüffende Ähnlichkeit mit einem Schiffstelegraphen aufwies.

      Das Mädchen ging zu diesem Apparat und legte sachte die Hand auf den Hebel.

      „Es wäre mir lieber, wenn du nicht damit rumspielst“, sagte Bea nervös. Warum war sie nur so angespannt? „Das ist nichts für Kinder.“

      Als es plötzlich klingelte, schrak Bea gehörig zusammen. Sie fuhr herum und eilte zum Sekretär, auf dem das uralte Telefon lautstark ein akustisches Inferno anzettelte. Sie hob den Hörer von der Gabel, während ihr das Herz bis in den Hals hämmerte. „Buchantiquariat Liber, guten Tag.“

      Ein Klackern am anderen Ende des Raumes erklang.

      „Hallo Frau Sechtig“, sagte Bea freundlich.

      Eine Mechanik wurde ratternd in Gang gesetzt.

      „Das freut mich“, erwiderte Bea ziemlich gehetzt. Sie spürte, dass hinter ihrem Rücken etwas geschah, das nach ihrer Beachtung verlangte.

      „Ja,

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