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dir nicht sagen, was fehlt. Etwas fehlt. Etwas, was man vermisst, obwohl man es nicht zwingend braucht. So wie draußen am Himmel gerade der Regenbogen fehlt.“

      „Es ist finsterste Nacht“, stellte Ingo irritiert fest.

      „Ja.“

      „Da kann gar kein Regenbogen sein.“

      Bea verdrehte die Augen. Wenn sie nicht in der Horizontalen gewesen wäre, hätte sie vermutlich sogar trotzig aufgestampft. „Ich hab doch auch keine Ahnung, wie ich es anders beschreiben soll. Vergiss es! Vielleicht ist es, weil … weil … Manchmal kommt es mir halt vor, als würde die Tapete an der Wand die Buchstaben der Welt verdecken. Die Realität versteckt nur die Phantasie.“

      „Und du denkst, du könntest diese Wirklichkeit mit der Schreibmaschine einfangen und verändern. Ist es nicht so? In deinem Roman hast du es damals so gemacht. Du könntest uns jetzt, wenn du dich an die Schreibmaschine setzen würdest, einen Porsche vor die Tür schreiben. Oder ein paar Millionen aufs Konto.“ Ingo schien dieser Gedanke tatsächlich zu gefallen.

      Ein Hauch von Ärger streifte Beas Züge. „Ich glaube nicht, dass das so funktionieren würde. Was ich schreibe, ist kein gewollter, bewusster Vorgang. Ich konstruiere nicht … Zuerst ist die Geschichte da. Erst dann kommen die Worte, die ihr die Gestalt geben. Herr Plana würde sagen, dass man nicht schreiben soll, weil man es will. Man soll schreiben, wenn man es muss.“ Quirinus hat es auch so formuliert, durchfuhr es Bea.

      „Würde Herr Plana das?“ Ingo zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Doch dann wanderte auch ein Mundwinkel in die Höhe und nahm dem Ganzen die Schärfe.

      „Zieh mich jetzt bloß nicht damit auf!“, warnte Bea. Aber auch ihr ging der Ernst verloren. Mit einem Lachen sollte man solche Gespräche immer beenden. Sie taten es.

      So wurde dies eine jener Nächte, in denen Bea die Realität mit ihren Träumen zudeckte und in den Schlaf schickte. Ihre Begegnung mit Morpheus und den Oneiroi blieb ihr nicht im Gedächtnis haften. Als sie jedoch am folgenden Morgen erwachte, fühlte sie sich nicht mehr so ausgelaugt und leer.

      Sie lag noch immer auf dem Sofa. Ingo hatte sie gestern offenbar noch unter die alte Steppdecke gepackt und war dann selbst leise ins Schlafzimmer gegangen.

      Jetzt stieg Bea der aromatische Duft eines guten Kaffees in die Nase. Auf dem Wohnzimmertisch stand ein Becher, aus dem eine dünne Dampffahne emporwehte. Auf der Tischplatte lag einer dieser kleinen gelben Klebezettel. Darauf geschrieben waren drei Buchstaben: „HDL“. Außerdem platzierte sich ein Semikolon mit einer Klammer dahinter. Viele Worte machte Ingo in den wichtigen Dingen des Lebens wirklich nicht.

      Nachdem sie sich aufgerichtet hatte und während ihr Körper innerlich seine Checkliste abspulte, nippte sie an der kostbaren Ambrosia.

      „Wie geht es dir?“ Ingo trat zur Wohnungstür herein. In der Hand hielt er eine Papiertüte vom Bäcker. Bea wusste nicht, wann er zum letzten Mal frische Brötchen für sie gekauft hatte.

      „Besser.“

      „Das ist schön. Du hast auch wieder ein bisschen Farbe im Gesicht. Trotzdem solltest du es heute langsam angehen lassen.“

      „Und was ist dann mit dem Keller?“

      Ingo grinste schief. „Den können wir kastrieren.“

      Der Tag meinte es gut mit Bea. Das Wetter zeigte sich von seiner sommerlichen Seite und das Gemüt der Kunden im Antiquariat erwies sich ebenfalls als sonnig. Natürlich gab es auch die Speziellen, die mitunter anstrengend, meistens aber amüsant waren. Da war zum Beispiel der Herr im Nadelstreifenanzug, der unbedingt dieses eine, bestimmte Buch für sein Kind haben wollte.

      „Wie heißt es denn?“, fragte Bea freundlich.

      „Wozu brauchen Sie denn den Namen meiner Tochter?“

      „Nein“, erklärte Bea geduldig, „den Namen Ihrer Tochter möchte ich nicht wissen. Aber wie das Buch heißt, müssen Sie mir schon verraten.“

      „Pfft“, machte der Herr. „Keine Ahnung. Es ist blau.“

      Solche Gespräche brachten die besondere Würze in den Arbeitstag. Und zwischendurch blieb Bea immer genug Zeit, um selbst in einem Buch zu schmökern.

      Gegen Abend flatterte eine Abwechslung anderer Art mit dem Wind herein. Schmal, klein, unproportioniert erschien Chaya in der Tür. Gekleidet in eine grau gestreifte Strumpfhose, ein schwarzes Röckchen und ein ebenso schwarzes Shirt, ging sie mit geneigtem Kopf auf Bea zu. Die Haare umwehten sie dabei, gaben ihr eine finstere Aura, während ihre Augen Bea auf unheimliche Art und Weise fixierten. Es hätte Bea vermutlich nicht gewundert, wenn die Pupillen plötzlich rot aufgeblitzt hätten. Instinktiv wich sie hinter den Verkaufstresen zurück, obwohl das Mädchen ihr gerade mal bis zum Gürtel reichte. „Was zum …“

      Chaya blieb vor der Kasse stehen und legte die vermeintliche Boshaftigkeit wie einen alten, schweren Mantel ab. Die Schatten aus ihren Zügen verschwanden. „Hallo Frau Liber.“

      „Hallo … Chaya.“ Bea schluckte. „Kann ich was für dich tun?“

      „Lesen“, antwortete Chaya. Ihre Körperhaltung änderte sich subtil. Leicht x-beinig drückte sie die Knie zusammen, ein Fuß drehte sich so weit, dass nur noch die Schuhspitze den Boden berührte. Eine Schulter hob sich um ein paar Millimeter, die andere senkte sich ebenso. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Sie können so schön vorlesen“, erklärte sie mit schüchternem Augenaufschlag.

      „Ähm. Weiß denn dein Cous- dein … Quirinus, dass du hier bist?“

      „Er hat mich hergeschickt.“

      Na, dachte Bea, der macht es sich ja einfach. „Ich weiß nicht, ob ich Zeit dafür habe.“ Chaya deutete auf das Buch, in dem Bea gerade noch gelesen hatte und was jetzt neben der alten Anker-Kasse stand. Ertappt! „Was möchtest du denn vorgelesen bekommen?“

      Das Mädchen setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Genau dort und genau so, wie die Kinder es gestern bei der Leserunde getan hatten. „Suchen Sie etwas aus.“

      „Okay“, sagte Bea und ging zu den Kinderbüchern. Sie streckte wieder mal einen Arm aus, ließ wieder die Hand an den Buchrücken vorbeistreifen. Zumindest wollte sie es so tun. Doch sie griff zunächst ins Leere. Es war, als wären alle Bücher kollektiv einen Schritt zurückgetreten. Allerdings konnten Bücher eigentlich keine Schritte gehen, weder vor noch zurück. Verblüfft schaute Bea genauer hin. Vor den Büchern war ein Zentimeter mehr Platz als sonst. Sie konnte deutlich einen kleinen staubfreien Bereich vor ihnen erkennen. Nur ganz links stand noch ein mutiges Buch auf seinem angestammten Platz. Astrid Lindgren? Ja, warum nicht?

      „Was hältst du von einem Ausflug mit Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf ins Taka-Tuka-Land? Wir könnten den Neg- äh- Südseekönig besuchen. Das ist ein Buch, das ein Kind in deinem Alter einfach kennen muss. Ich würde dir gerne daraus vorlesen.“

      Chayas Miene blieb unverändert ruhig.

      „Du musst nicht gleich eine Laola-Welle starten. Aber etwas mehr Begeisterung hätte ich schon erwartet. Soll ich was anderes vorlesen?“

      Chaya drückte den Rücken durch und saß nun stocksteif und aufrecht wie eine Yoga-Schülerin. „Taka-Tuka Langstrumpf wäre toll. Ich freue mich darauf.“ Eine Tonbandansage klang enthusiastischer.

      „Nicht so überschwänglich“, sagte Bea ein wenig argwöhnisch, schnappte für sich und das Kind jeweils ein Sitzkissen und hockte sich neben sie auf den Boden. Das angenehme Knistern und Rascheln erfüllte leise und doch unüberhörbar den Raum, als sie das Buch aufschlug und die ersten Seiten umblätterte. Dann begann sie gefühlvoll von der Villa Kunterbunt, der kleinen, kleinen Stadt mit ihren hübschen und gemütlichen Straßen, den niedrigen Häusern und den Gärten mit den Blumenbeeten zu erzählen.

      Um sie herum setzte sanftes Wispern ein. Es war kaum hörbar, klang beschwörend und machtvoll, zugleich aber auch kindlich und aufgeregt. Die Bücher, es

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