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alles in allem war sie wohl unverletzt. Sie erlaubte sich, wieder zu atmen, und rang die aufkommende Panik nieder. Das Zittern ihrer Finger bekam sie auch in den Griff. Sie schaffte es, die Taschenlampe einzuschalten.

      Wahrscheinlich wäre es nun das Vernünftigste gewesen, so schnell wie möglich den Rückweg anzutreten. Aber Beatrice spürte in sich eine ungekannte Art von Trotz, die allerdings nicht mit Mut zu verwechseln war. „Hey Pippi Langstrumpf. Trallali“, flüsterte sie. Das entsprechende Regal war ja nicht mehr weit.

      Als sie es erreichte, entfuhr ihr ein erstauntes Pfeifen. Ein imposanter Anblick. Sie schätzte das Gesamtwerk Astrid Lindgrens auf knapp 100 Titel. Dazu kamen zig Spezialeditionen, Neuauflagen, illustrierte Fassungen und allerhand Drehbücher, bei denen Frau Lindgren als Co-Autorin mitgewirkt hatte. Darüber türmten sich die unzähligen Übersetzungen in die Höhe. Das spärliche Licht in ihrer Hand erlaubte Beatrice nur eine begrenzte Sicht. Von hier unten sah das Regal deshalb aus, als würde es sich bis unter das ferne Deckengewölbe recken. Oder weiter. „Das wird ein Weilchen dauern.“

      Sie zog eine Leiter auf Rollen vom Nachbarregal heran und machte sich forsch an den Aufstieg. Die Taschenlampe klemmte sie dabei zwischen die Zähne, um mit beiden Händen sicheren Halt zu haben.

      Etwa drei Meter über dem Boden fand sie das Brett mit den deutschsprachigen Titeln. Da standen sie: Pippi Langstrumpf, Pippi geht an Bord und dann … eine Lücke, die, gefüllt mit leuchtend blauem Nebel, den Umriss eines Buches formte. Vorsichtig griff Beatrice in die Lücke. Das Gefühl eines Déjà-vu stellte sich ein. Sie tastete nach dem Dunst, der aber körperlos ihrem Griff entfloh. Stattdessen spürte sie ein Stück Karton, das am angrenzenden Buch lehnte. Sie zog es hervor.

      „Eine Postkarte“, entfuhr es ihr erstaunt. Dann las sie: „Vergriffen. Regalplatz 09081979. Die Geschichte eines mutigen Mädchens auf einer Südseeinsel. Lesen Sie die Abenteuer der kleinen Pippi und ihrer treuen Freunde. Tauchen Sie ein in eine anarchische Erzählung für Kinder. ISBN 978-3789116322. Weitergehende Informationen erhalten Sie in der Buchbinderei.“

      Ein alter Bekannter

      Beatrice hätte nie gedacht, dass sie das Schicksal nochmal so tief ins Buchland führen würde. Seitdem sie das Antiquariat geerbt hatte, hatte sie sich nicht mehr so weit in die Gänge hineingewagt. Sie wusste um das mächtige Eigenleben des geschriebenen Wortes, wusste um die Magie, die die Realität um die Fiktion krümmte wie das Weltall den Raum um die Masse. Es gab hier Gänge, die sich verschoben, Bücher, die sich bewegten, und Wesen, denen sie nie wieder begegnen wollte. Ja, sie liebte das Buchland. Aber sie hatte auch einen höllischen Respekt vor dem, was im Buchland zu finden war.

      Jetzt, nur bewaffnet mit einer Taschenlampe, konnte niemand von ihr erwarten, dass sie sich zum Blinden Buchmacher aufmachen würde. „Nein, meine Lieben“, flüsterte sie den Büchern zu, „das Spiel mache ich nicht mit. Ich bin nicht eure Marionette.“

      Entschlossen schob sie die Karte zurück an ihren Platz, stieg die Sprossen hinab und …

      Die Taschenlampe flackerte. Ihr Licht färbte sich von hellem Gelb zu schwachem Orange. Just als Beas Füße den sicheren Boden berührten, erlosch das kleine Birnchen hinter der Scheibe gänzlich.

      „Scheiße“, stellte Bea aus tiefstem Herzen fest. Dabei drehte sie sich zwei oder drei Mal um die eigene Achse, um zu sehen, ob es vielleicht irgendwo ein Funken Helligkeit in ihrer Nähe gab. Ein fataler Fehler! Jetzt hatte sie endgültig ihre Orientierung verloren.

      Sie streckte vorsichtig die Arme in beide Richtungen aus. Die Leiter musste ja noch neben ihr stehen. Die Leiter lehnte doch am Regal, das vorhin, als sie gekommen war, rechter Hand gewesen war. Wenn sie die Leiter fände, diese dann links zurücklassen würde, musste der Gang sie zurück zum Ausgang führen. Soweit die Theorie …

      Fast gleichzeitig fanden ihre Fingerspitzen den Holm einer Leiter; auf beiden Seiten des Ganges, sich genau gegenüberstehend. „Das ist ein ziemlich schlechter Scherz“, beschwerte sich Bea beim Schicksal.

      Das war es nicht. Nach Lachen war ihr eigentlich auch gar nicht mehr zumute, denn sie hatte nun keine Ahnung, wie sie wieder herausfinden sollte. Und zu ihrem Verdruss musste sie feststellen, dass sie einen der elementarsten Patzer gemacht hatte, die man hier unten machen konnte: Sie war aufs Geratewohl in die Gänge gelaufen. Weil sie den Weg zu den Kinderbüchern auswendig kannte, hatte sie auf die Kordel verzichtet.

      „Ruhig bleiben“, befahl sie sich. Das Zittern in ihrer Stimme trug nicht dazu bei. Sie atmete tief durch, schloss die Augen (was in Sachen Sicht keinen Unterschied machte) und lauschte. Jetzt, wo sie sich darauf konzentrierte, konnte sie die Bücher wieder hören. Ihr Flüstern war kaum wahrnehmbar. Es war mehr ein Tuscheln. „So“, sagte Bea etwas aufgeräumter, „jetzt seid ihr dran. Ein bisschen Hilfe könnte nicht schaden. Wie komme ich hier wieder raus?“ Im nächsten Augenblick gesellte sich zu der absoluten Schwärze auch noch eine absolute Stille.

      „Was soll das?“ Bea wollte wütend klingen. Sie tat es nicht.

      Ein hohes Fiepen, irgendwo in einem entfernten Gang, entlockte ihr ein verzweifeltes Stöhnen. Von all den Wesen, die ihr in der Vergangenheit hier im Buchland begegnet waren, fürchtete sie am meisten die Ratten.

      Doch anstelle des leisen Trippelns kleiner Füßchen vernahm Beatrice kurz darauf das schwere Pochen, das festes Schuhwerk auf Steinboden erzeugte. Sie war nicht allein!

      „Wer … Wer ist da?“

      Obwohl das Klangmuster auf einen langsamen, gemächlichen Schritt schließen ließ, näherte sich die Geräuschquelle rasch.

      Abstruse Gedanken blitzten in Bea auf: Mors. Vitae. Wie weit war sie von der Tür zu den Großen Büchern entfernt? Hatte sie sich geöffnet? Würde sie gleich dem Buchhalter gegenüberstehen?

      Ihre Beine hatten – ohne ihren Kopf – eine längst überfällige Entscheidung getroffen: Sie rannten blindlings drauflos. Die Arme nach vorne gestreckt wie ein Zombie, der in aller Dringlichkeit eine Toilette suchte, stolperte und strauchelte sie durch die Finsternis. Sie kam keine zwanzig Meter weit. Ein Bibliothekswagen stand aus unerfindlichen Gründen mitten im Weg.

      „Das hat weh getan“, stellte jemand fest. „Darf ich dir aufhelfen?“

      Eine Hand griff unter Beas Achseln, zog sie sanft nach oben.

      „Wer ist da?“, fragte sie etwas lahm, während sie sich den schmerzenden Ellenboden rieb.

      Der Fremde richtete den Wagen auf und schob ihn an den Rand des Ganges. Dann hörte Bea, wie er wieder zu ihr zurückkam. „Noch alles heil?“

      „Wer sind Sie?“

      „Du kennst mich“, sagte die Stimme.

      Ja, sie kannte die Person. Aber für den Moment ließ sich für Beatrice die Stimme nicht einordnen. Doch ihr Unterbewusstsein schaufelte nach und nach einige Assoziationen nach oben. Eine Holzhütte, eine Werkbank, Bucheckenzangen, Zwingen, Falzbeine, Winkel und Schienen. Das ganze Zeugs, das man brauchte, als ein …

      „… Buchbinder“, sagte Beatrice überrascht.

      „Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg kommen.“ Ein leiser Vorwurf lag in den amüsiert vorgetragenen Worten. „Eigentlich hatte ich gehofft, dass du den Weg zu mir finden würdest. Aber so ist es auch gut.“

      „Ich finde gerade gar nichts“, gab Bea kleinlaut zu.

      „Warum?“

      „Es ist stockfinster.“

      „Ach, halb so wild. Das ist es für mich hier unten immer. Ich habe nur eine ungefähre Ahnung von der Gegend um uns herum. Den Rest malt mein Kopf.“ Stimmt, dachte Beatrice. Die hervorstechendste Eigenschaft, wenn man in diesem Fall von Eigenschaft sprechen konnte, war die Blindheit des Buchbinders. Ein ganzes Kapitel hatte Beatrice ihm in ihrem Buch gewidmet. „Der Blinde Buchbinder“, entfleuchten die Gedanken ihrem Munde.

      „Nenn mich Markus“, sagte der Buchbinder in aller Vertraulichkeit.

      „Markus“,

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