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sie ihn einst beschrieben. Trotzdem fiel es ihr schwer, ihn sich richtig ins Gedächtnis zu rufen, denn ihre Begegnung mit ihm in seiner Hütte war jetzt ungefähr zwei Jahre her. „Markus?“ Irgendwie passte der Namen nicht.

      „Hört sich nur halb so geheimnisvoll an wie der Blinde Buchbinder. Ich weiß. Aber eine kleine Plauderei ist doch bei Weitem angenehmer, wenn man sich freundschaftlich ansprechen kann“, erklärte der Buchbinder. „Sollen wir uns nicht setzen?“

      „Eigentlich möchte ich bloß so schnell wie möglich hier raus“, sagte Bea ehrlich. Ihr schlug das Herz immer noch bis zum Hals. Und auch wenn sie die Tatsache tröstete, dass sie nun nicht mehr allein war, so war die gesamte Situation, in der sie sich befand, doch extrem verstörend.

      „Angst vor der Dunkelheit?“ Markus schmunzelte. „Habe ich mir abgewöhnt.“ Dann wurde seine Stimme eine Spur ernsthafter. „Aber ich kann dich verstehen. Das Ambiente ist leicht unheimlich geworden. Die Freunde deines Herrn Plana sind im Moment auch nicht mehr so freundlich zu dir, wie sie es einst ihm gegenüber gewesen sind. Was glaubst du, woran das liegt?“

      Beatrice zuckte mit den Schultern und wurde sich erst dann der Tatsache bewusst, dass Markus es nicht sehen konnte. „Keinen Schimmer. Ich habe nach einem Buch gesucht, das verschwunden ist, habe aber nur einen Vermerk vorgefunden. Wissen Sie etwas über …“

      „… Pippi?“ Markus seufzte schwer. „Ja. Ich weiß, dass ein Buch von ihr fehlt.“

      „Wie kann das sein? In diesem Keller gibt es alle Bücher.“

      Markus Stimme kam nun von unten. Er hatte sich offensichtlich auf den Boden gesetzt. „Erinnerst du dich noch, was dein Herr Plana über die Seelen der Bücher erklärt hat? Es steckt Seele in ihnen. Die Seelen der Figuren und auch sehr viel Seele von den Autoren. Plana hat sich in gewisser Weise davon genährt. Sie haben ihm Substanz verliehen.“

      „Ja. Deshalb musste ich ihm immer vorlesen, ich erinnere mich. Aber was hat das mit dem verschwundenen Buch zu tun?“ Beatrice ließ sich im Schneidersitz neben Markus nieder.

      „Hmm. Da musst du selbst drauf kommen“, sagte er bedächtig. „Eine Geschichte verrät nie ihre Geheimnisse zu Beginn. Oder wie Carlyle gesagt hat: Kein gutes Buch oder irgendetwas Gutes zeigt seine gute Seite zuerst.“ Eine kleine Pause folgte, dann wechselte er scheinbar das Thema. „Es wäre ein herber Verlust, wenn ein bedeutsames Buch aus dem Buchland einfach so verschwinden würde. Ein Auktoral würde alle Hebel in Bewegung setzen, um die Lücke zu schließen.“

      „Ich bin kein Auktoral“, erwiderte Bea leise. Irgendwie wurde sie schon wieder zu diesem Punkt gelenkt. „Ich habe nur das Buchland-Buch geschrieben. … wie es von mir verlangt wurde.“

      Markus schnaubte. „Verlangt? Ich glaube, du hättest es so oder so geschrieben. Aber da kann ich mich irren.“

      „Du bist der Buchbinder! Warum machst du nicht einfach ein neues Pippi-Buch?“

      „Wie sollte ich? Denkst du, ich kenne alle Manuskripte auswendig? Nein. Bücher hierher bringen, das können nur die Autoren.“

      „Tja, dann weiß ich auch nicht, wie ich helfen soll.“

      „Hmm. Vielleicht solltest du, wenn du oben an Herrn Planas Sekretär sitzt, nochmals darüber nachdenken. Vielleicht fällt dir dann ein, wie du helfen kannst. Vielleicht beweist du so, ob du irgendwann mal das Zeug zum Auktoral hast.“

      Beatrice verdrehte die Augen und ärgerte sich sofort, dass ihre Geste des Unmuts abermals unbemerkt blieb. „Ich will doch gar nicht Auktoral werden.“

      „Genauso wie du keine Schriftstellerin werden wolltest“, stellte Markus fest. Die Worte trieften vor Ironie.

      „Ich soll mich also gleich an den Sekretär setzen? Toller Tipp.“ Beatrice hatte inzwischen einen ihrer jähen Stimmungswechsel vollbracht. Ihre Stimme klang nicht mehr ängstlich oder verunsichert. Sie klang schnippisch. „Ich mache mich gleich mal auf den Weg. Wo geht es lang?“

      „Zur Treppe geht es da lang“, sagte Markus. Offensichtlich deutete er mit dem Zeigefinger in eine Richtung.

      Beatrice vergaß ihren Kloß im Hals. Sie wurde jetzt richtig sauer. „Am lustigen Stein gelutscht, oder was?“

      Die Geräusche neben Beatrice ließen darauf schließen, dass sich der Buchbinder erhob. Kurz danach griff er ihr zielsicher unter den Arm und zog sie auf die Beine.

      „Pssst! Sei ganz leise.“

      Bea war ganz leise.

      „Hör genau hin!“

      Sie hörte genau hin.

      „Da ist etwas.“

      Da war etwas.

      „Vor dir.“ Zwei bernsteinfarbene Punkte glommen in undefinierbarer Ferne auf. Kaum zu sehen. Aber sie waren eindeutig da. „Da kennt sich jemand besser aus als du“, sagte Markus. „Lauf einfach hinterher. Die Treppe wartet auf dich.“

      Die Treppe! Beatrice dachte an das Horror-Outfit, dass sich die Stufen und die Wände angelegt hatten. „Wissen Sie, was mit der Treppe passiert ist?“

      „Ja.“

      Beatrice starrte weiter in die Richtung, in der sie die blassen Lichter sah. Sie wollte sie nicht aus den Augen verlieren. Erwartungsvolle Stille. Dann: „Und … was ist mit der Treppe passiert?“

      „Das, was mit allem hier unten geschieht.“ Der Blinde Buchbinder flüsterte. Seine Lippen berührten fast Beas Ohr. „Das Buchland verändert sich. Es passt sich an. So wie ein Buch sich seinem Leser anpasst, passt sich das Buchland seinen Besuchern an. Jeder bringt was Anderes mit herein. Deshalb nimmt auch jeder etwas Anderes mit heraus.“

      „Warum passt sich das Buchland an?“

      „Es ist ein Konstrukt der Phantasie. Jeder Mensch begegnet einer Geschichte anders. Eine Geschichte ist das, was man in sie hineindenkt. Nicht der Schreiber vollendet die Geschichte. Der Leser gibt ihr die endgültige Gestalt. Seine Erfahrungen, Sehnsüchte, Erwartungen färben, formen, kneten erst das geschriebene Wort des Schreibenden.“ Markus holte tief Luft. „Mit Plana an deiner Seite war das Buchland geheimnisvoll und gleichzeitig faszinierend. Als der Buchhalter es durchschritt, war es kalt und bedrohlich für dich. Als du mich besuchtest, war es wandelbar und kreativ. Erinnerst du dich? Für Plana gab es Treppen. Für mich gab es eine Rutsche. Und der Buchhalter benötigte weder das eine noch brauchte er das andere.

      Da Plana ein Teil von dir war, siehst du das Buchland heute noch immer so, wie es sich damals auf ihn eingestellt hatte. Aber nun ändert sich etwas. Du spürst es, oder?“

      Der Atem des Buchbinders streifte kalt ihren Nacken. Eine Gänsehaut ließ sie schaudern. „Alles wird angsteinflößend und gefährlich.“ Ja, alles. Sogar dieser Mann hinter ihr.

      „Das ist ein eindeutiges Zeichen, dass ein neuer Besucher das Buchland durchstreift.“ Markus’ leise Stimme wurde langsam zu einem Zischen.

      Beatrice kniff die Augen zusammen. Die beiden Punkte, die ihr den Weg zum Ausgang versprachen, verschwammen zusehends mit dem undurchdringlichen Schwarz. „Wer?“

      „Eine Macht, die beinahe so groß ist wie der Tod. Sie ist so alt wie die erste Geschichte, die einst in einer Höhle erzählt worden ist. Sie ist allgegenwärtig.“

      „Scheint kein angenehmer Mensch zu sein“, sagte Beatrice unsicher.

      Markus’ Stimme bewegte sich fort. „Habe ich von einem Menschen gesprochen?“

      „Wovon“, stieß Beatrice hervor, „sprechen Sie denn sonst?“ Keine Antwort. „Theatralischer Auftritt. Theatralischer Abgang. Wie passend.“

      Beatrice ging ein paar Schritte. Die leuchtenden Punkte, die sie immer noch anvisierte, verschwanden kurz, nur um dann etwas weiter entfernt wieder aufzutauchen. Dabei konnte Beatrice das leise Schwingen von Flügeln vernehmen.

      Beatrice verfolgte, so schnell es eben in

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