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beruhigte sich etwas, nur die Nacht war für mich unerträglich. Wegen der Infektionsgefahr bewohnte ich zwar ein Zimmer mit Benjamin alleine, aber alle Wände hatten Glasscheiben, sodass das Zimmer von allen Seiten her einsehbar war. Die ganze Nacht über weinten andere Kinder und ständig ging irgendwo das Licht an oder aus. Benjamin hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren oder Angst zu haben. Er lag trotz des Protestes der Schwestern in meinem Bett, wirkte apathisch, wimmerte leise und schlief irgendwann nach Mitternacht ein. Ich weiß nicht, wie lange ich noch von Sorgen zerfressen mein schlafendes Kind betrachtet habe, aber irgendwann bin ich dann wohl auch für kurze Zeit eingeschlafen.

      Am nächsten Morgen begann der übliche Testmarathon: Urin- und Stuhlprobe abgeben, dann Blut abnehmen, Visite … Benjamin verweigerte den ganzen Tag über jegliche Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, worauf die diensthabende Ärztin die Ernährung über eine Sonde verordnete. Zwei Schwestern wollten meinen kleinen Sohn zum „Sondenlegen“ abholen, aber ich machte ihnen klar, dass ich dabei anwesend sein möchte. Daraufhin schickten sie mir einen jungen Arzt, der mir erklärte, dass mein Sohn es mir übel nehmen würde, wenn ich bei der Behandlung präsent wäre, andererseits wäre ich die „Gute“, wenn sie ihn mir zurückbrächten. Diese Logik konnte ich nicht nachvollziehen. Ich war der Meinung, dass die Behandlung für Benjamin weniger schlimm ist, wenn ich ihm dabei zur Seite stehe, was ich auch dem Arzt mitteilte. Er gab schließlich nach und die Schwester meinte daraufhin, dann könne ich ihr auch gleich assistieren, wenn ich schon dabei sein muss. Benjamin lag schlapp und ängstlich auf meinem Arm, aber er sagte keinen Mucks, während ihm die Sonde durch die Nase eingeführt wurde. Der Plastikschlauch wirkte bedrohlich groß für so ein winziges Nasenloch. Seine Ärmchen waren für die Behandlung mit Stoffwindeln am Körper festgebunden worden und als ich diese wieder lösen wollte, fragte mich die Schwester empört, was ich da mache. Dann erklärte sie mir, dass so kleine „Sondenkinder“ im Gitterbett festgebunden würden, damit sie die Sonde nicht herausziehen. Ich vermochte das nicht zu glauben, ich war doch da und konnte aufpassen. Wie fühlt sich denn so ein kleines Kind, wenn es krank mit einem Schlauch in der Nase in fremder Umgebung ist und dann auch noch festgebunden wird? Ich protestierte und wollte das nicht zulassen und war doch im gleichen Moment erschreckt über meinen Mut. War ich vielleicht nur unwissend und überheblich? Schließlich hatten die Schwestern jahrelange Erfahrung. Oder befolgten sie ein festgefahrenes Muster, über das lange keiner nachgedacht hatte? Die Schwester sagte mir mürrisch, sie würde meinen Sohn nicht festbinden, aber ich hätte die Verantwortung zu tragen und müsste aufpassen, damit er die Sonde nicht herausreißt. Am Abend führte Benjamin unzählige Male seine kraftlosen Ärmchen zum Schlauch, aber es war für mich leicht, seine Ärmchen von der Sonde fernzuhalten, indem ich meinen Arm dazwischen legte, den er dann jedes Mal umklammerte. Tags darauf schien er vergessen zu haben, dass eine Sonde in seiner Nase steckte. Eigentlich war ich jetzt der Meinung, das Schlimmste sei überstanden. Benjamin wurde alle vier Stunden über die Sonde ernährt und weigerte sich weiterhin, irgendetwas zu sich zu nehmen. Doch dann fing er an, auch die sondierte Nahrung wieder zu erbrechen und nahm weiter ab. Wie sollte das nur weitergehen? Inzwischen war ich völlig übermüdet und geriet langsam in Panik.

      Auch der Rest der Familie litt unter der ganzen Situation. Da Conrad nicht den Kindergarten besuchte, musste mein Mann ihn mit zur Arbeit nehmen. Wie sehr Conrad belastet war, merkten wir daran, dass er nach sehr langer Zeit wieder ins Bett machte. Benjamin benutzte in der Klinik wegen seiner äußerst sensiblen Haut nur seine eigenen Sachen, einschließlich Handtücher, Bettwäsche und Windeln. Da er sich häufig übergab, nahm mein Mann bei jedem Besuch Berge von übel riechender Wäsche mit. Bis heute frage ich mich, wie Leon das damals alles geschafft hat. Einige Tage ging es noch so weiter: sondieren, erbrechen … und ich überlegte ernsthaft, ob die Ärzte auch wissen, was sie da tun. Auf alle meine Anfragen wurde mir gesagt, dass sie den Stuhlbefund erst abwarten wollten. Benjamin stand überhaupt nicht mehr auf, er lag den ganzen Tag auf meinem Bett und starrte aus dem Fenster. Am dritten Tag konnte ich das Klinikpersonal davon überzeugen, dass ich Benjamin im Kinderwagen auf dem Klinikgelände spazieren fahren durfte. Benjamin schien das zwar nicht mitzubekommen, er zeigte auch keinerlei Interesse mehr an Spielsachen, egal ob vertraute oder neue, aber für mein angeschlagenes Durchhaltevermögen war das extrem wichtig. Während Leon den Kinderwagen schob, konnte ich ein Stündchen ungestört mit Conrad spielen und die Sorgen für kurze Zeit etwas verdrängen. Nach fünf langen Tagen war der mikrobiologische Befund da: Eine durch Bakterien verursachte Überrepräsentation von natürlich vorkommenden Sprosspilzen im Darm hatte diese schwere Gastroenteritis bei unserem Sohn verursacht. Daraufhin wurde begonnen, ihm ein Antimykotikum zu verabreichen. In diesen Tagen fiel es mir schwer, mir meinen Sohn so agil wie vor der Erkrankung vorzustellen. Trotz der Medikamentengabe nahm Benjamin weiter ab und ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass das Medikament eine gewisse Zeit braucht, bevor die Wirkung einsetzt. Am Tiefpunkt hatte unser Söhnchen mehr als ein Kilogramm abgenommen, was für ein fünfzehn Monate altes Kleinkind ganz erheblich ist.

      Nach drei Tagen Medikation ging es langsam bergauf, Benjamin begann löffelweise zu essen und grammweise zuzunehmen. Zögerlich kehrte die Kraft in seine Beinchen zurück und damit auch sein Willen zum Widerstand. Jedes Mal, wenn jetzt ein Arzt oder eine Schwester unser Zimmer betrat, flüchtete er in die hinterste Ecke meines Bettes und schrie, wenn jemand ihm zu nahe kam, was sich natürlich nicht vermeiden ließ. Jetzt, da Benjamin wieder stehen und laufen konnte, tat er mir unmissverständlich seinen Wunsch kund, wieder nach Hause zu wollen. Er holte seine Schühchen aus dem Schrank, packte sein Spielzeug in den Kinderwagen, zog die große Reisetasche bis zur Tür und rief immer wieder aufgeregt: „Da, da!“, während er auf die Tür zeigte. Da ich die Tür immer wieder freiräumen musste, brach Benjamin jedes Mal in herzzerreißendes Weinen aus. Er wollte an diesem Ort nicht bleiben und auch nicht spielen. Die Spaziergänge beruhigten ihn zwar beim Losgehen, aber wenn er nur die Giebelseite des Hauses aus einiger Entfernung zu Gesicht bekam, weinte er schon wieder los. Eigentlich dachte ich, wir könnten doch nun wieder entlassen werden, aber der Oberarzt erklärte mir, dass Benjamin erst entlassen würde, wenn er sein Gewicht vom Aufnahmetag wieder erreicht habe. Also mussten wir noch fast eine Woche durchhalten. Unser Sohn spaltete die Schwestern in zwei Lager. Einige hielten ihn einfach für ein verzogenes, verwöhntes Kind, die anderen glaubten, er habe großen Kummer, weil er so viel weinte, obwohl es ihm doch langsam besser ging.

      Kurz vor unserer Entlassung kam ein Arzt zur Abschlussuntersuchung, dessen Art und Weise mich zutiefst faszinierte. Instinktiv wusste dieser Mediziner, wie er an Benjamin herankommen konnte. Die Schwestern hatten ihn vor diesem überängstlichen Kind gewarnt. Er betrat langsam das Zimmer und wie immer flüchtete Benjamin in die hintere Ecke des Bettes. Dann ging er auf mich zu, redete mit mir leise, setzte sich später auf die zu Benjamin entfernteste Ecke des Bettes und begann auf unserem kleinen Keyboard ein beruhigendes Lied zu spielen. Die ganze Zeit hatte er nicht einmal versucht, Benjamin anzusprechen oder sich ihm weiter zu nähern. Ich war schon erstaunt, dass mein Sohn nicht weinte, aber jetzt traute ich meinen Augen nicht: Unter Wahrung des größtmöglichen Abstandes kroch Benjamin zum Keyboard und klimperte mit. Während die beiden spielten, untersuchte der Arzt meinen Sohn ganz nebenbei und Benjamin ließ ihn gewähren, wenn auch etwas widerwillig. Für mich war das ein großartiges Erlebnis: Es war der Beweis, dass eine solche Untersuchung auch ohne Tränchen und fast angstfrei ablaufen kann, wenn der Arzt genug Zeit und Einfühlungsvermögen mitbringt.

      Endlich wieder zu Hause fühlte ich mich wie eine Mutter, die gerade ihr erstes Kind bekommen hat. Vollgestopft mit Informationen und Instruktionen steht man plötzlich da und muss all dieses Wissen in die Tat umsetzen. In der Klinik war alles noch so einfach gewesen, aber plötzlich ist man auf sich alleine gestellt. Benjamin musste noch lange Zeit diätisch ernährt werden und ich hatte die Aufgabe, akribisch genaue Ernährungs- und Stuhlprotokolle zu erstellen. Meine morgendliche Unbeschwertheit hatte ich für viele Monate verloren, denn jeder Tag begann mit einem ängstlichen Blick in die Windel. Außerdem litt Benjamin wochenlang unter seinem entzündeten Windelbereich, denn der lange Durchfall und mehrere Urinbeutel hatten ihre Spuren hinterlassen. Im Gesicht blieben von den Pflasterstreifen, mit denen die Sonde angeklebt worden war, dicke, gerötete und mit Pickelchen übersäte Striemen zurück – ein Anblick, der mich als Mutter schmerzte, wenn ich mir die damit verbundenen Strapazen für unseren Sohn ausmalte. Über einen Monat lang waren Benjamins Einschlafprobleme extrem verschlimmert und zusätzlich wachte er jede Nacht

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