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Wasser spielte jetzt überhaupt eine wichtige Rolle in seinem Leben. Da er wegen des kalten und nassen Wetters vorläufig nicht in seinem Planschbecken spielen konnte, fand er heraus, dass sich ja auch in der Toilette Wasser befand und dass er da seine Hände hineinhalten konnte. Das habe ich natürlich sofort unterbunden, aber als ich ihm nach dem ersten Versuch die Hände gründlich wusch, fiel mir auf, dass es ihm nur um das Wasser ging. Er liebte es, Wasser über seine Hände laufen zu lassen und dabei zuzusehen. Jedes Mal, wenn jemand von uns aus dem Bad kam, war er schon zur Stelle und bestand darauf, dass wir ihm den Wasserhahn aufdrehten. Es war schwer und zeitaufwändig, ihn wieder davon wegzubekommen. An dieser Stelle fällt mir auf, dass schon damals nahezu alle seine Fortschritte mit einem „Aber“ von uns betrachtet wurden. Bloß woher soll man bei einem Kind mit ein paar kleinen Auffälligkeiten wissen, ob mehr dahinter steckt oder ob sich alles mit der Zeit „auswächst“, wie eine etwas ältere und damit in meinen Augen erfahrenere Freundin immer zu mir sagte.

      Auch mit meinem Projekt Kinderwagen erzielte ich langsam weitere Fortschritte. Nachdem ich Benjamin wie beschrieben von der Tragetasche, die er immerhin neun statt der geplanten drei Monate benutzte, entwöhnt hatte, begann ich, die Rückenlehne des Kinderwagens an guten Tagen etwas höher zu stellen. Die Rückenlehne unseres Kinderwagens verfügte glücklicherweise über mehrere Stufen zwischen Liege- und Sitzposition. Mit guten Tagen meine ich Tage, an denen Benjamin rundum zufrieden war und somit eher die Bereitschaft zeigte, kleine Veränderungen zuzulassen. So konnte ich innerhalb von drei Monaten erreichen, dass unser Sohn bereit war, seinem Alter entsprechend, im Kinderwagen zu sitzen, anstatt zu liegen. Aber warum mussten so einfache Dinge, wie ein Kind, das prima sitzen kann, in den Kinderwagen zu setzen, so kompliziert und langwierig sein? Mir kam das alles wie eine nicht enden wollende Geduldsprobe vor.

      Mit meinem im Kinderwagen sitzenden Baby wurde das Einkaufen nahezu unmöglich, denn es fing schon beim Betreten eines Ladens an, schrecklich zu weinen. Anfangs glaubte ich, das läge nur an den nun für Benjamin gut sichtbaren, vielen leckeren Lebensmitteln, aber dieses Weinen beschränkte sich nicht auf Lebensmittelläden. Ein besonders stressiges Erlebnis hatte ich an dem Tag, als ich mit beiden Kindern im Kaufhaus Benjamins erste Schühchen kaufen wollte. Da er ja bereits freihändig stehen, an den Händen laufen und freihändig stehend auch essen konnte, zum Beispiel Kekse oder Brötchen, wollte ich den Versuch wagen, ihn auch draußen laufen zu lassen. Ich versuchte, so gut es ging, Benjamins Weinen beim Betreten des Kaufhauses zu ignorieren, schließlich hatte ich ja eine Mission zu erfüllen. Ich wusste auch, dass er seinen Wagen nicht verlassen würde, um vielleicht den Kinderspielplatz der Schuhabteilung zu erkunden. Also suchte ich flink Schuhe aus und wollte sie ihm im Wagen anprobieren. In diesem Moment kam eine sehr freundliche Verkäuferin auf ihn zu und wollte ihm einen kleinen, bunten Ball schenken, vermutlich in der Hoffnung, dass er sich dann beruhigt. Da war es wieder, dieses Weltuntergangsweinen. Hatte er beim Betreten des Kaufhauses nur verhältnismäßig leise geweint, so steigerte er sich jetzt bis ins Unerträgliche und schlug mit Armen und Beinen um sich. Die Verkäuferin war verunsichert und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, und ich stand irritiert da und wusste nicht, wie ich das Verhalten meines Sohnes erklären konnte. Nur Conrad schien eine Erklärung zu haben, denn er sagte zu seinem Bruder: „Keine Angst, Benjamin, die Frau will dich doch nicht auffressen!“ Wie nah er damit an der tatsächlichen Erklärung für Benjamins Verhalten war, ist mir erst viel später bewusst geworden. Mein kleiner Sohn war einfach von der gesamten Situation komplett überfordert – es war zu laut, zu unbekannt, alles lief zu schnell für ihn ab … Ich nahm ohne Anprobe zwei Paar Schuhe, die mir zu passen schienen, und verließ ohne Umschweife das Kaufhaus. Zu Hause, nachdem wir uns alle wieder beruhigt hatten, denn auch für Conrad war das ja nicht der erhoffte Einkaufsbummel, fragte ich mich immer wieder, was ich anders machen konnte, und tief in meinem Inneren beneidete ich die Mütter, die ihre genauso alten Kinder so lässig aus dem Kinderwagen nahmen und in die Spielecke setzten, während sie am Rand stehend Kindererlebnisse austauschten.

      Weitere kleine Eigenheiten fielen uns an unserem Sohn auf. So hatte er, als ich durch Conrad abgelenkt war und er eine Tüte mit Brötchen ergattern konnte, alle acht Brötchen an der gleichen Stelle angeknabbert. Dieses Phänomen ließ sich wiederholen, sobald wir ihm mehr als ein Brötchen gaben. Sollten wir das nun lustig finden, so wie alle anderen, denen wir dieses Erlebnis erzählten oder steckte da mehr dahinter, und wenn ja, was? Offensichtlich strebte Benjamin danach, dass alle Brötchen auch nach dem Anbeißen wieder gleich aussahen, so wie sie vorher ja auch alle gleich ausgesehen hatten. Aber solche Bestrebungen schienen mir für ein fast einjähriges Kleinkind einfach zu komplex.

      Benjamins ersten Geburtstag verbrachte ich mit meinen Kindern im Tierpark. Da Besuche ihn ja immer sehr aufgeregten, war meine Überlegung dabei, dass er so wenigstens seinen Geburtstag genießen konnte. Und damit sollte ich Recht behalten. Es war ein warmer Bilderbuchtag im Herbst und Conrad hatte nicht nur Freude an den Tieren, sondern sammelte auch noch einen großen Beutel voller Kastanien. Für Benjamin war das sein erster Tierparkbesuch. Er schaute sich alles interessiert an und schien den Tag zu genießen, denn besonders lange musste ich bei den Enten, Meerschweinchen und Ziegen verweilen. Am späten Nachmittag hatten wir noch ein Kaffeetrinken mit der Familie eingeplant. Der Höhepunkt des Tages bestand allerdings darin, dass Benjamins Großvater ihm die Schuhe ausziehen durfte. Ich wertete das als riesigen Fortschritt und glücklicherweise war mein Vater weitsichtig genug, ihn danach nicht sofort in den Arm nehmen zu wollen. Unsere heimliche Hoffnung, dass Benjamin nach diesem gelungenen Tag ruhig einschlafen würde, denn hundemüde musste er ja auf jeden Fall sein, wurde wieder nicht erfüllt. Im Gegenteil, Benjamins Einschlafprobleme schienen proportional zur Aufregung des Tages zu sein, und mit Aufregung meine ich keineswegs nur Ärger, sondern alles, was auch nur minimal von seiner sonstigen Tagesroutine abwich.

      Im Entwicklungsratgeber „So fördere ich mein Kind“2 wird ein gesundes, einjähriges Kind folgendermaßen beschrieben:

       Geistige Entwicklung: „Ihr Baby verfügt über ein ausgedehntes Repertoire an Gefühlen und weiß alles über Küssen und Schmusen. Es hebt eine Puppe auf und überreicht sie Ihnen. Es spricht zwei, drei Wörter, die etwas bedeuten, erkennt Dinge in einem Buch wieder und zeigt darauf. Es lernt, einfache Fragen zu verstehen.“

       Fortbewegung: „Wenn Sie eine seiner Hände halten, kann Ihr Baby gut laufen. Zum Krabbeln benutzt es Hände und Füße, genauso wie es ein kleiner Bär tut.“

       Manuelle Fähigkeiten: „Ihr Baby füttert sich jetzt immer häufiger selbst, verschüttet weniger dabei und kann die Hand drehen, um Nahrung in den Mund zu stecken. Es wirft voller Spaß mit Sachen, malt mit einem Bleistift Linien und hält zwei Bauklötzchen mit einer Hand. Es hat gelernt, etwas loszulassen und kann aus zwei Bauklötzen einen Turm bauen.“

       Sozialverhalten: „Ihr Baby kennt seinen Namen und versteht ‚nein‘. Es hat Humor entwickelt und bringt Sie gerne zum Lachen. Es zeigt viel Zuneigung, indem es sich mit Kopf und Gesicht an Sie drückt. Es kennt einige soziale Rituale wie Küssen oder Winken zum Abschied. Wenn man ihm das Spielzeug fortnimmt, wird es böse.“

      Nach dieser Auflistung waren wir der Meinung, dass unser Baby sich gut entwickelt hatte und es keinen ernsten Anlass zur Sorge gab. Dass Benjamin zwar Dinge aufhob, sie aber nicht zu mir brachte, beunruhigte mich damals genauso wenig wie die Tatsache, dass er sich weigerte, alleine mit einem Löffel zu essen oder einen Buntstift zu benutzen. Kekse und Brotstückchen oder auch gekochte Nudeln steckte er sich mit den Fingern alleine in den Mund, das fand ich für sein Alter ausreichend. Seine Babybücher schaute er sich allerdings stets alleine an und es gelang mir nicht, ihn dazu zu bewegen, mich daran teilhaben zu lassen oder mir etwas zu zeigen, wonach ich ihn fragte. Gemeinsames Bücherlesen wurde somit neben dem schon erwähnten Buddeln im Sandkasten eines meiner Hauptziele für sein neues Lebensjahr. Im Nachhinein bin ich mir auch nicht mehr sicher, ob Benjamin nur aus Zuneigung sein Gesicht und seinen Körper an mich drückte, es war wohl öfter eine pure Angstreaktion und eher selten eine reine Schmuseangelegenheit.

       Im Spiel verraten wir, wes Geistes Kind wir sind. Publius Ovidius Naso (Ovid)

      Wenige Tage nach seinem ersten Geburtstag konnte Benjamin selbständig laufen und von

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