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Monaten zu sehen war, drehte er sich alleine vom Rücken auf den Bauch. Wenige Tage später konnte er bereits durch die Wohnung robben. Es gab fast täglich neue Fähigkeiten an unserem Baby zu bewundern und inzwischen lachte und quietschte es zuweilen auch vergnügt. Später wurde ich oft gefragt, ob mir in dieser Zeit nichts in Bezug auf mangelnden Blickkontakt aufgefallen ist. Dazu kann ich nur sagen, dass mein Tagebuch hierüber vermerkt, dass Benjamin nicht so ausdauernd wie seinerzeit Conrad in unsere Gesichter versunken war, aber es hat nie an Blickkontakt gemangelt – zumindest nicht zu uns Eltern. Fremde mochte er nicht anschauen, aber viele Babys schauen weg, wenn sie fremde Personen in ihrer unmittelbaren Nähe erblicken. Wie soll man hier sagen, wann es Grund zur Sorge gibt und wann nicht?

      Es war an der Zeit, eine Stillmahlzeit durch Babybreie zu ersetzen, denn mittlerweile war Benjamin ein halbes Jahr alt. Zu diesem Jubiläum bekam er eine Badeente und einen Möhrenbrei. Die Badeente gefiel, der Brei nicht so sehr. Am ersten Tag war er bereit, ein paar Löffel voll zu essen, dann aß er von Tag zu Tag schlechter. An einen Löffel hatten wir ihn schon vorher gewöhnt – mit der Gabe von Tee und Eisensirup. Im Laufe des nächsten Monats probierte ich die verschiedensten Sorten Babybrei aus, aber es war kein Brei darunter, der unserem Baby besser schmeckte. Eines Tages drückte Conrad, dem das Kämpfen ums Essen vermutlich auf die Nerven ging, kräftig auf Benjamins Squieky, einem Teddy mit einer Quietsche und anderen Spielfunktionen, gerade in dem Moment, als der Löffel voll Brei sich vor Benjamins Mund befand. Benjamin öffnete den Mund und schluckte den Brei. Zuerst dachte ich, dass er nur vor Schreck gegessen hatte, aber seltsamerweise ließ sich diese Prozedur bis zum Ende des Gläschens fortsetzen. Ich war zwar froh, endlich eine effektive Füttermethode gefunden zu haben, aber ich fand es schon seltsam, dass unser Sohn offenbar ein akustisches Signal brauchte, um den Mund zu öffnen.

      Ein mir schon lange bekannter Termin rückte nun immer näher: Meine Promotionsarbeit musste noch verteidigt werden. Da Benjamin tagsüber nicht schlief und meine volle Aufmerksamkeit beanspruchte und auch abends lange zum Einschlafen benötigte, wusste ich eigentlich nicht so recht, wann ich Zeit zum Arbeiten finden sollte. Es war auch nicht möglich, unseren Jungen von jemand anderem betreuen zu lassen, da er sich nicht einmal von fremden Personen anfassen ließ, ohne in panisches Weinen zu verfallen. Also ging ich zweimal täglich mit den Kindern auf den Spielplatz. Um die Mittagszeit schlief Benjamin, wenn ich Glück hatte, eine halbe oder manchmal eine ganze Stunde. Conrad buddelte mit seinem besten Freund, den seine Mutter und zugleich meine Freundin oft bei mir auf dem Spielplatz ließ, während sie sich um ihr zweites Kind zu Hause kümmerte. Da der Spielplatz um diese Zeit ansonsten verwaist war, konnte ich hier wenigstens ein bis zwei Stunden intensiv arbeiten. Wachte Benjamin im Kinderwagen auf, blieb er meistens ruhig und war zufrieden, solange niemand in den Wagen schaute oder versuchte, ihn herauszunehmen. Ich hatte mir daher angewöhnt, immer das Verdeck hochzuziehen und den Wagen so hinzustellen, dass möglichst nur ich hineinsehen konnte. Zu unserer zweiten Buddelzeit am Nachmittag war der Spielplatz dann zu Conrads Freude für gewöhnlich gut gefüllt. Oft musste ich mir Kommentare von anderen Müttern anhören, wie zum Beispiel: Ich solle doch einmal Luft und Licht an mein Baby lassen oder es herausnehmen, um ihm die Welt zu zeigen. Aber wenn mein Baby bei all diesen Aktivitäten bitterlich weint, dann kann es doch keine Freude daran haben! Oder braucht es nur etwas mehr Zeit, bis es Luft und Licht und die Welt um sich herum besser erträgt? Da ich auch nachts nicht stundenlang arbeiten konnte, blieb uns nichts anderes übrig, als mehrere Urlaubstage meines Mannes zu opfern. Leon hütete dann die Kinder, während ich in der Bibliothek arbeitete. Eine Woche vor dem Termin der Verteidigung ging dann auch noch die Waschmaschine kaputt und Conrad wurde krank. An dieser Stelle fragte ich mich das erste Mal, ob ich mir da nicht zu viel zugemutet hatte. Ursprünglich hatte ich mir alles ganz anders vorgestellt: Conrad würde in den Kindergarten gehen und das Baby würde ja sowieso viel schlafen, also eigentlich alles kein Problem. Aber Conrad wollte nach der Geburt seines Bruders nicht mehr in den Kindergarten gehen, also durfte er zu Hause bleiben. Und was Benjamin betraf, nun das habe ich ja schon ausführlich berichtet.

      Am Tag der Verteidigung brachte ich beide Kinder zu meinen Eltern. Natürlich war mir dabei nicht wohl zumute, aber es war die einzige Möglichkeit. Mein Vater ging die Sache optimistisch an. Er nahm Benjamin nicht auf den Arm, sondern ließ ihn von mir ins Laufgitter legen und meinte, er würde sich schon beruhigen. Aber er weinte bereits, als ich mich entfernte. Von Conrad wusste ich, dass kleine Kinder oft beim Abschied weinen und sich dann relativ schnell beruhigen. Ich versuchte mir zwar einzureden, dass es bei Benjamin genauso sein wird, aber ein Gefühl tief in mir sagte mir, dass ich mich damit selbst täuschte. Was sollte ich tun – gehen, und mich als schlechte Mutter fühlen, oder bleiben, und dreieinhalb Jahre harte Arbeit waren umsonst gewesen? Ich entschied mich für die vernünftige Lösung, fuhr in die Universität und verteidigte erfolgreich meine Promotionsarbeit. Gleich nachdem ich für die Prüfer und Gäste das obligatorische Buffet eröffnet hatte, rief ich meine Eltern an, in der Hoffnung, auch dort würde alles gut gelaufen sein. Aber weit gefehlt, Benjamin weinte so laut, dass ich kaum verstand, was meine Eltern sagten. Ich verabschiedete mich hastig von meinen Kollegen und fuhr zu meinen Kindern. Benjamin hatte die ganze Zeit nur geweint, nichts gegessen und er sah total panisch und aufgelöst aus. Hektische rote Flecken machten sich in seinem kleinen Gesicht breit. Was war nur mit diesem Kind los oder was hatte ich falsch gemacht? Ich stillte ihn noch bei meinen Eltern und ging dann nach Hause. Es gab keine Gelegenheit für Gespräche oder Glückwünsche, denn Benjamin beruhigte sich erst zu Hause allmählich. Viel später kam mein Mann mit den Unmengen von Blumen, die ich bekommen hatte, nach Hause, denn er hatte sich an meiner Stelle um meine Gäste gekümmert. Auch jetzt war keine Gelegenheit, um ein bisschen zu feiern, denn Benjamin fand einfach keinen Schlaf. Das erwartete Glücksgefühl stellte sich bei mir nicht ein, ich spürte einfach nur tiefe Erschöpfung und damit verbunden den Wunsch, tagelang zu schlafen. Erst als ich ein paar Tage später einen Brief von meinem beruflich in Amerika weilenden Chef erhielt, wurde mir bewusst, welche Leistung ich da vollbracht hatte. Er schrieb Folgendes: „Liebe Frau Maus, mein ganz herzlicher Glückwunsch zu Ihrer gestrigen erfolgreichen Promotionsverteidigung! Ich kann Ihnen nachempfinden, daß Sie mit dieser Leistung ein ganz glücklicher Mensch sind! Im Zentrum von drei Männern (zumindest angehenden) zu stehen und dabei noch die Promotion geschafft zu haben – das haben nur wenige, ganz starke Frauen geschafft! Ich bin sicher, Sie werden auch die bevorstehenden Aufgaben mit gleicher Übersicht und rationaler Planung meistern und wünsche Ihnen hierfür bestes Gelingen! Ihr […]“

      Mit fast sieben Monaten fing Benjamin munter an zu plappern. Seine Lieblingssilben waren dabei la, wa und ma. Wie alle Eltern warteten wir sehnsüchtig auf das erste Wort unseres Babys, und mit nicht einmal acht Monaten bekamen wir es zu hören: „Leiterplatte“. Leiterplatte? Wie kommt ein fast acht Monate altes Baby zu einem solchen Wort? Benjamin wiederholte dieses Wort immer wieder voll Verzückung. Wir wussten nicht, was wir davon halten sollten. War unser Sohn ein Sprachgenie oder sollten wir uns Sorgen machen? Er hatte das Wort nicht einfach nur nachgeplappert, denn niemand hatte sich in letzter Zeit über Leiterplatten unterhalten, auch Fernseher und Radio liefen nicht in Benjamins Gegenwart. Wo kam dieses ungewöhnliche Wort also plötzlich her?

      Da unser Sohn nun immer mobiler wurde und aus dem Robben mit acht Monaten ein eifriges und flinkes Krabbeln wurde, kam ein neues Problem auf uns zu. Durch den Kontakt zu den synthetischen Fasern in Teppich und Polstermöbeln bekam er schnell an allen unbedeckten Körperstellen Hautekzeme, sogar auf den Handrücken. Was sollten wir tun? Lange Kleidung war für den beginnenden Sommer nicht gerade geeignet und schützte weder die Hände noch das empfindliche Gesicht. Uns blieb nur eine Lösung: Wir mussten die Möbel und Teppiche austauschen. Baumwollbezogene Polstermöbel und ein großer Teppich aus reiner Schurwolle brachten unserem Sohn unbeschwerten Krabbelspaß zurück. Die Kinderärztin bezeichnete Benjamin als „frühreif“, das bezog sich auf seine motorische Entwicklung, da er jetzt außer krabbeln auch sitzen und sich an Gitterstäben hochziehen konnte. Wenige Tage später konnte er bereits überall stehen – an Schränken, Wänden, Türen … – und seitwärts laufen. Den ganzen Tag war er in der Wohnung unterwegs und schien nicht zu ermüden und ich war stolz darauf, dass er schon so viel konnte. Der einzige Wermutstropfen dabei war, dass er, sowie wir Besuch bekamen, all sein Können nur für Fluchtbewegungen einsetzte. Ich hegte die heimliche Hoffnung, dass Benjamin jetzt, wo er selbst bestimmen konnte, auf wen er zugehen, das heißt, zu wem er hinkrabbeln möchte,

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