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sich jemand ihm näherte. Meine Mutter war mit diesem Verhalten unseres Sohnes besonders unzufrieden, sie wollte ihren Enkel hochnehmen und knuddeln. Und sie gab wie auch einige meiner Freundinnen mir die Schuld am Verhalten meines Sohnes, denn ihrer Meinung nach müsste ich mich einfach einmal durchsetzen und das „Geschrei“ meines Sohnes aushalten. Aber dieses „Geschrei“ war nicht einfach nur Geschrei eines wütenden oder frustrierten Babys, es war vielmehr voller Angst und Panik, so ein Weinen, wie ich es von Conrad nie vernommen hatte. In meinem Tagebuch prägte ich damals dafür den Begriff „Weltuntergangsweinen“, heute bin ich verwundert darüber, wie nah ich damit dem wahren Ursprung seines Weinens kam. Und obwohl ich die Ursache für dieses verzweifelte, abwehrende Weinen damals nicht kannte, stand für mich fest, dass es zu bedrohlich klang, um einfach von mir ignoriert zu werden. Ich sagte mir immer wieder, dass ich unseren Sohn am besten kenne und dass ich ihm eben mehr Zeit zum Erlernen bestimmter Dinge gewähre, wenn er sie braucht. Spätestens wenn er Laufen und Reden kann, wird er auf andere Menschen zugehen. Auf einen Teil meiner Umwelt habe ich wohl einfach nur stur und uneinsichtig, vielleicht auch egoistisch gewirkt. Aber mein Mann teilte meine Ansichten und fand meine Entscheidungen richtig. Auch heute bin ich der Meinung, dass wir damals richtig gehandelt haben, denn möglicherweise hätten wir unserem Sohn Entwicklungsmöglichkeiten verschlossen, wenn wir nicht so sehr auf seine Bedürfnisse eingegangen wären.

      Das Wetter wurde immer wärmer und Benjamin steuerte auf seinen ersten Sommer zu. Für mich war es jetzt an der Zeit, den Kinderwagen zum Sportwagen umzurüsten, da Benjamin inzwischen den Kopf in Rückenlage hochhob und ja auch prima sitzen konnte. Aber da hatte ich die Rechnung wieder einmal ohne den Wirt gemacht, denn Benjamin wehrte sich mit Weinen und heftigem Strampeln gegen den Sportwagen. Da ich nicht auf das Spazierengehen und Conrads Buddeln verzichten wollte, baute ich den Kinderwagen wieder um und legte Benjamin in seine heiß geliebte Tragetasche zurück, und die Welt war wieder in Ordnung für ihn. Ich dagegen verstand es nicht: Wieso wollte dieses Baby, dass oben und unten an die Ränder der Tragetasche schon anstieß, diese nicht verlassen und sitzend mit völlig neuem Aussichtshorizont die Ausfahrt genießen? Heute habe ich eine plausible Erklärung für dieses Verhalten: Veränderungsängste und daraus resultierend der Widerstand gegen Veränderungen. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich sein Widerstand wirklich gegen den umgebauten Kinderwagen richtete. Im Laufe des nächsten Monats versuchte ich vorsichtig, sozusagen zentimeterweise, das Verdeck der Tragetasche zurückzuschieben, immer gerade soweit, wie es Benjamin zuließ. Manchmal musste ich auch tagelang warten, bis er wieder bereit war, einen Zentimeter mehr Licht in seine Tragetasche zu lassen. Zu Hause dagegen verhielt er sich in dieser Zeit ganz anders. Er liebte das Licht, versuchte Sonnenstrahlen einzufangen, spielte mit seinem Schatten und schaute lange aus dem Fenster, wenn ich ihn dazu hochhob. Nach mehr als einem Monat stellte sich ein erster Erfolg ein, denn Benjamin ließ zu, dass ich das Verdeck der Tragetasche abnahm. Natürlich war immer noch das Verdeck des Kinderwagens schützend über ihm. Als Nächstes machte ich mich daran, diese Methode beim Reißverschluss der Tragetasche zu wiederholen. Es dauerte mehr als zwei Monate, bis Benjamin bereit war, die Tragetasche endgültig aufzugeben. Danach lag er beim Spazierengehen im Kinderwagen, denn obwohl er zu Hause sitzen und inzwischen auch freihändig stehen konnte, wollte er im Kinderwagen nicht sitzen. Ich konnte ihn nicht dazu bewegen, den Wagen zu verlassen und im Sandkasten zu krabbeln oder zu stehen. Auch wurden die Attacken wohlmeinender Sandkastenmütter immer heftiger: Ich solle doch dieses beklagenswerte Kind endlich aus dem Kinderwagen nehmen. Ich wusste nicht, wie ich das ungewöhnliche Verhalten meines Sohnes erklären sollte, ich selbst handelte ja auch nur aus dem Gefühl heraus, unserem oftmals geplagten Söhnchen das Leben etwas angenehmer zu gestalten. Eigentlich verspürte ich keine Lust mehr, mich unter all die Mütter zu begeben, deren Kinder auf dem Spielplatz genau das taten, was von ihnen erwartet wurde. Zum Glück war da noch Conrad, der die sozialen Kontakte zu seinen Freunden dringend brauchte, da er ja, wie bereits erwähnt, nicht mehr den Kindergarten besuchte.

      Für Benjamin war es aber wichtig, all die Sinneserfahrungen, die mit Sand, Wasser und Matsch verbunden sind, zu machen. Wenn er sich also weigerte, zum Buddelkasten zu gehen, dann musste ich den Buddelkasten eben zu ihm bringen. Wir bauten auf unserem Balkon einen Buddelkasten und ein Planschbecken auf und beides wurde intensiv von Benjamin, aber auch von Conrad genutzt. So hatte ich wenigstens nicht mehr das Gefühl, dass Benjamin in seiner Entwicklung etwas verpasste, wenn er am „richtigen“ Buddelkasten seinen Kinderwagen nicht verließ. Wenn Benjamin das Planschbecken verlassen sollte, schien er nicht auf unsere Ansprache zu reagieren, sondern erst das Aufziehen einer Spieluhr als Signal, dass die Badezeit nun vorbei ist, brachte ihn dazu, sich aus dem Planschbecken heben zu lassen. Das erinnerte mich stark an das Quietschen des Teddys, welches er zum Mundöffnen benötigte. Dieses Quietschen brauchte er zwar jetzt nur noch zu Beginn einer Mahlzeit, und es ließ sich mittlerweile durch ein menschliches Brummen ersetzen, aber mir stellte sich die Frage, ob er mit bestimmten Geräuschen besser zurechtkam als mit gesprochenen Wörtern. Waren Geräusche für ihn leichter heraushörbar aus all dem Lärm von Sprache, Vogelgezwitscher, Haushaltsgeräten, Spielzeugsirenen … um ihn herum? All diese Beobachtungen gaben uns noch keinen handfesten Grund zur Sorge und sie waren auch nicht pathologisch genug, um mit der Kinderärztin darüber zu diskutieren. Bei seiner sechsten Vorsorgeuntersuchung gab ihm die Ärztin in allen Punkten „Note 1“, dabei wurde vor allem seine körperliche und motorische Entwicklung begutachtet. Aber er konnte auch sechs verschiedene Laute von sich geben und „ei machen“. Dabei legte er seine Hand auf mein Gesicht, als ich ihn auf dem Arm hielt, und ich bin mir heute fast sicher, dass dies rein zufällig passierte. Sein geringes Schlafbedürfnis, seine extremen Einschlafprobleme und das Ablehnen von Kontakt zu familienfremden Personen fand die Ärztin nicht bedenklich und sie erklärte es damit, dass sich halt jedes Kind in seinem eigenen Tempo entwickelte. An dieser Stelle sollte ich noch erwähnen, dass Benjamin auch jedes Mal bei der Kinderärztin weinte, sobald die Ärztin ihn berührte. Er hörte dann frühestens nach Verlassen der Praxis auf zu weinen, oft weinte er allerdings auf dem gesamten Heimweg. Er blieb aber immer beim Betreten der Praxis ruhig, auch wenn ich ihn auszog oder auf die Waage legte. Solange ich ihn hielt oder versorgte, war alles in Ordnung.

      Was das Essen betraf, gab es bei Benjamin nur zwei Möglichkeiten: Entweder es schmeckte ihm oder es wurde rigoros abgelehnt. Es war schwierig, ihn überhaupt dazu zu bewegen, ein ihm unbekanntes Nahrungsmittel zu kosten. Bestimmte Gerichte schien er schon alleine vom Geruch her abzulehnen. Andererseits störte es ihn nicht, wenn er tagelang sein Lieblingsessen bekam, er schien keinen Wert auf Abwechslung zu legen. Am liebsten aß er Spaghetti pur mit den Fingern. Ansonsten wurde er gefüttert, weil er nicht bereit war, den Löffel selbst in die Hand zu nehmen. Das Füttern empfand ich als äußerst anstrengend, da er nach jedem Happen aufschrie, als ob es ihm nicht schnell genug gehen würde. War der Teller leer, brach er in herzzerreißendes Weinen aus. Benjamin war immer noch ein knuddeliges Baby, welches kräftig zunahm, also schloss ich Hunger als Ursache für seinen Kummer aus und griff weiterhin zu der bewährten Methode der Teeflasche nach dem Essen. Auch hier standen wir wieder auf einsamem Posten, denn unsere Umgebung redete uns ein, dass unser Sohn Hunger habe, wenn er nach dem Essen jedes Mal weinte. Heute bin ich froh, dass wir uns nicht beschwatzen ließen, ihm mehr Essen zu geben, denn sonst hätte er vermutlich auch noch Gewichtsprobleme.

      Kurz vor seinem ersten Geburtstag konnten wir weitere Fortschritte bei Benjamin beobachten. Er benutzte ein neues Wort, welches wie Hunger klang und auch in diesem Sinne von ihm verwendet wurde. Ansonsten hörten wir nur für uns unverständliches Silbengebrabbel. Einmal glaubte ich ein einziges Mal „Papa“ gehört zu haben, aber auf so typische Äußerungen wie „Mama“, „Gag-Gag“ oder „Auto“ warteten wir vergeblich. Wenn ich zu ihm „Nein“ sagte, schüttelte er den Kopf, ließ aber dann keine Taten folgen. Da er das unbezwingbare Bedürfnis hatte, alle Schränke komplett auszuräumen, sicherten wir die Schränke mit Kindersicherungen und ließen ihm aber in jedem Zimmer ein Schrankfach mit Sachen, die er ausräumen durfte. Beim Verlassen des Hauses machte er „winke, winke“, aber nur, wenn mein Mann oder ich die Person war, die er verlassen würde. Seiner Großmutter oder anderen ihm vertrauten Personen verweigerte er weiterhin solche Aufmerksamkeitsbeweise. Seine neue Lieblingsbeschäftigung zu Hause bestand darin, in niedrige, leer geräumte Regalfächer der Wohnwand zu klettern und sich dort mit seinem Lieblingskissen, welches er Tag und Nacht zu Hause bei sich haben musste, hinzulegen. Der harte Bretterboden schien

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