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Monate lang mussten wir zur Überwachung die gastroenterologische Sprechstunde des Krankenhauses aufsuchen und jedes Mal fing Benjamin schon beim Betreten des Krankenhausgeländes an, panisch zu weinen. Es dauerte noch ein dreiviertel Jahr, bis seine Urin- und Blutwerte wieder in Ordnung waren, und Durchfallerkrankungen, wenn auch weniger heftig, plagten ihn in Abständen bis zur Schulzeit. Benjamins Angst vor Ärzten schien sich für immer manifestiert zu haben, was man ihm ja nicht verübeln konnte, nach allem, was er durchmachen musste. Ich sehnte mich in dieser Zeit zutiefst nach einem einfachen, normalen Tagesablauf ohne Arztbesuche und Diätkämpfe, denn natürlich wollte Benjamin, je besser es ihm ging, wieder alles Mögliche verspeisen.

      Abgesehen von seinen gesundheitlichen Problemen erfreute uns Benjamin mit weiteren Fortschritten. Noch bevor er achtzehn Monate alt war, benutzte er nicht nur gelegentlich seinen Löffel, sondern trank auch ab und zu selbständig aus seiner Tasse, obwohl er weiterhin zu diesen Handlungen genötigt werden musste. Im Gegensatz dazu war er eifriger Zähneputzer, wir mussten sogar das abendliche Zähneputzen mit Nachdruck beenden, sonst hätte er endlos weitergeputzt. Vermutlich begeisterte er sich aufgrund seiner ausgeprägten Liebe zu Wasser und Regen so sehr für das Zähneputzen. In dieser Zeit bemerkte ich auch eine ausgesprochen aufmerksame und eifrige Phase bei Benjamin. Einige Beispiele sollen das verdeutlichen. Wenn ich eine Kerze auf den Tisch stellte, so zeigte Benjamin sofort auf das Schrankfach, in dem die Streichhölzer sicher verwahrt waren, immer kommentiert mit seinem bereits mehrfach erwähnten „Da, da!“ Wenn ich mit dem Essen die Küche verließ, räumte er ohne Aufforderung seine Spielsachen aus dem Weg und brachte immer sein Rutscherauto auf seinen Parkplatz. Hatte ich das Essen auf den Tisch gestellt, so holte er sofort das Kissen, auf dem er gewöhnlich beim Essen saß. Wollte ich Wäsche aufhängen, begann er, mir die Wäscheklammern zu reichen, und zwar jedes Mal. Er schloss die Tür, nachdem er ein Zimmer betreten hatte. Abends, nachdem ich ihn ausgezogen hatte, räumte er seine Kleidung in den Wäscheeimer. Vor dem Schlafengehen achtete er darauf, dass er seine Zahntablette bekam und dass sein Nuckel für die Nacht frisch abgekocht war, er weigerte sich, einen schon vorher von ihm benutzten Nuckel anzunehmen. Von so viel ausdauernder Aufmerksamkeit war ich total fasziniert. Außerdem leitete ich daraus ab, dass Benjamin Zusammenhänge erkennen konnte und verschiedene Handlungen in zeitlich aufeinanderfolgenden Stufen sah. Was ich damals nicht sah oder nicht sehen wollte, war die Tatsache, dass immer Benjamin bestimmte, welche Aktionen er ausführte. Er war aber so gut wie nie bereit, etwas zu tun, worum er gebeten wurde. So zum Beispiel ignorierte er Aufforderungen wie die Bitte, uns etwas zu geben, das Zimmer zu verlassen oder den Keks zu teilen. Einem „Nein“ ließ er noch immer keine Taten folgen, sondern schüttelte nur den Kopf. Da Benjamins ungewöhnliche Taten auch von meinen Freundinnen bestaunt wurden, gab es für mich nur eine mögliche Erklärung für sein Verhalten, nämlich dass bestimmte soziale Entwicklungsstufen wie das Ausführen einer Bitte, beispielsweise „Bringe mir bitte den Ball“, bei ihm etwas später eintreten werden. Solange er auf gewissen Gebieten gleichaltrigen Kindern voraus war, bestand doch kein Grund zur Sorge. Oder doch? Nebulöse Zweifel machten sich schon damals breit, aber sie waren nicht zu greifen, nicht zu definieren und sie wurden regelmäßig von Benjamins zum Teil ungewöhnlichen Entwicklungsfortschritten wieder zerstreut.

      Benjamin besaß inzwischen neben den Gummibüchern aus seiner Babyzeit eine ansehnliche Anzahl Pappbilderbücher, aber er war immer noch nicht dazu zu bewegen, sie gemeinsam mit mir anzusehen. Wenn ich mir mit der fast gleichaltrigen Tochter meiner Freundin die Bücher anschaute, dann schien dies Benjamin überhaupt nicht zu stören. Er ging einer seiner Lieblingsbeschäftigungen nach und beachtete uns vermutlich nicht. Lisa zeigte mir bereitwillig Dinge, wenn ich ihr einfache Fragen, wie beispielsweise: „Wo ist das Auto?“, stellte. Conrad setzte sich meistens zu uns und versuchte ebenfalls Fragen zu stellen. Um auf diesem Gebiet Fortschritte zu erzielen, versuchte ich zuerst, Benjamin mit einigen seiner Bücher alleine zu lassen. Das traurige Ergebnis bestand darin, dass er die Bücher zerfetzte. Also stellte ich die unversehrten Bücher auf ein für ihn gut sichtbares, aber nicht erreichbares Regal. Wollte er ein Buch anschauen, so stellte er sich davor, zeigte nach oben und rief: „Da, da!“ Ich gab ihm die gewünschten Bücher und ließ ihn damit nicht mehr alleine. Er blätterte die Bücher im rasanten Tempo durch, jedes Buch genau ein einziges Mal, und bevor er sie beschädigen konnte, stellte ich sie auf das Regal zurück. Wenn ich versuchte, ihn in ein Gespräch über den Buchinhalt zu verwickeln, wurde er jedes Mal sehr aufgebracht und wehrte mich mit Weinen ab. Es dauerte noch ungefähr ein Jahr, bis er nicht mehr den Drang verspürte, Bücher zu zerreißen. Und es sollte noch viel länger dauern, bis wir zum ersten Mal gemeinsam ein Buch lasen. Damals glaubte ich, Benjamin würde vom Inhalt der Bücher überhaupt nichts mitbekommen, wenn er sie „nur“ einmal schnell durchblätterte. Conrad jedenfalls hatte seine Bücher oft, ausgiebig und intensiv betrachtet. Interessierte sich Benjamin nicht für den Inhalt? Bestand sein ganzer Spaß im Umblättern, so wie man ein Spielzeugauto über den Boden schiebt? Mein Ziel war es, ihn auf jeden Fall zum Anschauen der Seiten zu bewegen, und das konnte ich doch nur erreichen, wenn er länger auf den Seiten verweilte. Das gelang mir vorerst nicht. Später musste ich einsehen, dass ich hier einem gravierenden Irrtum erlegen war. Kurz nach seiner Einschulung, als im Sachkundeunterricht über Elefanten geredet wurde, beschrieb Benjamin mir eine Seite aus einem seiner Kleinkindbücher, welches schon jahrelang in einer Kiste auf dem Hängeboden lag. Ich war davon so überrascht, dass ich dieses Buch heraussuchte und seine Angaben mit der entsprechenden Buchseite verglich. Alles stimmte vollständig überein. Und auch den Inhalt der weiteren Seiten dieses Buches und aller anderen Bücher dieser Serie konnte er bis ins Detail wiedergeben. Die späte Einsicht war also, dass er damals beim rasanten Durchblättern der Bücher den Inhalt erfasste und sich das auch noch über so viele Jahre gemerkt hatte! Aber warum zeigte er kein Interesse am gemeinsamen Bücherlesen?

      Obwohl seine Motorik gut entwickelt war und obwohl wir am Fußende des Bettes schon vor Monaten zwei Stäbe entfernt hatten, verließ Benjamin frühmorgens nicht sein Gitterbett. Gewöhnlich saß er wach da und wartete darauf, dass ihn einer von uns aus dem Bett hob. Kam er nicht auf die Idee, das Bett durch die Lücke zu verlassen, ängstigte ihn vielleicht das, was ihn hinter der Tür erwarten würde oder war es ein geliebtes Ritual, von uns aus dem Bett gehoben zu werden? Mit achtzehn Monaten schaute Benjamin mich das erste Mal an, als er „winke, winke“ machte. Er liebte es weiterhin, draußen herumgefahren zu werden, und wenn wir ohne Kinderwagen losgingen, dann bestand er nach wenigen Schritten darauf, getragen zu werden. Heute würde ich dieses Verhalten so interpretieren, dass ihn die quirlige, bunte oder auch laute Welt außerhalb seines Zuhauses irritierte und ängstigte und er deshalb im Kinderwagen oder in unseren Armen Schutz suchte.

      Auch sein häusliches Spielverhalten war ungewöhnlich, aber ich habe sehr lange darüber nachgedacht, bis mir aufgegangen ist, was eigentlich daran so ungewöhnlich war. Einerseits liebte es Benjamin immer noch, Schnipselsuppe zu kochen, uns damit zu füttern und auch manchmal fiktive Getränke dazu einzugießen. Aber er verlor völlig die Fassung, wenn wir die Rollen tauschen oder seinen Spielablauf ändern wollten. Er bestimmte die Regeln und die Welt war nur in Ordnung, wenn wir darin seine Marionetten waren. War er vielleicht ein besonders willensstarkes Kind oder würde sich diese Phase mit der Zeit von alleine geben? Warum hatte ich ein solches Verhalten nicht bei Conrad beobachtet, er ließ sich immer bereitwillig und voller Kreativität auf Rollentausche ein und überraschte uns dabei mit witzigen Ideen und Wendungen. Waren die Geschwister wirklich so verschieden oder übersahen wir irgendetwas? Bei anderen Spielen ließ Benjamin absolut keine Einmischung zu. Baute er zum Beispiel seinen DUPLO-Zoo auf, dann wollte er nicht gestört werden und spielte versunken und konzentriert mit den Tieren, Bäumen und Gebäuden. Abends achtete er darauf, dass im Regal neben jeder Tiermutter auch das richtige Tierbaby stand. Bei wieder anderen Spielen ließ er problemlos zu, dass Conrad oder einer von uns quasi parallel zu ihm mitspielte. So konnte Conrad mit seinen Matchbox-Autos auf dem Straßenteppich spielen, während Benjamin seine Plastikautos darüber schob, und auch an den Kreuzungen kam es meistens zu einer Einigung. Oder wir konnten mit einem eigenen Zug auf den Schienen der Holzeisenbahn mitspielen, aber keiner durfte es wagen, Waggons an Benjamins Zug anzukoppeln oder seine Wagen zu beladen oder den Zug mit ihm zu tauschen. Heute bin ich der Meinung, dass Benjamin spielerisches Miteinander nur ertragen konnte, wenn er die Fäden in der Hand hielt und den Ablauf bestimmen konnte oder wenn er in seinem eigenen Spielkonzept nicht gestört wurde. Als er zufällig einen

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