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Wie immer lobten wir ihn dafür, später fiel mir auf, was fehlte: Er war nicht zu uns gekommen, um uns seine Leistung zu präsentieren, er schien mit sich selbst und seiner Leistung zufrieden zu sein.

      Meine Karriereplanung sah vor, dass Benjamin jetzt, mit eineinhalb Jahren, eine Kindertagesstätte besuchen sollte. Wir hatten ihn schon kurz nach der Geburt angemeldet und es stand ein Platz für ihn bereit. Die Kinderärztin machte uns allerdings einen Strich durch die Rechnung, denn sie erklärte, dass Benjamin aus gesundheitlichen Gründen auf gar keinen Fall kindergartentauglich sei. Gerade hatte er eine schmerzhafte Rachenentzündung durchlitten, seine Durchfallerkrankung war nicht richtig ausgeheilt, seine Urinprobe zeigte immer noch Auffälligkeiten und sein Bauch erblühte schon wieder einmal mit einem Ausschlag unklarer Herkunft. Außerdem hatte er häufig zum Teil auch sehr hohes Fieber, ohne dass eine wirkliche Ursache erkennbar gewesen wäre. Innerlich war ich ausgesprochen froh, dass die Ärztin diese Entscheidung für uns traf, denn ich hatte mich auch schon besorgt gefragt, ob wir es überhaupt verantworten konnten, ein derart empfindliches Kind in eine Kindertagesstätte zu geben. Mein Mann Leon dagegen hatte bereits nach dem Krankenhausaufenthalt mit dem Gedanken gespielt, Benjamin drei Jahre lang zu Hause zu behalten, in der Hoffnung, dass sich seine Gesundheit bis dahin stabilisiert haben würde. Mein Arbeitgeber, ein großes Forschungsinstitut, sah darin kein Problem und gewährte mir bereitwillig ein weiteres halbes Jahr Erziehungsurlaub. Natürlich hatte ich nie wirklich aufgehört zu arbeiten, denn auch nach der Verteidigung meiner Promotion las ich alle neuen Publikationen zu meinem Fachgebiet und schrieb mit einigen Kollegen Veröffentlichungen. Conrad war überglücklich, dass er weiterhin zu Hause bleiben durfte.

      Im Laufe des nächsten halben Jahres arbeitete ich intensiv daran, Benjamin mit der Welt draußen vertraut zu machen. Heute muss ich sagen, dass mir das nur mit mäßigem Erfolg gelungen ist. Für längere Strecken wollte ich den Kinderwagen, jetzt wo die Tage immer wärmer und sonniger wurden, durch einen praktischen Buggy ersetzen. Durch meine früheren Erfahrungen mit der Tragetasche und dem Hinsetzen im Kinderwagen ahnte ich schon, dass Benjamin das nicht einfach so akzeptieren würde. In weiser Voraussicht gewöhnte ich meinen Sohn erst einmal in der Wohnung an den Buggy. Zuerst klappte ich ihn nur auf, stellte ihn hin und wartete, dass Benjamin Interesse daran zeigt. Als er nach ein paar Tagen bereit war, sich hineinzusetzen, kutschierte ich ihn durch die Wohnung, wann immer er das wollte. Nach zwei Wochen versuchte ich, ihn aus der Wohnung zu schieben, aber das schlug jämmerlich fehl. Im Endeffekt dauerte es fast vier Monate, bis er bereit war, sich im Buggy aus der Wohnung schieben zu lassen. Danach gab es keine Probleme mehr, wenn es darum ging, den Buggy zu benutzen. Ich war mächtig stolz auf meinen Erfolg, konnte aber dieses Gefühl nur mit meinem Mann teilen. Leon war der Meinung, dass ich das Richtige tat. Benjamins Großmütter und auch einige meiner Freundinnen vertraten die Auffassung, dass ich viel zu viel Zirkus mit diesem Kind machte, dass man manchmal seinen Willen mit Nachdruck durchsetzen musste und dass ich auf diese Art und Weise mein Kind nur ver- und nicht erziehen würde. Hatten sie vielleicht recht? Musste ich „nur“ lernen, Benjamins panisches Weltuntergangsweinen zu ertragen und alles würde sich rapide bessern? Mein Gefühl sagte mir allerdings, dass dieses kleine Kind ganz erhebliche Probleme mit der Welt um sich herum hat, dass ich behutsame Wege finden musste, um ihm einen Weg in diese Welt zu zeigen, und dass es auf diesem Weg Begleitung und Unterstützung benötigte. Aber wie sollte ich dieses Gefühl jemandem erklären? Ich konnte es nicht. Und so beschritt ich weiter meinen Weg und riskierte dabei, als übereifrige Glucke, inkonsequente Mutter oder als Person, die nicht die richtigen Prioritäten setzte, zu gelten. Ich bin fest davon überzeugt, dass mein damaliges instinktives Handeln richtig war, denn mit meinem heutigen Wissen über Autismus und den damit verbundenen Wahrnehmungsstörungen sowie Veränderungsängsten bin ich der Meinung, dass ich, wenn ich weniger einfühlsam gehandelt hätte, die Tür in die Welt für Benjamin vielleicht für immer verschlossen hätte.

      Benjamin ließ sich nun stundenlang im Buggy herumfahren, vorausgesetzt, wir versuchten nicht Kaufhäuser zu betreten, überfüllte Nahverkehrsmittel zu benutzen sowie Märkte oder Menschenansammlungen zu passieren. Er liebte Parks und Grünanlagen, verspürte aber auch hier nicht den Drang, den Buggy zu verlassen. Für mich ergab das überhaupt keinen Sinn. Zu Hause war er jetzt ein äußerst agiles Kerlchen, er kletterte auf Regale und Stühle, sogar auf Tische und auf die Fensterbretter. Er drehte Eimer um, um darauf zu steigen und zeigte große Kreativität, wenn es darum ging, Kisten oder Ähnliches aufeinanderzustapeln, um dann darauf zu klettern und aus dem Fenster zu schauen. Wo war dieser Bewegungstrieb nach dem Verlassen der Wohnung? Hatten wir vergessen, ihn mitzunehmen? Der Drang, dem Regen zuzuschauen, steigerte seine Kreativität und perfektionierte seine Stapel- und Kletterkünste. Waren wir aber draußen, wenn es regnete, schien ihm das Unbehagen zu bereiten und ich musste peinlich genau darauf achten, dass er nicht nass wurde. Er spürte nicht das Bedürfnis, seine kleine Hand einmal auszustrecken, um zu erfahren, wie es sich anfühlt, wenn Regentropfen darauf zerplatzen. Er spürte auch nicht den Drang, durch eine Pfütze zu laufen und sich daran zu erfreuen, wie das Wasser spritzt. Er war ein Kind, das immer um die Pfützen herumlief, wenn es uns gelungen war, ihn im oder nach dem Regen dazu zu bewegen, ein paar Schritte zu laufen. Wind löste ängstliches Unbehagen bei ihm aus. Da ich Benjamin zu Hause inzwischen wegen seiner Kletterkünste keinen Augenblick aus den Augen lassen konnte, hätte ich eigentlich froh sein können, dass er draußen so wenig anstrengend war. Aber das Gegenteil war der Fall, ich strebte draußen mehr und drinnen weniger Aktivität an.

      Eine meiner Überlegungen bestand darin, dass, wenn ich ohne Buggy zum Spielplatz gehen würde, mein Sohn keine andere Wahl hätte, als zu buddeln. Obwohl der kurze Weg zum Spielplatz mit Benjamin fast eine Stunde dauerte und obwohl ich Benjamin immer sanft ziehen und festhalten musste, da er sonst weglief, war es jedes Mal ein triumphaler Erfolg, diesen Weg geschafft zu haben. War der Spielplatz leer, dann ließ sich mein Sohn auch auf ein kurzes Spielen im Sand ein, wobei er immer eine Anleitung für das, was er denn mit dem Sand tun konnte, benötigte. Kamen andere Kinder dazu, lief Benjamin weg. Zu meinem großen Erstaunen lief er nicht irgendwo hin, sondern schnurstracks nach Hause. Er hatte sich also den Weg gemerkt und er war auch in der Lage, draußen schnell zu laufen. Wäre Benjamin damals mein einziges Kind gewesen, dann hätte ich kein Problem damit gehabt, immer in der Mittagszeit mit ihm auf den verwaisten Spielplatz zu gehen. Aber Conrad war auch noch da und er fand es langweilig, alleine auf dem Spielplatz zu sein, er wollte seine Freunde treffen. Also gingen wir fast täglich ein zweites Mal auf den Spielplatz und dieses Mal saß Benjamin in seinem Buggy. Fand ich eine ruhige Ecke und kam ich nicht auf den Gedanken, Benjamin nötigen zu wollen, den Buggy zu verlassen, dann ging alles eine Weile lang ganz gut. Zwei Probleme traten aber regelmäßig auf. Das eine waren kleine Mädchen im Kindergarten- oder Grundschulalter, die sich lieber mit kleinen Kindern als mit Puppen beschäftigten und die immer wieder diesen süßen, kleinen, blond gelockten Jungen zum Spielen abholen wollten. Das andere waren Mütter, die nicht glauben wollten oder konnten, dass Benjamin freiwillig im Kinderwagen saß, mir gute Ratschläge gaben und mich in nicht enden wollende Diskussionen verwickelten. Aber wie sollte ich in Worte fassen, was für mich selber nur ein schwer beschreibbares Gefühl war? Wie gerne hätte ich im Sand gesessen und mit Benjamin Sandkuchen gebacken! Langsam fühlte ich mich um diese unbeschwerte Buddelzeit, die den meisten anderen Müttern mit ihren Kindern vergönnt war, betrogen. Dass Benjamin auf unserem Balkon ausgiebig buddelte, war hier nur ein schwacher Trost.

       Der größte Reichtum unseres Lebens sind die kleinen Sonnenstrahlen, die täglich auf unseren Weg fallen. Indische Weisheit

      Mit eisernem Willen habe ich immer wieder versucht, unser Leben trotz aller nicht erklärbaren Probleme mit Benjamin so normal wie möglich zu gestalten. Ich erinnere mich an einen Besuch bei der Familie von Conrads neuestem Spielplatzfreund, die uns eingeladen hatte. Da wir schon zum Mittagessen erwartet wurden, bereitete ich mich akribisch auf dieses Treffen vor. Benjamin sollte es gut gehen, denn dann ging es uns allen auch gut. Ich packte Lieblingslöffel, Lieblingstasse, Lieblingsteller und sein Lätzchen ein. Des Weiteren wanderte ein Gläschen mit püriertem Hühnchen, welches er zu den vereinbarten Nudeln essen konnte, und eine Flasche Tee, gefüllt mit der einzigen Teesorte, die er trank, in meinen Rucksack. Sein Lieblingskissen und etwas vertrautes Spielzeug durften natürlich nicht fehlen. Meine größten Sorgen bestanden darin,

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