Скачать книгу

als eine neue Maus ins Haus kam. Diese Maus war so dick, dass das Hemdchen, welches sie von Cinderella übergestreift bekam, nach oben schnippte und das Mäusebäuchlein freigab. Dieses herzhafte Lachen zeigte uns, dass Benjamin wenigstens teilweise verstand, was in diesen Filmen vor sich ging. Er lachte übrigens bei jeder Wiederholung des Filmes an exakt derselben Stelle, was ihm für eine Weile den Spitznamen „Mäuschen“ einbrachte. Eine Parallele dazu fand ich im Bericht einer Mutter über ihren autistischen Sohn: „Kinobesuche waren eine der wenigen Unternehmungen, die Whitneys Aufmerksamkeit fesselten – und mir etwas Ruhe verschafften. […] Eines Nachmittags schauten wir uns […] Schneewittchen an. Die Zwerge kamen gerade von ihrer schweren Arbeit im Bergwerk zurück und wuschen sich. Als sie ihre Bärte einschäumten, brach Whitney unvermittelt in Lachen aus.“4 Der hier beschriebene Junge hatte bis dahin keinen Laut von sich gegeben.

      Viele Jahre später wurde ich von mehreren Fachleuten und Therapeuten gefragt, wann wir denn bei unserem Sohn das erste Mal an Autismus gedacht hätten: Es war genau in dieser Zeit um seinen zweiten Geburtstag herum. Auch wenn die Kinderärztin vorerst nichts Bedrohliches in der Entwicklung unseres Sohnes sah, machten wir uns weiterhin Gedanken und suchten nach Erklärungen. Hatten wir ein verhaltensgestörtes Kind? Und wenn ja, was würde das überhaupt bedeuten? Von einer Tabelle „Typische Eigenschaften eines verhaltensgestörten Kindes“5 glaubte ich, folgende Kriterien würden auf unser Kind zutreffen: „Folgt Anweisungen nicht. […] Spricht auf Disziplin nicht an. […] Wutanfälle. Hört Erzählungen nicht richtig zu. Trotz. […] Reizbarkeit. […] Sprachstörungen. Ungeduld.“ Wobei ich Wutanfälle und Trotz eigentlich für Angst und Panik hielt, aber das kam in dieser Tabelle nicht vor. Eine solche Anzahl von typischen Merkmalen ließe nun soziale Anpassungsschwierigkeiten vermuten. Dies brachte uns auf den Gedanken an Autismus. Ich kannte zu diesem Zeitpunkt den Film „Rain Man“, aber dieser Autist hatte mit unserem Sohn nur die Gemeinsamkeit, dass er auf absoluter Gleichförmigkeit seines Alltags bestand. Andererseits erzählte der Film fast nichts über die Kindheit des Protagonisten. Weitere Recherchen führten uns zu der Erkenntnis, dass es sich bei Benjamins Problemen nicht um Autismus handeln konnte, da wir zur damaligen Zeit in der uns zugänglichen Literatur nur folgendes Bild eines Autisten fanden: „Das Kind hält sich von jedem fern, kann keine Beziehungen aufbauen, vermeidet Augenkontakt, spielt alleine für sich […]. Typisches Merkmal ist ein extremer Widerstand gegen Änderungen jeglicher Art. Das Kind reagiert mit heftigen Wutausbrüchen auf Störungen des Tagesablaufs oder seiner Tätigkeit. Beim Spielen entwickelt es Rituale, geht oft enge Bindungen zu Gegenständen ein, hat einen Hang zu Eintönigkeit und ist oft wie besessen von einem Thema. Die extreme Abkapselung macht es schwer, dem Kind neue Fähigkeiten zu vermitteln. Auch sonst verhält sich ein autistisches Kind ungewöhnlich: Es geht auf Zehenspitzen, spielt stundenlang mit den Fingern und wiegt sich endlos.“6 Nein, das war nicht unser Sohn, der dort beschrieben wurde. Einiges mochte ja zutreffen, aber Benjamin hatte zumindest zu uns Eltern eine innige Beziehung, hielt kurzzeitig Blickkontakt und wiegte sich nicht stundenlang oder ging auf Zehenspitzen. Da niemand außer uns die Probleme unseres Sohnes erkannte oder sehen wollte, beschlossen wir, an allem, was uns beunruhigte, mit Benjamin zu arbeiten.

      In der Wohnung war es eine von Benjamins Lieblingsbeschäftigungen, mit einem Rutscherauto herumzusausen. Das hatte er vor knapp einem Jahr gelernt und er zeigte ungebrochene Freude daran. Nun versuchte ich, ihm draußen das Dreiradfahren beizubringen. Seit Wochen hatten wir einen festen wöchentlichen Termin zum Üben. Am Anfang weigerte sich Benjamin, sich auf das Dreirad zu setzen. Stattdessen schob er es durch die Gegend. Jetzt, da er endlich bereit war, sich auf das ungewohnte Gefährt zu setzen, konnte ich ihn nicht dazu bewegen, die Füße auf die Pedalen zu stellen. Gewohnheitsmäßig wollte er das Dreirad immer wieder wie ein Rutscherauto benutzen und drohte jedes Mal dabei umzukippen. Egal wie viel Energie ich auch in dieses Projekt steckte, es gelang mir nicht, Benjamin das Dreiradfahren beizubringen. Er lernte zwar später mit einem Kindertraktor in die Pedalen zu treten, aber zu dieser Zeit entmutigte mich dieser Rückschlag sehr. Dahinter verbarg sich die ängstliche Frage, was ich ihm überhaupt beibringen konnte. Oder lernt er nur Dinge, die er sich selbst beibringt oder selbst erkennt wie zum Beispiel das Bauen mit DUPLO-Bausteinen? In der Erzählung eines autistischen Jungen las ich später Folgendes zum Thema Dreiradfahren: „Der Junge setzte sich auf das Dreirad, während die Eltern abwechselnd von hinten schoben. […] Der Junge blieb passiv sitzen […].“„Los, befahl der Junge schweigend seinen Beinen. Doch die Beine bewegten sich nicht, und Mutter und Sohn wurden besorgt und wütend.“7 Beim Lesen dieser Passage fragte ich mich unwillkürlich, ob es meinem Sohn damals genauso ergangen war. Konnte er seinen Beinen nicht befehlen, in die Pedalen zu treten?

      Auf anderen Gebieten konnte ich bis zum dreißigsten Lebensmonat immer häufiger kleine Erfolge verbuchen. So gelang es mir nach über einem Jahr Übung, Benjamin beizubringen, einen Stift zu halten und damit selbständig ein paar Striche zu ziehen. Dabei handelte ich ähnlich wie damals mit dem Löffel. Ich gab meinem Sohn immer wieder einen Stift in die Hand, hielt ihn fest und zog ein paar Linien mit ihm zusammen. Diese Bilder befestigte ich dann neben Conrads Kunstwerken an der Pinnwand. Das erste Ergebnis, ein kleines von Benjamin eigenhändig verziertes Partydeckchen, rührte mich damals zu Tränen. Niemand außer meinem Mann konnte das nachvollziehen, denn für gewöhnlich greifen kleine Kinder selbst zum Stift und malen munter drauflos. Die meisten Eltern, die wir kannten, wussten das überhaupt nicht zu würdigen, sondern waren eher genervt, wenn ihr Kind dann auch Wände oder andere Dinge verzierte. Im Buddelkasten zeigte Benjamin mittlerweile immer mehr Ausdauer, sofern ich mich dazu setzte und mit ihm Sandburgen, Straßen oder andere Dinge baute. Ich musste ihm Schritt für Schritt beibringen, wie man buddelt, weil er dafür keinen Plan zu haben schien. Entfernte ich mich aus dem Buddelkasten, so hörte er auf zu buddeln und trat den Heimweg an. Selten ertrug mein Sohn jetzt auch andere Kinder im Buddelkasten, wenn sie weit genug weg und nicht zu laut waren, und wenn sie in geringer Anzahl auftraten. An guten Tagen, das heißt an Tagen ohne Arztbesuche oder andere Unregelmäßigkeiten, und wenn Benjamin einigermaßen störungsfrei geschlafen hatte, ließ er sich manchmal kurz in ein Geschäft oder in den Supermarkt mitnehmen. Dabei saß er aber immer noch im Buggy oder im Kindersitz des Einkaufswagens. Jedes Mal musste ich peinlich genau darauf achten, dass niemand Benjamin ungebührlich nahe kam. Denn dann konnte die ganze Situation kippen und Benjamin die Fassung verlieren.

      In dieser Zeit erlebte ich es häufig, dass wildfremde Frauen auf mich zukamen und mir mehr oder weniger freundlich Ratschläge zur Sprachentwicklung meines Sohnes gaben, wenn sie sein munteres, aber offensichtlich völlig sinnloses Geplapper hörten. Der häufigste Vorwurf bestand darin, dass ich mit meinem Sohn zu wenig reden würde. Ich stand dann jedes Mal völlig hilflos und wütend da. Hilflos, weil ich so sehr nach einer Erklärung für die Probleme von Benjamin suchte und seine Sprachprobleme dabei momentan in unseren Fokus gerückt waren. Und wütend, weil sich diese Frauen anmaßten, mir zu unterstellen, ich würde nicht mein Möglichstes tun und weil sie glaubten, alles besser zu wissen. Konnten sie sich denn nicht vorstellen, dass es auch Dinge gab, von denen sie keine Ahnung hatten? Ich möchte nicht überheblich wirken, aber ich kannte meinen Sohn besser und ich hatte einen zweiten Sohn, der sich prächtig entwickelte.

      Auch beim Windelkauf mit Benjamin bekam ich ungefragt Tipps zur Sauberkeitserziehung. Ich erinnere mich an eine Szene, wo eine Frau mittleren Alters nicht mich, sondern Benjamin just in dem Moment ansprach, als ich mich bückte, um aus dem untersten Regalfach die Maxiwindeln hervorzuziehen. Diese Frau kreischte ihn mit schriller Stimme an: „So ein großer Junge und braucht noch Windeln. Du solltest dich aber schämen, in deinem Alter!“ Es kam, was kommen musste: Benjamin schrie verzweifelt auf, fing an, mit Händen und Füßen um sich zu schlagen, und wurde völlig hysterisch. Ich verließ sofort mit Benjamin den Supermarkt, wobei die Frau mir noch hinterherrief, dass „dieses Gör“ ja völlig verzogen sei. Wie kommt es nur, dass ein bestimmter Typ von Frauen glaubt, alles über Kindererziehung zu wissen und alles richtig zu machen oder richtig gemacht zu haben? Wie vermochte ich mich solchen Personen zu entziehen, die einem doch überall begegnen konnten? Sollte ich mich mit Benjamin zurückziehen, nur weil solche Leute versuchten, die zarten Pflänzchen unserer kleinen Erfolge zu zertreten? Wie gerne hätte ich mit jemandem geredet, der mir wirklich sagen konnte, welcher Natur all die Ungereimtheiten in Benjamins Entwicklung waren.

      Als wir wieder einmal meine Freundin Victoria und ihre Tochter Lisa besuchten,

Скачать книгу