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alles Mögliche reagiert und für sein Alter noch sehr ängstlich ist. Besser wusste ich es zum damaligen Zeitpunkt ja selber nicht. Benjamin klammerte zwar die ganze Zeit an mir und ließ keinen an sich heran, aber er weinte nicht und aß auch die unbekannten Nudeln zum Mittagessen. Für mich war das ein Riesenerfolg, auch wenn Daniels Eltern dafür kein Verständnis hatten. Zu meinem großen Entsetzen teilte mir aber nun Daniels Mutter mit, dass sie es als Beleidigung empfände, dass ich all die Sachen für Benjamin mitgebracht hatte. Sei mir etwa ihr Essen nicht gut genug, ihre Wohnung nicht sauber genug oder das Spielzeug der Kinder nicht ausreichend anspruchsvoll? Ich war völlig sprachlos und konnte weder mein Verhalten besser erklären noch das ihre wirklich verstehen. Fortan beschränkten sich die Treffen von Conrad und Daniel auf den Spielplatz.

      Benjamin war immer noch ein leidenschaftlicher Schnipselsuppenkoch, aber er entwickelte dieses Spiel selbständig weiter. Inzwischen benutzte er auch Topflappen, denn ein kleiner Ofen war zu seiner Küchenausstattung dazugekommen. Eines Tages vergaß er, die Topflappen zu benutzen, rief „Au!“ und pustete seine Fingerchen. So sehr, wie ich von diesem vielschichtigen Spiel beeindruckt war, so sehr verunsicherte es mich auch. Warum wartete er, nachdem er „Au!“ gerufen hatte, nicht auf irgendeine Reaktion aus seiner Umgebung? Ich versuchte wieder einmal, mich in sein Spiel einzuklinken, indem ich das Arztköfferchen mit dem Arztspielzeug holte und ihm medizinische Hilfe anbot, aber er wehrte mich energisch ab. Ich hatte sein Spiel gestört, und jetzt hatte er wieder die Fassung verloren, und er würde lange brauchen, bis er sich wieder beruhigt und noch länger, bis er wieder zu seinem unbeschwerten Spiel zurückfindet. Trotzdem versteckte ich wenige Tage später zwei leicht in der Farbe abweichende Karteikartenschnipsel in seiner Schnipselsuppe, um zu sehen, was passiert. Ich war mir sicher, dass Benjamin dies nicht bemerken würde. Weit gefehlt! Beim ersten Umrühren fischte er die beiden Schnipsel mit einem empörten und erregten „Da, da!“ aus der Suppe und wollte sie in den Mülleimer werfen. Ich ließ mir die Schnipsel geben und versuchte, sie ihm als Gewürze oder Salz aufzuschwatzen. Er aber wurde immer erregter, solange ich die Schnipsel in der Hand hielt. Erst als sie im Mülleimer gelandet waren, gewann er seine Fassung zurück. Wie war es möglich, dass er in seinem Alter in einem Berg von Schnipseln so schnell zwei fremde, gleich große und farblich nur wenig abweichende Schnipsel fand? Und tat ich das Richtige, wenn ich versuchte, mich immer wieder in seine Spiele einzuklinken oder war er einfach noch nicht reif genug für gemeinschaftliche Spiele? Wieso hatte er kein Mitteilungsbedürfnis, wieso wollte er nicht bewundert werden wie andere Kinder in seinem Alter? Wieso suchte er nur unsere Aufmerksamkeit, wenn es um grundlegende Bedürfnisse wie Essen oder Trinken ging? Wieder Fragen über Fragen und wir hatten keine Antworten. Bis jetzt beruhigte uns aber die Tatsache, dass halt jedes Kind sein eigenes Entwicklungstempo hat.

      Zwei Monate vor seinem zweiten Geburtstag waren Benjamin und Conrad mit ihrer Großmutter im Wohnzimmer alleine, während ich mit Leon in der Küche das Essen zubereitete. Inzwischen ließ es unser Sohn kurzzeitig zu, dass wir uns entfernten, solange die vertraute Aufsichtsperson ihm nicht zu nahe kam oder gar etwas von ihm verlangte. Plötzlich vernahmen wir einen markerschütternden Schrei. Wir stürmten herbei und sahen, dass Benjamin offensichtlich vom Fensterbrett gefallen war. Obwohl ich meine Mutter vor den Kletterkünsten meines kleinen Sohnes gewarnt hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass er so schnell so hoch klettern würde. Sie hatte mit Conrad gespielt und war dadurch abgelenkt gewesen. Benjamin schrie, ohne sich irgendwie beruhigen zu lassen, und konnte sich nicht hinstellen. Sein linkes Füßchen schwoll bedrohlich an. Da es Sonntagabend war, fuhren wir sofort in die Kinderrettungsstelle des Krankenhauses. Benjamin hörte einfach nicht auf zu weinen, sein Weinen wurde nicht einmal wenigstens etwas leiser. Das Krankenhaus oder die Erinnerung an dieses Krankenhaus regten ihn so sehr auf, dass es keine andere Möglichkeit gab, als ihn während der Untersuchung und auch während des Röntgens durch meinen Mann festhalten zu lassen. In mir krampfte sich alles zusammen, weil ich nicht wusste, ob er vor Schmerz oder vor Angst schrie. Leon meinte, dass Benjamin panische Angst vor dem dunklen Röntgenraum und dem Klacken der Geräte hatte. Der Arzt stellte eine metatarsale Distorsion, also eine Verdrehung des Mittelfußes, fest und verordnete, dass der Fuß samt Unterschenkel für ein bis zwei Wochen ruhig gestellt werden müsse. Da unser Sohn aber immer noch heftig weinte und sich mit jeder Faser seines Körpers gegen diese ganze Situation wehrte, bat mich der Arzt in ein Nebenzimmer und forderte, ich solle Benjamin die Schiene und den Verband zu Hause anlegen, wenn er sich wieder beruhigt hätte. Er würde unserem Sohn nur Schmerzen zufügen, wenn er jetzt versuche, dieses aufgebrachte Kind zu verbinden und deshalb erläutere er mir jetzt, worauf ich dabei zu achten hätte. Weiter meinte er, er könne sich nicht erklären, warum unser Sohn nicht aufhöre zu schreien, denn eine solche Verletzung würde nicht mehr schmerzen, sobald keine Belastung des Fußes mehr stattfände, und das sei ja wohl der Fall, da mein Mann ihn schon seit mehr als zwei Stunden auf dem Arm trüge. War es nicht allzu verständlich, dass Benjamin sich nach seinen Krankenhauserfahrungen und den Aufregungen des heutigen Tages nicht beruhigen konnte? Auf der Rückfahrt und zu Hause beim Anlegen der Schiene ging ihm die Kraft langsam aus und er wimmerte nur noch ganz kläglich. Die kommende Nacht war wieder zerrissen von Weinen, Wimmern und schreiendem Aufwachen durch Albträume, zumindest hielt ich dieses schreiend aus dem Schlaf Aufwachen für schlimme Träume. Und wieder einmal hatte ich nach dem Aufstehen das Gefühl, nicht geschlafen zu haben und jetzt dringend ins Bett zu müssen. Am anderen Morgen war das Drama aber keineswegs überstanden. Benjamin weinte schon im Bett, sobald er die Schiene an seinem Bein erblickte. Den ganzen Tag über zeigte er immer wieder auf die Schiene und rief verzweifelt: „Da, da!“ Ich musste ihn den kompletten Tag herumtragen, damit er sich wenigstens etwas beruhigte. Er weigerte sich zu spielen und ich war völlig hilflos, weil ich seinen Kummer nicht lindern konnte. Nach und nach wurde mir klar, dass er offenbar glaubte, seine Fähigkeit zum Laufen für immer eingebüßt zu haben. Aber wie sollte ich ihm erklären, dass er bald wieder laufen können würde? Meine Worte schienen ihn nicht zu beruhigen, genauso wenig wie seine heiß geliebten Spieluhren. Diese angespannte Situation hielt fast eine Woche lang an, dann wurde die Schiene durch einen Verband ersetzt. Benjamin beruhigte sich sichtlich und humpelte übereifrig durch die Wohnung. Obwohl er dabei Schmerzen zu haben schien, sagte er keinen Mucks.

      An dieser Stelle möchte ich meinen Lesern erklären, warum ich überwiegend davon berichte, dass Benjamin „weinte“ und ich nur selten das Wort „schreien“ dafür benutze. Für die meisten Menschen in unserer Umgebung bestand der Unterschied zwischen „Weinen“ und „Schreien“ lediglich in der Lautstärke, und würde ich danach gehen, dann müsste ich eigentlich fast immer vom „Schreien“ unseres Sohnes berichten. Für uns bestand der Unterschied zwischen „Weinen“ und „Schreien“ jedoch darin, dass die Ursachen für Weinen tiefer Kummer, Sorgen, Schmerzen, Hilflosigkeit oder Angst sind. Schreien dagegen deutet eher auf Wut, Frust, plötzliches Erschrecken oder schlechte Laune. Natürlich ist das keine generelle Einteilung, es soll nur erklären, warum ich mich innerlich weigere, Benjamins Reaktionen auf seine Umwelt mit Schreien zu umschreiben. Bereits im Säuglingsalter war zuerst Leon und später auch mir aufgefallen, dass Benjamins Weinen sich deutlich von dem anderer Babys unterschied. Später haben wir uns eingestanden, dass wir beide unabhängig voneinander all die seltsamen Erkrankungen, die uns während unserer Studienzeit über den Weg liefen, in Gedanken durchgegangen waren, weil das Weinen unseres Babys so seltsam und fremd klang. Das sogenannte Trotzalter, wo meine Freundinnen darüber klagten, dass ihr Nachwuchs bei jeder Kleinigkeit wütend herumschreien würde, blieb bei Benjamin aus. Da Kinder um den zweiten Geburtstag herum zunehmend selbständiger werden, aber sich dabei auch oft überschätzen und ihnen somit nicht alles gelingt, führt das zu den von meinen Freundinnen beschriebenen Wutanfällen oder zu trotzigem Verhalten. Benjamin dagegen hatte überhaupt nicht das Verlangen, irgendetwas aus eigenem Antrieb zu verändern. Aus meinem heutigen Verständnis heraus ist die Angst vor etwas Neuem, und dazu gehört auch, sich selber an- oder auszuziehen, einen Stift zu halten …, der Grund dafür, warum Benjamin keine Veränderungen anstrebte. Keine Veränderungen brachten auch keine Misserfolge und damit kein Trotzalter. Andererseits reagierte unser Sohn auf alle von uns erzwungenen Neuerungen mit heftigem Widerstand, was sich vom Nervenaufwand mit dem Trotzalter eines Kleinkindes vergleichen ließe, nur dass dieses „Pseudo-Trotzalter“ viel länger andauerte.

      Pflanzen, egal ob draußen oder drinnen, weckten in dieser Zeit immer die Aufmerksamkeit unseres Sohnes. Mindestens einmal am

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